Predigt MCC Köln, 17. November 2019
Ines-Paul Baumann
1. Timotheus 2,1.8-9 + 1. Timotheus 6,1-11
Wer hat das Recht, anderen zu sagen, dass und wie sie beten oder Bibel lesen sollen? Ist das nicht viel zu eng gedacht, dass es Anleitungen geben soll, wie ein christliches Leben aussieht? Führen wir damit nicht doch wieder ein, dass es „bessere“ und „schlechtere“ Christen gibt? („Wie, Lotta weiß nicht, wo das Hohelied der Liebe steht? Die liest wohl NIE in der Bibel! Was hat die nur für ein mangelndes Glaubensleben!“) Führt das nicht wieder nur zu Erwartungsdruck („ich MUSS jeden Morgen beten“), mit dem bekannten Versagen, Nicht-Genügen, Hadern und sich-schlecht-fühlen?
Eigentlich sollte und wollte Andreas heute über Predigen predigen. Andreas kann heute aber leider nicht, und so nutze ich diese Gelegenheit zu einem Kommentar zu unserer derzeitigen Predigtreihe. Derzeit beschäftigen wir uns mit der gelebten Praxis unseres Glaubens, sowohl für uns als Einzelne als auch als Gottesdienst-Gemeinschaft. Bibel lesen, Beten, Kollekten, … – warum machen wir das? Wie geht das, Bibel lesen und Beten? Welche Erfahrungen machen wir damit? Gibt es praktische Tipps dazu?
Ich gebe zu, dass ich mich lange davor gescheut habe, so etwas als Thema zu nehmen.
Aber andererseits: Wenn wir NIE darüber reden, wie wir unser Glaubensleben gestalten können – wie sollen wir es dann erlernen und darin wachsen? Sollen uns Gottesdienste und Gemeindeleben nicht auch darin unterstützen, unser Glaubensleben zu gestalten? Was nützen theologisch spannende Predigten, wenn sie nur ein nettes sonntägliches Gedankenspiel sind – wir aber die Woche über gar nicht anknüpfen können an die Gegenwart Gottes in unserem Leben?
Mir ist wieder eingefallen, wie viel ich damals in meiner ersten Gemeinde gelernt habe über Glaubensleben. Bis heute baut viel von meinem Gottesbezug darauf auf. Ja, Bibel lesen und beten, so simpel sind diese Grundlagen. Aber sie einzuüben, einen praktischen Umgang damit zu finden, das habe ich da wirklich gelernt. Dieser Erfahrungsschatz, dieses Wissen, diese Gewohnheit, dieses TUN macht mich unabhängig von den Gebeten und Bibelauslegungen anderer.
Und sie führen mich immer wieder zu meinen Mitmenschen hin. Beten und Bibel VERBINDEN mich mit anderen – in einem heilsamen, heilvollen und heiligendem Gesamtzusammenhang. Sie machen mich kritischer gegenüber manchen kirchlichen und weltlichen Meinungen und Ideologien. Und sie machen mich konsequenter in meinen Alltagsentscheidungen.
Hätte ich nach 10 Jahren MCC so eine gute Grundlage für mein eigenes Beten und Bibellesen gehabt wie damals nach drei Jahren Baptistengemeinde?
So gesehen bin ich froh und dankbar, dass sich das Predigtteam für diese Predigtreihe entschieden hat.
Was dabei so alles passieren kann, können wir in der Bibel gut sehen. Die ganzen Briefe im Neuen Testament tun ja was Ähnliches: Sie wollen Menschen helfen, ihr Glaubensleben zu gestalten, und haben dazu jede Menge Tipps und Anleitungen parat. Und es passiert genau das, was hier und in anderen Gemeinden weltweit und seit zwei Jahrtausenden auch immer geschieht: Manches von dem Gesagten ist weise und hilfreich, und anderes ist zum Haareraufen und Kopfschütteln. Zumindest aus heutiger Sicht. Zumindest aus meiner Sicht.
Wir leben heute in einem anderen Zusammenhang als die Menschen im Neuen Testament damals. Damals gab es weder einen Begriff von Menschenrechten noch von Regenbogenfamilien. Aber auch innerhalb von unserer Gegenwart leben wir unterschiedlich – was für die eine sinnvoll ist, ist für den anderen vielleicht gerade schädlich. Das ist schon das Erste, was wir lernen können für unser Glaubensleben (z.B. fürs Beten und Bibel lesen): Manchmal ist es passend, dass ich mich begeistern lasse, und manchmal ist es wichtig, dass ich auf Distanz gehe.
Ich lade euch zu einem praktischen Beispiel ein. Eine Übung, die illustrieren soll, was ich meine. Inhaltlich geht es – natürlich – um praktische Tipps zum christlichen Leben als Einzelne und als Gemeinschaft (also genau wie unsere Predigtreihe):
1. Timotheus 2,1.8-9 + 1. Timotheus 6,1-11
Meine allererste Reaktion auf diesen Text ist, dass ich ihn einteile und werte. Manche Passagen gefallen mir auf Anhieb:
So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, (…) So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel.Desgleichen, dass die Frauen in schicklicher Kleidung sich schmücken mit Anstand und Zucht, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarem Gewand, sondern, wie sich’s ziemt für Frauen, die ihre Frömmigkeit bekunden wollen, mit guten Werken. (…)
Alle, die als Sklaven unter dem Joch sind, sollen ihre Herren aller Ehre wert halten, damit nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde. Welche aber gläubige Herren haben, sollen diese nicht weniger ehren, weil sie Brüder sind, sondern sollen ihnen umso mehr dienstbar sein, weil sie gläubig und geliebt sind und sich bemühen, Gutes zu tun.
Dies lehre und dazu ermahne!
Wenn jemand anders lehrt und bleibt nicht bei den heilsamen Worten unseres Herrn Jesus Christus und bei der Lehre, die dem Glauben gemäß ist, der ist aufgeblasen und weiß nichts, sondern hat die Seuche der Fragen und Wortgefechte. Daraus entspringen Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn, Schulgezänk solcher Menschen, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, die meinen, Frömmigkeit sei ein Gewerbe.
Die Frömmigkeit aber ist ein großer Gewinn für den, der sich genügen lässt.
Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen.
Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns daran genügen lassen. Denn die reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen in Verderben und Verdammnis. Denn Geldgier ist eine Wurzel alles Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen.
Aber du, Gottesmensch, fliehe das! Jage aber nach der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmut!
1. Timotheus 2,1.8-9 + 1. Timotheus 6,1-11
Andere MISSfallen mir auf Anhieb:
So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, (…) So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel.Desgleichen, dass die Frauen in schicklicher Kleidung sich schmücken mit Anstand und Zucht, nicht mit Haarflechten und Gold oder Perlen oder kostbarem Gewand, sondern, wie sich’s ziemt für Frauen, die ihre Frömmigkeit bekunden wollen, mit guten Werken. (…)
Alle, die als Sklaven unter dem Joch sind, sollen ihre Herren aller Ehre wert halten, damit nicht der Name Gottes und die Lehre verlästert werde. Welche aber gläubige Herren haben, sollen diese nicht weniger ehren, weil sie Brüder sind, sondern sollen ihnen umso mehr dienstbar sein, weil sie gläubig und geliebt sind und sich bemühen, Gutes zu tun.
Dies lehre und dazu ermahne!
Wenn jemand anders lehrt und bleibt nicht bei den heilsamen Worten unseres Herrn Jesus Christus und bei der Lehre, die dem Glauben gemäß ist, der ist aufgeblasen und weiß nichts, sondern hat die Seuche der Fragen und Wortgefechte. Daraus entspringen Neid, Hader, Lästerung, böser Argwohn, Schulgezänk solcher Menschen, die zerrüttete Sinne haben und der Wahrheit beraubt sind, die meinen, Frömmigkeit sei ein Gewerbe.
Die Frömmigkeit aber ist ein großer Gewinn für den, der sich genügen lässt.
Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen.
Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns daran genügen lassen.
Denn die reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen in Verderben und Verdammnis. Denn Geldgier ist eine Wurzel alles Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen.
Aber du, Gottesmensch, fliehe das! Jage aber nach der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmut!
1. Timotheus 2,1.8-9 + 1. Timotheus 6,1-11
Was mir bei meiner ersten Reaktion auffällt:
- Manche Passagen sagen mir zu.
- Manche Passagen finde ich unsäglich.
- Beide Anteile kommen in allen Teilen des Textes vor. Ich habe nicht die eine Passage, die ich gut finde, und eine andere, die ich unsäglich finde. Sie sind ganz miteinander verwoben.
- Manchmal finde ich sogar ein- und dieselbe Stelle mal gut und mal schrecklich – ja nachdem, an was ich gerade denke, wenn ich sie lese.
(„Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns daran genügen lassen.“ Gegen Profitdenken und Kapitalismus finde ich das super; wenn es mich aber ruhigstellen soll, rege ich mich darüber auf.)
(Oder wie finden es wohl Menschen in BDSM-Beziehungen, dass Sklaven dienstbar sein sollen? Bestimmt anders als Menschen, die gegen Menschenhandel und Kolonialismus arbeiten….)
Dass wir so denken und reagieren, ist voll ok. Mehr als das: Das ist gut so. Wir KÖNNEN unterscheiden. Wir KÖNNEN selber entscheiden, was wir zu uns nehmen und was nicht. Wir SPÜREN und können BEURTEILEN, was uns gerade im Sinne Gottes heilvoll ist, und was unserem Heilwerden und Heilsein eher im Wege steht.
Wozu ich uns heute Mut machen will, betrifft aber in viel höherem Maße die andere Seite: Nicht die Seite als Zuhörende, sondern die Seite als Redende. (Letztlich lässt sich das nicht trennen, aber gefühlt hilft diese Unterscheidung doch manchmal.) Mir geht es nicht nur darum, dass wir beurteilen können, was andere von sich geben (und auch die Verantwortung dafür tragen!). Mir geht es vor allem um Folgendes:
Wenn doch die anderen um mich herum durchaus in der Lage sind, für sich zu sorgen (indem sie z.B. nicht alles glauben, was ich sage) – dann KANN ich frei reden und erzählen.
Dann geht es gerade nicht darum, dass ich nur von mir geben darf, was immer und für alle gut und richtig ist.
Dann darf ich auch mal etwas sagen, was andere vielleicht NICHT teilen.
Dann darf ich auch etwas gut finden, was anderen vielleicht derzeit NICHT gut tut.
UND: Dann darf ich Fehler machen. Mich täuschen. Etwas falsch einschätzen. Danebenliegen.
In dem Timotheus-Brief ist das alles drin. Aus meiner Sicht liegt er in manchem SEHR daneben. Redet an manchen Stellen ganz schönen Unsinn. So manches passt nicht für mich. Ich bin anderer Meinung.
Aber GENAU DESWEGEN mag ich diesen Brief so. Ich erlebe hier einen Menschen, der darum ringt, seinen Glauben in die Praxis umzusetzen. Der ALLES im Licht seines Glaubens betrachtet. Der zu allem eine Meinung hat – und sich diese aufgrund seines GLAUBENS bildet. Der jede Ansicht, zu der er kommt, in seinem Glauben begründet. Der alles, was in der Welt und in der Gemeinde und im Alltag geschieht, an seinem Glauben überprüft. Der alles, was Menschen tun und wie sie miteinander umgehen, mit seinem Glauben verbindet.
Dieses Ringen mitzuerleben, regt mich an, selber über die Inhalte und Konsequenzen meines Glaubens nachzudenken. Eben genau nicht durch einfaches Nachahmen und Nachmachen und Nachplappern. Gerade IN der Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen beim Lesen des Textes bin ich schon dabei, meinen Glauben und mein Leben zu verbinden. Allein dadurch ist dieser Bibeltext schon eine hilfreiche Quelle, ein anregendes Gegenüber, ein wertvoller Gesprächspartner.
Wie gesagt, das Ergebnis des Autors muss nicht immer das Beste sein aus meiner Sicht. Aber DASS er versucht und dazu aufruft, das gesamte Leben vom Glauben her zu sehen, das finde ich vorbildlich, toll, anregend, inspirierend. Es geht nicht darum, dabei keine Fehler zu machen – es geht darum, das zu tun.
Unser Glaube HAT etwas mit unserem LEBEN zu tun.
Unser Glaube hat etwas MIT unserem Leben zu tun.
Unser Glaube entzieht uns nicht dem Leben. Unser Glaube ist kein Parallelprogramm. Keine Parallelwelt, in der andere Regeln gelten. Unser Glaube ist nicht das sonntägliche Jogging-Programm, damit wir dann wieder fit genug sind, die nächste Woche gut zu funktionieren. Unser Glaube ist nicht das Hilfsmittel, das Leben halt zu ertragen, wie es nun mal ist.
Unser Glaube ist auch nicht die ALTERNATIVE zu unserem Leben.
Als Jesus am Kreuz hingerichtet wurde, hat er nicht die Fingerspitzen aneinandergelegt, eine Baumhaltung eingenommen und gesagt: „Oooohm“. Jesus war mit allen Konsequenzen seines Glaubens IM Leben der Welt. Jesus hat alles, was in der Welt geschah, an seinem Glauben gemessen. Vieles davon hat nicht zu dem gepasst, wie er Gottes Willen dafür verstanden hat. Deswegen hat er so gestört, dass er zum Schweigen gebracht werden sollte: Er hat seinen Glauben und das Leben miteinander verknüpft, immer und überall.
Und auch Jesus hat sich in diesen Auseinandersetzungen korrigieren lassen müssen. Auch Jesus hat Fehler gemacht und dazugelernt. Jesus war nicht der überlegene Meister, der immer in sich ruht und dem alles gelingt. Noch weniger waren das die ganzen Briefschreiber des Neuen Testaments.
Und genau das ist der Clou. Es geht nicht darum, dass wir immer alles richtig und gut machen. Oder darum, dass wir uns immer und in allem richtig und gut fühlen. Was wir von Jesus und den ersten Gemeinden anhand der Überlieferungen lernen können, ist aber, dass sie ihr Leben und ihren Glauben verbunden haben. Dass sie in jeder Situation gefragt haben: „Was bedeutet mein Glaube für diese Situation?“ Und dass sie sich genau darüber miteinander ausgetauscht haben.
Manchmal lagen darin goldene Weisheiten. Lebensverändernde Hinweise. Quellen der Inspiration. Worte der Heilung, des Widerstands, des Lebens. Und manchmal lag darin Anpassung, Fehleinschätzung, Überheblichkeit, Unterordnung. Aber immer lag darin das Ringen um die Bedeutung des Glaubens für das Leben. Was BEDEUTET mein Glaube für das Leben, für diese Situation, für diese Entscheidung, für dieses Miteinander? Wie GESTALTE ich mein Leben und mein Glaubensleben – so, dass das NICHT zwei getrennte Leben sind?