Ines-Paul Baumann
Lesung: Lk 5,17-26
Diesmal saß die Älteste Darlenia Garnia vor einem besonders harten Fall. Sie hatte schon so manche Konflikte in Gemeinden betreut, aber dieses Mal ging es nicht nur um interne Meinungsverschiedenheiten. Massen an Menschen hatten den Vorfall mitbekommen. Unglaublich viele Menschen hatten sich um das kleine Haus gedrängelt, um Jesus zu erleben. Damit war nicht zu rechnen gewesen. Niemand hatte Vorkehrungen dafür getroffen. In den Berichten, die Darlenia vorlagen, klang es gerade so, als hätte an dem Wochenende eine Art Tagung in Kafarnaum stattgefunden. Die Gäste waren aus allen Teilen des Landes gekommen, manche aus Dörfern, andere aus der Stadt, manche wohlwollend, andere kritisch, eine bunte Menge unterschiedlicher Kulturen, und natürlich hatten sie alle unterschiedlich auf den Vorfall reagiert. Sollte Darlenia da wirklich versuchen, Konsens herzustellen?
Nachdenklich blätterte sie in den Briefen, die seit dem Vorfall bei ihr eingegangen waren.
„Sehr geehrte Älteste Garnia! Regelmäßig höre ich Jesus zu, wenn er in unserem Dorf ist. Ich bin eine große Anhängerin seiner Worte und Taten. Von Anfang an war ich dabei. Immer, wenn er predigt, bin ich früh da, damit ich ganz vorne sitzen kann und mir nichts entgeht. Aber Sie ahnen nicht, wie sich die anderen Leute manchmal verhalten, die sich um ihn scharen. Heute morgen lief das Fass über. Wir saßen gerade so schön beisammen, Jesus war gut in Schwung, ergriffen lauschten wir seinen Worten, ganz offenbar ging Heilung von ihm aus. Die Gegenwart Gottes war mit den Händen greifbar. Plötzlich aber wurde dieser andächtige Moment unterbrochen von Gehämmer. Gesteinsbrocken fielen direkt neben Jesus zu Boden. Er konnte sich gerade noch retten, als vier Idioten durch das aufgebrochene Dach hindurch einen Gelähmten herunterließen. Stellen Sie sich das mal vor! Die können doch nicht einfach unsere Versammlung und die Predigt unterbrechen! Diese Egoisten störten die gesamte Verammlung und wozu? Um sich und ihre Nöte in den Mittelpunkt zu stellen! Können Sie diesen Menschen bitte mal beibringen, wie man sich in der Gegenwart unseres geliebten und verehrten Herrn Jesus angemessen zu verhalten hat? Mit verärgerten Grüßen!“
Die offensichtlich vor Ärger nur doch dahingekritzelte Unterschrift konnte Darlenia nicht entziffern. Sie nahm einen anderen Brief in die Hand. Die Worte standen kerzengerade auf den mit Bleistift vorgezeichneten Linien:
„Sehr geehrte Älteste Darnia, ich wende mich an Sie nach einem Vorfall, der mich gleichermaßen enttäuscht und entrüstet zurückgelassen hat. Bis zu diesem Vorfall hatte ich große Hoffnungen auf Jesus gesetzt. Er schien mir einer zu sein, der inmitten unserer schwierigen Zeit, in der Unterdrückung und Existenzsorgen unsere Welt prägen, Hoffnung und Frieden zu stiften vermag. Was mir über den Messias beigebracht worden ist, passte zu ihm. Nun bin ich leider eines Besseren belehrt worden. Zuerst begann alles wie immer. Jesus predigte, und er predigte wie immer gut. Seine Worte waren gut gewählt und was er sagte, entsprach genau meinen Vorstellungen. Aber dann ließ er zu, wie sich vier Ruhestörer am Dach zu schaffen machten und einen Gelähmten herunterließen. Ich bitte Sie! Es kann doch nicht angehen, dass wir Bewährtes einfach mal aufbrechen, nur weil wir einen neuen Zugang suchen! Was für ein Durcheinander! Malen Sie sich das mal aus, was passieren würde, wenn das um sich greift! Solche Gebäude haben ja nicht umsonst ein Dach – beispielsweise schützt es vor Regen. Unsere gesamte Kultur lebt davon, dass wir Dinge respektieren, die sich bewährt haben, die lange entwickelt wurden und die unserem Schutz dienen. Wir wissen doch, wie das ist: Zuerst brechen sie die Gebäude aus Mauern auf, und dann womöglich noch unsere Gedankengebäude und die Säulen unseres Glaubenslebens. Bitte erinnern Sie Ihre Leute hier vor Ort daran, dass sie nicht einfach alles abdecken können, wo ihnen persönlich etwas zu eng erscheint. Ich vermisse hier ein klares Bekenntnis zu dem, was uns über unseren Glauben beigebracht worden ist, und bitte Sie um eine klare Stellungnahme.“
Darlenia starrte noch eine Zeitlang auf diese Zeilen und nahm sich dann einen weiteren Brief. Das ordentliche Schriftbild verlieh dem Schreiben einen offiziellen Anstrich:
„Sehr geehrteste Älteste Garnia. Ich schreibe Ihnen im Namen des Arbeitskreises ‚Religion heute‘. Wir achten darauf, dass die religiösen Veranstaltungen in unserem Ort korrekt verlaufen. Daneben bieten wir Foren an zum gemeinsamen Austausch. Letztes Wochenende hatten wir zu einer Tagung eingeladen. Menschen aus der ganzen Region waren zusammengeströmt und diskutierten über religiöse Fragen unserer Zeit. Pharisäer und Gesetzeslehrer aus allen Dörfern Galiläas und aus Judäa und sogar aus Jerusalem waren angereist. Als wir hörten, dass Jesus ebenfalls in der Stadt war, wollten wir die Gelegenheit nutzen, uns selbst ein Bild von seinem Auftreten zu machen und ihn zum Dialog einzuladen. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Jesus den Kriterien für religiöse Veranstaltungen an fast keinem Punkt genügt hat. Die Veranstaltung war schlecht organisiert, es gab viel viel zu wenig Platz und keine ordnende Hand, die beispielsweise für einen Einlassstopp gesorgt hätte. Das Durcheinander war sehr lästig, und das ständige Gedrängel und Gemurmel machte es sehr schwer, sich auf die Worte des Vortrags konzentrieren zu können. Der Höhepunkt aber war der Hausfriedensbruch einiger Männer, die durch das Dach hindurch in den Versammlungsraum eindrangen. Jesus hätte diese Leute zurechtweisen und sie auf die geltenden Regeln in unserem Lande hinweisen müssen. Zu unserem Entsetzen schlug er sich auf ihre Seite. Ohne dass der Gelähmte sich als bußfertig erwiesen hätte, ohne ihn einzuführen in die Grundlagen der wahren Religion, ohne Unterweisung in die Regeln eines gottgefälligen Lebens ließ er den Gelähmten wissen, seine Sünden seien ihm vergeben. So geht das nicht! Bitte untersagen Sie ihm und seinen Anhängern, weiterhin so eigenmächtig und ohne Einbindung in die religiösen Strukturen und Autoritäten zu handeln. Er solidarisiert sich mit den Armen und Kranken, mit denen, die keine Regeln mehr kennen, mit Außenseitern und Gesetzesbrechern. Damit bringt er die gesamte gesellschaftliche und religiöse Ordnung in unserem Dorf in Gefahr.“
Darlenia Garnia musste schmunzeln. Ja, so konnte Jesus sein, das hatte sie auch schon erlebt:
– Jesus brauchte keine Andacht und Stille für sein Wirken. Das größte Gewühl und Gedränge konnte ihn nicht davon abhalten, sich auf den Menschen einzulassen, der gerade seine Hilfe brauchte.
– Jesus brauchte nicht die Gewohnheiten der üblichen Regeln des Zusammenlebens, wo schützende Mauern zu trennenden Grenzen werden. Er tat sich zusammen mit Menschen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten, unterschiedlichster Geschlechter und unterschiedlichster kultureller und religiöser Hintergründe.
– Jesus brauchte keine Genehmigungen von den religiösen Autoritäten. Er fragte nicht nach ihrer Erlaubnis, um seine Botschaft kundzutun und Menschen zu heilen.
Darlenia blickte ratlos auf den Haufen Briefe vor ihr. Die Empörung von Menschen, die nicht abweichen wollten von dem, was sie kannten, was ihnen beigebracht worden war und was ihnen gefiel, hatte schon manche Diskussionen in Gemeinden ausgelöst. Meistens führten solche Diskussionen zu Anregungen und spannenden Prozessen bei den Beteiligten. Aber warum war der Widerwille immer wieder so groß, wenn es darum ging, sich auf Menschen und Gotteserfahrugen einzulassen, die man noch nicht kannte oder die einfach anders waren als gewohnt?
Darlenia fiel ein Umschlag ins Auge, den sie noch gar nicht geöffnet hatte. Er hatte Eselsohren und schon die Anschrift enthielt mehrere Rechtschreibfehler. Konnten sich die Leute nicht ein bisschen mehr Mühe geben?, dachte Darlenia beim Öffnen und entnahm ein Blatt Papier, das mit seinen schrägen Buchstaben und durchgestrichenen Worten mehr bekritzelt als beschrieben aussah:
„Liebe Darlanie, Sie anen nicht, was letztens passiert is. Ich wahr bei Jesus! Und jesus hatt mich gehailt! Bite endschuldigen sie meine schlechte Schrifd, aber ich wahr lange gelehmt und wurde für dumm verkauft. Jetzt muss ich fiel nachhohlen, aba ich lärne schnell. Nur weil ich mich lange nicht richitg bewegen konnte, heißt das ja nicht, dass ich nicht richitg denken kann!
Aba von forne: Wie gesagt, ich wahr gelehmt. Da höhrten meine Froinde, das Jesus in unserem Dorf ist. Wir hatten schohn fiel von seinen Heilungen gehöhrt. Wir wollten unbedinkt zu ihm! Aber alles war voll! So fiele Leute! Sie glauben es nich! Und kainer liess uns durch! Ich hatte gedacht, die Anhenger Jesu, das sind nette Leute. Der predigt doch von Liebe und Gerechtigkeit und Frieden, da müssen die Anhenger doch auch ein bisschen Liebe und Gerehtiigkeit und Frieden an den Tag legen, hatte ich gedacht. Ichw ar ein bischen entäuscht und wollte schohn wider nach Hause zurük. Aber meine Froinde waren wild entshlossen, mich zu Jesus zu bringen.
Es war mir ein bisschen peinlich, aber nachdem uns die Anhenger von Jesus einfach nicht reingelassen hatten, sind wir denen eben auf’s Dach gestigen. Im Ernst, wir sind wirklich aufs Dach rauf. Und dann haben wir von da oben eben ein Loch in deren tolles Gebäude geschlagen, das groß genug für mich war. Manchmal muss man wohl einen Umweg nehmen und an den Anhängern und Kritikern Jesu vorbeigehen, um zu Jesus zu finden.
Und als sich die Leute in der ersten Reihe noch die Augen rieben vor Verwudnerung und Staub, da hatte Jsus mir schon tief in die Augen geschaut. Fromme Leute kucken mich sonst meistens anders an. Das ist sonst imma so eine Mischung aus Mitleid und Verachtung. Einem Gelehmten sehen halt alle an, das in seinem Leben was schief gelaufen sit. Selba schuld, heisst es imma. Entweder die Eltern oder er selbst hatte offensichtlich ein Problem, sonst wäre das ja nicht passiert! Jesus hat sofort gewusst, was die denken. Und dann sagte er, einfach so, ganz direkt: ‚Was zwischen dir du Gott stand, ist jetzt weg, deine Sünden sind dir vergeben!‘
Na, nu guckten die anderen nicht mehr mich so komisch an, sondern den Jesus. Ganz pikiert waren die. Jetzt fühlten sie sich offensichtlich nicht mehr nur von mir gestört, sondern auch von ihrem lieben Jesus. Und dann fingen sie an zu tuscheln. Typisch, statt mit ihm direkt zu reden. Ich glaube, die hielten den für arrogant, weil er sie nicht um Erlaubnis gebeten hatte und mich einfach so, aufgenommen hatte. Wir hatten ja gar nichts gemacht, wir hatten uns nur nicht davon abhalten lassen, Jesus treffen zu wollen. Wir wussten, er würde mich gesund machen, sollten die anderen doch denken, was sie wollten.
Na, Sie ahnen ja gar nicht, was in dem Moment für eine Last von mir gefallen ist. Nie zufor hate ich mich so frei gefühlt. Ich wusste sofort, mein Leben fängt von vorne an. Jetzt krieg ich ne Chance. Jetzt wird alles anders. Und dann setzte jesus noch eins drauf. Er wandte sich nochmal an mich und sagte, ich solle aufstehn und gehen. Ich dachte, ich hätte mich verhört. Das hatte noch niemand zu mir gesagt. Sonst heißt es immer: Es ist wie es ist, gewöhn dich dran. Schraub deine Ansprüche runter. Vergiss deine Träume. Und Jesus sagt einfach zu mir, ich soll aufstehn!
Puh, da war ich aba selba erst mal verunsichert. Bisher musste ich ja keine Verantwortung tragen, und jetzt soll ich plötzlich mein Leben in die Hand nehmen? Das fellt mir immer noch manchaml schwer, ich muss ich da echt erst dran gewönen. Manchmal würed ich mich immer noch gerne von meinen vier Freunden durchs Leben tragen lassen. Veränderungen können nerven. Kein Wudner haben die alle so komisch geguckt, als ich da plötzlich durchs Dach geschwebt kam. Irgendwie haben wir damit ja auch deren Treffen durcheinander gebracht. Ist wohl für alle Seiten schwireig, wenn Dinge sich verändern! Wenn man Gewohnheiten loslassen muss! Aba ich glaube, dass Jesus genau das will. Das würde irgendwie nicht zu Jesus passen, dass alle Dinge so bleiben sollen, wie man sie eben kennt.
Und ich muss sagen, es gibt ja auch nette Anhenger von ihm. Die zwei Frauen zum besipiel. Das war so: Kaum konnte ich stehen und laufen, hab ich nmir ja meine Bahre geschnappt und bin Gott lobend und preisend da rausgegangen. Druaßen waren noch die ganzen Menschen. Ein paar von denen kamen auf mich zu, tippten mich an (warum fassen die mich einfach an, ohne mich zu fragen??) und sagten: Ey, warum willst du schon gehen, du musst doch jetzt hierbleiben und dich uns anschliessen! Jesus hat dich geheilt, gib ihm was zurück! Ich war ein bisschen verdutzt und fühlte mich auch ehrlich gesagt etwas bedrängt.
Die anderen standen alle in Grüppchen drumrum und guckten nur. Sie musterten mich und wandten sich dann wieder einander zu. Die wollten offensichtlich unter sich bleiben. Naja, das kannte ich ja schon.
Aber da kamen diese beiden Frauen. Die waren anders. Sie lösten sich aus ihrer Gruppe, brachten mir ein Getränk und fragte mich, wie es mir jetzt geht. Dann hörten sie mir einfach zu. Und als ich gehen wollte, wünschten sie mir noch alles Gute und winkten mir hinterher. Wegen den beiden werde ich da nochmal hingehn. In ihrer Nähe spüre ich was von der Nähe Gottes.
Ich bin ja noch ganz am Anfang auf meinem Weg, aber wo solche Menschen sind, ist Jesus auch da. Da können die gnazen Regeln und alle, die sich nnur um ihre Gewohnheiten und ihre Freunde drehen, gar nichts dagegen machen. Ich bin das beste Beispiel dafür. Seht her, Gott liebt mich, auch wenn ihr mich ignoriert oder komisch findet und ich euch verunsichere und ich eure Veranstaltungen drucheinander bringe! Jesus und diese beiden Frauen haben mir gezeigt, dass es auch anders geht, und da bleibe ich jetzt dran! Ich kann gar nicht aufhörn, Gott dafür zu danken. Liebe Darlanie, diese Freude wollte ich eifnach mal mit Ihnen teilen. Machen Sie’s gut und geben Se nich auf!“
Gerührt und in tiefem Frieden faltete Darlenia Garnia den Brief zusammen. Sie würde gar nichts unternehmen. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Aber sie dankte Gott für diese beiden Frauen, die den neuen Gast nicht als Störenfried oder Sonderling wahrgenommen hatten, sondern ihm freundlich, unbefangen und aufmerksam begegnet waren. Von den beiden würde sie sicher noch öfter Gutes hören…