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Wer bist du wirklich? Wie willst du leben? (Herkunft, Vorfahren, Gene, Geschlechterrollen? Jesus als Gegenprogramm zu Abstammungsideologien und Erwartungen.)

Krippenspiel ohne Krippe MCC Köln, 24. Dezember 2022
Ines-Paul Baumann

Lukas 2,1-7

(Ein Telefon klingelt und wird abgehoben:)

„Standesamt Bethlehem, Abteilung Geburtsregister und Urkundenservice, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“

(unsicher, suchend:) „Hallo. Mein Name ist Karmen. Ich würde gerne wissen, wer ich bin. Also, manchmal habe ich nicht das Gefühl, dass ich das weiß. Ich habe eher das Gefühl, dass ich nicht wirklich lebe als die Person, die ich wirklich bin. Ich lebe, und ich erfülle meine Aufgaben und die Erwartungen, die an mich gestellt werden. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht bin, wer ich bin.“

Standesamt (freundlich): „Und wie können wir Ihnen dabei helfen?“

Karmen: „Nun ja, ich habe mal gehört, dass unsere Herkunft ganz wichtig sei. Wo wir geboren sind, wie wir aufgewachsen sind, welche Gene in mir stecken, welche Erfahrungen es in der Geschichte meiner Vorfahren gibt, sowas alles.“

Standesamt (freundlich): „Und wie können wir Ihnen dabei helfen?“

Karmen: „Nun ja. Ich bin schon ziemlich weit gekommen in meiner Ahnenforschung. Aber jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich nicht weiter komme. Einer meiner Vorfahren hatte einen Bruder, und der hieß Jesus Christus. Der muss wohl ganz schön für Aufruhr gesorgt haben. Über ihn kenne ich jede Menge Anekdoten, Legenden, Mythen und Geschichten, die mensch sich so erzählt. Aber wer weiß, was davon stimmt. Ich möchte mehr Gewissheit über diesen Jesus bekommen, und darüber mehr Gewissheit über mich selbst.“

Standesamt (freundlich): „Und wie können wir Ihnen dabei helfen?“

Karmen: „Nun ja. In einer der Geschichten, die mensch sich so erzählt, wird als Geburtsort Jesu der Ort Bethlehem erwähnt. So um die Zeit, als Augustus der Kaiser war. Gab es da bei Ihnen mal einen Jesus Christus?“

Standesamt: „Warten Sie, ich schaue mal nach. H, I, J, Ja, Je… Hm. Nein, ein Jesus Christus wurde hier nie geboren.“

Karmen: „Das kann nicht sein! Er wurde in einem Stall in Bethlehem geboren, heißt es immer!“

Standesamt: „In einem Stall?“

Karmen: „Ja! Seine Eltern hatten ganz viele Verwandte in Bethlehem. Es gibt Bilder von ihm, da liegt er in einer Krippe!“

Standesamt: „Schätzchen, wenn seine Eltern hier so viele Leute kannten, werden sie garantiert irgendwo untergekommen sein. Von wo rufen Sie an?

Karmen: „Aus Deutschland.“

Standesamt: „Ah, ich verstehe. Gut, dann können Sie nicht wissen, wie es hier ist. Also: Es ist bei uns ganz normal, dass es in unseren Häusern Gästeräume gibt. Und wenn die voll sind, müssen weitere Gäste halt da mit wohnen, wo die Familie wohnt. Und direkt daneben lagern oft die Tiere. Das heißt, auch IN unseren Häusern gibt es Futterkrippen. Jesus kam genau da zur Welt, wo die Leute halt waren. Wie kommen Sie nur auf die Idee mit dem Stall?“

Karmen: „Ich habe hier ganz viele Bilder davon! Jesu Mutter, sein Vater, und mittendrin er in der Krippe mit blondem, lockigen Haar.“

Standesamt (lacht): „Blond? Die meisten hier haben keine blonden Haare. – Sind Sie sicher, dass Sie im richtigen Bethlehem angerufen haben?“

Karmen: „Dann schauen Sie doch bitte mal unter seinen anderen Namen! Zum Beispiel wurde er auch Sohn Gottes genannt.“

Standesamt: „Sohn Gottes? So wurde damals der Kaiser Augustus genannt.“

Karmen: „Gott?“

Standesamt: „War auch einer der Namen von Kaiser Augustus.“

Karmen: „Retter?“

Standesamt: „Kaiser Augustus.“

Karmen: (Schweigen)

Standesamt: „Vielleicht gehören Sie gar nicht zu Jesus Christus, sondern zu Kaiser Augustus?“

Karmen (zögert; dann nachdenklich): „Das kann nicht sein. Mir erzählte man immer, Jesus sei das Gegenprogramm zum Kaiser gewesen.“

Standesamt: „Warum nennt er sich dann genau so?“

Karmen: „Naja, vielleicht genau deswegen. Um allen zu zeigen, dass Kaiser Augustus in Wahrheit gar nicht so mächtig ist, wie er immer tut und wie die Leute von ihm denken.“

Standesamt: „Also waren die Namen Jesu keine Eigennamen, sondern Teil seines Gegenprogramms? Wenn die an der Macht heute andere Bezeichnungen tragen, würde sich Jesus SO nennen? Freier Markt, Neoliberalismus, Whiteness, Patriarchat, Cis-Hetero-Paar-Normativität?“

Karmen: „Naja, das klingt jetzt komisch. Und unsympathisch.“

Standesamt: „Naja, das waren die Begriffe für Ihren Vorfahren damals vielleicht auch, oder? Warum benutzen Sie sie heute noch?“

Karmen: „Für uns sind es Begriffe voller Hoffnung, Trost und Empowerment.“

Standesamt: „Sind Sie sich da sicher? „Gott“ soll für alle ein Begriff der Hoffnung, des Trostes und des Empowerments sein?“

Karmen: „Ja klar!!“

Standesamt: „Oh nein, da muss ich Ihnen widersprechen. Wissen Sie, was manche Leute WIRKLICH mit dem Namen „Gott“ verbinden??“

Karmen (trotzig): „Aber deswegen ist die Geschichte mit dem Stall ja so wichtig! Gott zeigt sich von Anfang an am Rand der Gesellschaft! Jesus erfährt von Anfang an, was Ausgrenzung und Armut heißt! Das MACHT ihn doch sympathisch! Damit steht er doch von Anfang an gerade NICHT auf der Seite des Kaisers und derjenigen, die dessen System Glauben und Macht schenken!“

Standesamt (geduldig): „Ok, lassen Sie uns nochmal gucken. Vielleicht finden wir Ihren Jesus ja über den Namen seines Vaters. Wie hieß der Vater?“

Karmen: „Sein Vater war Gott.“

Standesamt: „Ja, ich weiß, Kaiser Augustus. Wurde damals übrigens auch ‚Vater‘ genannt. Also, wie hieß Jesu Vater? Ich brauche nicht die Bezeichnung, ich brauche einen Namen.“

Karmen: „Gott!!!“

Standesamt: „Haben Sie vielleicht noch andere Unterlagen?“

Karmen: „Großonkel Matthäus hat eine ganze Reihe an Namen von Vorfahren überliefert, das geht zurück bis Abraham. Es kursiert allerdings auch noch eine andere Liste mit anderen Namen. Großonkel Markus schreibt auch nur was von Jesus als Sohn Gottes. Allerdings wird auch oft ein Josef erwähnt; aber der hat Jesus nur großgezogen; Jesus war nicht sein leibliches Kind. Und Großonkel Johannes schreibt: ‚Er, der das Wort ist, wurde ein Mensch von Fleisch und Blut und lebte unter uns.‘ “

Standesamt: „Und das hilft Ihnen dabei zu verstehen, wer Sie sind?… Schauen Sie doch mal: Von Ihrem Jesus selbst haben Sie offenbar gar nichts Handfestes, was seine Ursprünge betrifft. Sein Geburtsort ist Teil von Legenden. Seine Vorfahrenliste wird je nach gewollter Aussage unterschiedlich zusammengestellt. Zu seinem leiblichen und sozialen Vater kursieren mehr oder weniger glaubwürdige Gerüchte. Verstehen Sie? Geburtsort, Vorfahren, Gene: alles unklar. Bei Ihrem Jesus scheint es eher umgekehrt zu sein: Er war, wer er war, nicht WEIL er von diesen Sachen zwangsläufig festgelegt war und DADURCH Sinn erfuhr. Sondern WEIL er war, wer er war, bekamen diese Geschichten einen Sinn.“

Karmen: „Kapiere ich nicht.“

Standesamt: „Haben Sie nicht eben selbst gesagt, Ihr Jesus war das Gegenprogramm zu Augustus? Augustus wollte mehr über die Bewohner*innen seines Reiches wissen und schickte sie dafür an die Orte, aus denen sie stammten. Im System des Kaisers WAR es wichtig, woher Menschen stammten.“

Karmen: „Das gibt es hier bis heute… Wie oft werde ich gefragt: ‚Woher kommst du WIRKLICH?‘ Und wenn Menschen aus Schweden oder den USA hierher ziehen wollen, ist alles wunderbar, aber wehe, sie kommen aus dem Nahen Osten oder aus dem globalen Süden.“

Standesamt: „Sehen Sie. Abstammung, Abstammung, Abstammung… Eigentlich absurd: Der in Ihrem Land so verehrte Jesus war ja genau einer aus dem Nahen Osten. Aber wenn Ihr Jesus das Gegenprogramm zur Abstammungsideologie war, wäre es doch naheliegend, dass Ihr Gott das vielleicht NICHT so sieht.“

Karmen: „Kapiere ich nicht.“

Standesamt: „Liebes. Ihr Geburtsort, Ihre Vorfahren und Ihre Gene mögen Ihnen bekannt sein oder auch nicht. Sie mögen etwas bei Ihnen prägen oder auch nicht. Aber sie können Ihnen nicht abnehmen, diejenige Person zu sein, die Sie sind. Da müssen Sie vor sich selbst und vor anderen schon selbst so mutig sein, zu sich zu stehen.“

Karmen: „Und wo finde ich jetzt Jesus, den Sohn Gottes, dem Fleisch gewordenen Wort Gottes, Gott selbst?“

Standesamt: „Hä? Das haben Sie mir doch gerade selber erzählt: Ihr G*tt taucht offenbar genau da auf, wo Sie sind!“

Segen

Wenn Gott Fleisch wird… Wenn die Heiligkeit menschlich wird… Wie können wir dann noch erkennen, ob wir der Heiligkeit begegnen? Wenn sie nicht mehr an einem bestimmten Ort ist, zu dem wir gehen können (oder müssen)? Wenn sie nicht an einem bestimmten Zustand/Moment zu erkennen ist, den wir erreichen können (oder müssen)? Wenn das Heilige menschlich ist und auch genau so wirkt…?

Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh draus: Wenn du keine*n G*tt brauchst, nin dich qua Heiligkeit und Größe und Übermacht überrennt… vor nim du Angst haben musst… nim gegenüber du prinzipiell klein, schuldig und niedrig sein musst… dann ist Jesus vielleicht genau der richtige, in dem sich diese*r G*tt zeigt:

Wo immer Gott in deinem jeweiligen Heute auftaucht,
manchmal wie ein unerwarteter Gast,
dann mögen nicht alte Muster dich davon abhalten,
die geheimnisvollen Wege der Heiligkeit mit offenen Armen zu begrüßen.
Mögest du dich berühren lassen von Gottes Verkörperungen
auch in den banalsten Umständen,
in den schwierigsten Situationen,
und an den seltsamsten Orten.
Mögest du die Erfahrung, geliebt und angenommen zu sein,
zur Grundlage deines Handelns machen können
und zur Grundlage deiner Erwartung und entsprechenden Handlungen,
dass irgendwann dir und allen Gerechtigkeit widerfahren wird.
Amen.

(in Anlehnung an: „Move slow enough to notice“ von Rev. M Jade Kaiser, https://enfleshed.com/liturgy/miscellaneous-prayers/)

Anmerkungen

Es gibt durchaus Erfahrungen, die uns aus unserer Vergangenheit oder gegenwärtig zum Problem werden können. Bitte achte auf dich und suche dir Hilfe! Hier ein paar Anlaufstellen:

  • Erwachsene Kriegsenkel
    „Es geht uns in der Gruppe um die Aufarbeitung der transgenerational weitergegebenen Traumafolgen in dysfunktionalen Familiensystemen bzw. Gesellschaften.“
    https://ekefreitagkoeln.github.io
  • Telefonseelsorge
    „Probleme mit der Partnerin oder dem Partner, Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz, Arbeitsplatzverlust, Sucht, Krankheit, Einsamkeit, Sinnkrisen, spirituelle Fragen oder Suizidalität; solche Ereignisse und Verletzungen bringen uns Menschen oft an unsere Grenzen und dann kann ein Gespräch helfen, die Gedanken zu sortieren, neue Wege zu erkennen oder es ermöglicht, sich die Sorgen einfach mal von der Seele zu reden. Dafür ist die TelefonSeelsorge® da. Einfach anrufen genügt.“
    https://www.telefonseelsorge.de/

Hintergründe

  • Zum Mythos der Herberge…:
    „Jesus war kein Europäer“ von Kenneth E. Bailey
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