Predigtimpuls MCC Köln, 5. September 2021
Ines-Paul Baumann & S.
LSBTAIQ*-Menschen haben von Kirchen oft gehört, dass sie in Sünde leben würden. Wenn Sünde nicht als Instrument zur Unterdrückung verwendet wird, was bleibt dann übrig? Was ist „Sünde“ dann? Ist „Sünde“ ein Konzept, dass uns in einer gewaltvollen Welt empowern kann? Oder wird „Sünde“ nicht eher mit Jesus Wirken und gelebter Nächstenliebe aufgehoben? In der G*ttesdienstvorbereitung haben wir gemerkt, dass wir an unterschiedlichen Stadien sind in unserem Umgang mit dem Konzept „Sünde“ – und uns entschieden, beiden Stadien im Predigtimpuls Raum zu geben:
Ines-Paul erlebt manche Aspekte im Sündenkonzept durchaus noch als hilfreich für einen empowernden Glauben in einer gewaltvollen Welt. Dazu könnt ihr Ines-Pauls Gedanken lesen: Gibt es Dinge, die ich mit dem Begriff „Sünde“ verbinde, die ich nicht aufgeben möchte?
Für S. ist „Sünde“ eher ein historisches Konzept, das Menschen im Zusammenleben und in ihrer Beziehung zu Gott* Sicherheit gegeben hat und gibt. Die Frage, die sich dabei stellt, ist: brauchen wir das heute noch? S. hat für sich persönlich die Antwort gefunden, das nicht zu brauchen – wieso, lest ihr hier: Weg vom Sündenbegriff, hin zu gelebter Nächstenliebe!
(Ines-Paul:) Gibt es Dinge, die ich mit dem Begriff „Sünde“ verbinde, die ich nicht aufgeben möchte?
Ich weiß gar nicht, ob ich bereit bin, das Konzept „Sünde“ herzugeben.
Zunächst mal muss es ja einen Grund gegeben haben, dass das Konzept entstanden ist. Mein derzeitiger Bibel-Erklär-Bär erklärt es so („Das Tagebuch der Menschheit“ von C. van Schaik und K. Michel, S. 117-120): Als die Menschheit in ihren Anfängen geplagt war von Seuchen, Dürren und Fluten, brauchte sie eine Erklärung dafür, und die war: Es muss wohl eine Strafe der Götter sein. Also muss es vorher eine Schuld gegeben haben. „Sünde“ wurde zum Begriff für das, was den transzendenten Unmut erregt. Und weil Krankheiten so oft mit Sexualität, Essensgewohnheiten und Hygiene zu tun hatten, entstanden genau hierzu die ganzen Sündenkataloge.
Die „Erbsünde“ stellte die Menschen wenigstens alle gleich, aber die religiös verwurzelte Lust- und Körperfeindlichkeit war in der Welt.
Und natürlich lassen sich damit wieder Einzelne oder Gruppen identifizieren, die mehr sündigen als andere.
Das fanden und finden also andere am Konzept Sünde so nützlich. Aber was ist mit mir? Tia, auch ich habe tatsächlich schon oft was damit anfangen können.
Kurz vorneweg: Mein Blick auf die Welt ist davon geprägt, dass ich oft unter dem leide, was ich da sehe und erlebe. Heute habe ich für manches davon Worte, z.B. für die cis-heteronormative, patriarchale, koloniale Prägung unserer Gesellschaft. Oder für das Konzept des „Homo Economicus“ – ein Menschenbild, in dem angeblich alle selbstsüchtig und profitgierig seien, was kapitalistische Märkte als einzig natürliche Weltordnung rechtfertigen soll. Oder Begriffe wie vom „deutschen Volk“, weswegen wir Grenzen geschlossen halten und Menschen ertrinken und verhungern lassen können. Die Welt, in der ich lebe, macht mir oft Angst. Das ist also meine Perspektive, wenn ich Sündenkonzepte bisher durchaus manchmal hilfreich fand.
Hier also sechs Punkte, an denen mir das Sündenkonzept gute Dienste geleistet hat:
- Wenn diese Form von Menschheit eine ist, die in Sünde lebt, dann ist der ganze Scheiß wenigstens nicht gottgewollt.
(Gott macht sich nicht gemein damit, Gott ist kein*e Verräter*in der guten Sache, sondern unterstützt mich in meinem Dagegensein und Widerstand.) - Zur Sünde gehört die Vergebung, zur Schuld die Gnade. Dann hat dieser ganze Scheiß wenigstens nicht das letzte Wort.
(Ich muss nicht resignieren, ich kann Hoffnung haben. Es lohnt sich, sich weiterhin einzusetzen.) - Wenn ALLE Menschen Sünder*innen sind, dann gibt es wenigstens nicht Menschengruppen, die grundsätzlich besser oder schlechter sind als andere.
(Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist nicht zu rechtfertigen!) - Es gibt eine Kategorie für „richtig“ und „falsch“, die unabhängig von bestehenden Gesetzeslagen und Gruppenmeinungen ist.
(Ich kann ungerechte Gesetze, Zustände und Meinungen als ungerecht und falsch bezeichnen – und ihnen zuwiderhandeln.) - Alle Menschen sind Sünder*innen, also sind die Einzelnen nicht bewusste, gemeine, absichtliche Fieslinge.
(Ich kann – muss… – allen unterstellen, dass sie andere Möglichkeiten haben.) - Da auch ich eh zu den Sünder*innen gehöre, kann ich gar nicht immer alles richtig machen, muss mir nicht immer alles gelingen.
(Ich bin fehlertoleranter mir selbst – und anderen – gegenüber.)
Ich bin gespannt, ob ich für das alles das Konzept „Sünde“ weiterhin nützlich finde, oder ob es nicht Zugänge gibt, die sich als hilfreicher erweisen!
(S.:) Weg vom Sündenbegriff, hin zu gelebter Nächstenliebe!
Ich habe beim letzten Planungstreffen die Frage in den Raum gestellt, was eigentlich Sünde sein kann, und was von Sünde bleibt, wenn Sünde nicht als Instrument zur Unterdrückung eingesetzt wird. Gerade LSBTIQ-Menschen wird oft gesagt, dass sie in Sünde leben. So richtig eindeutig ist das Konzept auch nicht: mehrere Beziehungen gleichzeitig zu führen wird zum Beispiel je nach Zeitalter, Bibelauslegung und Glaubensorientierung mal als Sünde betrachtet, mal nicht. Eine Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Sündenbegriff umgehen können, versucht der Tiktoker @jegaysus zu geben (https://www.instagram.com/reel/COja01an5sv/). They hat für sich die Antwort gefunden, dass Sünde subjektiv ist. Er bezieht sich auf einen Vers von Paulus: „Ich weiß und ich bin im Herrn Jesus fest davon überzeugt, dass nichts unrein ist in sich selbst; unrein ist es nur für den, der es als unrein betrachtet.“ (Römer 14:14). They interpretiert das so, dass Sünden also nicht für alle gleich gelten. Stattdessen kann etwas nur dann Sünde sein, wenn wir selbst es als solche erachten. Dasselbe Verhalten kann daher für eine Person eine Sünde sein, für eine andere Person aber nicht.
Ich kann den Impuls hinter diesem Gedanken nachvollziehen, aber ich teile ihn nicht. Zum einen finde ich es schwierig, einzelne Verse als Belege für komplexe Glaubensfragen zu verwenden, denn genau mit dieser Form der Bibelauslegung wird Hetze gegen LSBTIQ-Menschen untermauert. Zum anderen finde ich diese Betrachtung von Sünde aber auch zu kurz gedacht. Wenn nur noch das Sünde ist, was ich selbst als Sünde definiere, werden richtig und falsch total beliebig. Zu sagen, „was für dich Sünde ist, muss für mich keine Sünde sein“, kann im ersten Moment eine total befreiende Reaktion sein, wenn dir z.B. vorgeworfen wird, deine Art zu lieben sei sündig. Es entschärft den Vorwurf aber nur für den Augenblick. Denn es lässt der anderen Person ebenso den Freiraum, Sünde für sich selbst zu definieren und somit gleich- oder mehrgeschlechtliche Liebe als Sünde anzusehen, und dementsprechend mit dir umzugehen. Und im Extrem zu Ende gedacht, können so auch sehr gewaltvolle Handlungen gerechtfertigt werden – solange ich es nicht als Sünde betrachte, kann ich eigentlich tun, was ich will. Ich glaube daher nicht, dass diese Art der Bibelauslegung und diese Interpretation von Sünde uns weiterhelfen.
Ich habe im nächsten Schritt dann darüber nachgedacht, ob es überhaupt ein Konzept von Sünde gibt, mit dem ich noch mitgehen kann. Der Begriff wurde und wird immer wieder verwendet, um Menschen zu unterdrücken und kleinzuhalten. Es ist ein sehr wirksames Mittel, denn es gibt kaum endgültigere Argumente als „Gott* lehnt das ab.“. Ich kann nachvollziehen, dass Sünde vielleicht lange gebraucht wurde, um Regeln des Zusammenlebens zu begründen, um Worte dafür zu finden, was zu einer gegebenen Zeit richtig und falsch war und um einen Leitfaden zu haben, wie gutes Miteinander aussehen kann. Und ich finde, darin kann der Sündenbegriff auch sehr verlockend sein, denn er macht es ziemlich einfach: mit dem Sündenbegriff gibt es klare Regeln, was wir tun dürfen und was nicht, und wenn wir nach diesen Regeln handeln, ist Gott* zufrieden und wir sind gute Menschen.
Hier an diesem Ständer steht: „Prüft alles, und behaltet das Gute!“ – und ich möchte vorschlagen, den Sündenbegriff nicht zu behalten. Denn ich glaube, wir brauchen ihn nicht. Ich denke, alles, was wir für zwischenmenschliches Zusammenleben und für unsere individuelle Beziehung zu Gott* brauchen, ist gelebte Nächstenliebe. Es wird meinen Mitmenschen deutlich mehr gerecht, wenn ich mein Handeln nicht darauf ausrichte, was irgendwann mal als Sünde und was als Nicht-Sünde eingeordnet wurde; sondern wenn ich mir die Mühe mache, im Hier und Jetzt aktiv zu überlegen, wie ich mich liebend, wertschätzend und empowernd verhalten kann, was Menschen gut tut und sie stärkt, und was ihnen weh tut und sie unterdrückt, anstatt die Bibel aufzuschlagen und Schema X zu folgen. Das wird nicht in allen Situationen gleich aussehen, sondern stark zwischen Lebensumständen, meinem* jeweiligen Gegenüber und im historischen Kontext variieren. Und das ist ganz schön kompliziert. Es verlangt von mir, dass ich im Zusammenleben nicht einfach Skripte dessen abspiele, was ich gelernt habe, sondern mich immer und immer wieder hinterfrage und mich wirklich auf die Person vor mir und ihre Lebensrealität einlasse. Es bedeutet, keinen konkreten Handlungskatalog zu haben, sondern Fehler zu machen, die ich vielleicht nicht vorhersehen kann – mir diese einzugestehen, und auf eine mir und Anderen gegenüber liebevolle Weise damit umzugehen. Gelebte Nächstenliebe ist kein „Wir haben uns alle lieb und dann wird alles gut!“ – gelebte Nächstenliebe ist sehr essentiell, und muss politisch sein. Sie verlangt zum Beispiel, Rassismen zu erkennen und aufzubrechen, Queerfeindlichkeit umzulernen, Machtstrukturen in uns und in Kirchen zu hinterfragen, und Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme in denen wir leben grundlegend zu verändern, weil diese unserer Umwelt und unseren Mitmenschen schaden. Gelebte Nächstenliebe ist also eine ziemlich große, widerständige und radikale Sache! In all dem sehe ich viel mehr Potenzial als in dem Sündenbegriff.
Vielleicht habt ihr noch weitere Vorstellungen dazu, wie gelebte Nächstenliebe aussehen kann. Vielleicht habt ihr noch andere Bezüge zum Sündenbegriff, die das Konzept für euch in eurem Glauben ganz wichtig machen. Ich möchte deshalb die Frage in den Raum stellen: braucht es Sünde, wenn Nächstenliebe gelebt wird?
[1] Inspiriert wurde das von einem tollen Buch zu politischer Liebe: „Zu Lieben. Lieben als politisches Handeln | Kapitalismus entlieben“ von Lann Hornscheidt