Predigt MCC Köln, 12. März 2017
Daniel Großer
Matthäus 12,38-42 „Die Zeichenforderung der Pharisäer“
Nicht wenige Menschen lesen den heutigen Predigttext mit einem Gefühl der Genugtuung. Da hat sich Jesus mal nicht klein gemacht vor den Schriftgelehrten, nein, da scheint er richtig Klartext zu reden und sie verbal von ihrem hohen moralischen Thron zu werfen. Butter bei die Fische, tacheles, Treffer-versenkt. Ein verbaler Schlag mit der hohlen Hand. Geschieht ihnen ja auch ganz recht, oder?
Mir ist immer etwas unwohl, wenn ich solche Gedanken beim Lesen eines Bibeltextes empfinde. Es ist immer verlockend, von “denen da oben” zu sprechen und sich daran zu ergötzen, wenn sich das vermeintlich Schwache über das vermeintlich Starke erhebt. Unsere MCC Gottesdienste sind nicht selten kräftig gewürzt mit Kapitalismuskritik und Religionsskepsis. Als kleine, alternative Gemeinde mit wenig Geld, wenig Einfluss, wenig Verantwortung sind wir meiner Meinung nach durchaus anfällig dafür, uns zu sehr mit der Rolle Jesu zu identifizieren und selber ein hohes moralisches Ross zu erklimmen. Vielleicht haben wir uns manchmal ein bisschen verliebt in unsere Außenseiterrolle und den Blickwinkel, den sie uns ermöglicht – und vielleicht gefällt uns deswegen auch das Bild von Jesus als siegreichem Außenseiter so sehr.
Und dann kommt da so ein Bibeltext mit dem verführerischen Grundgefühl der Schadenfreude darüber, wie Jesus die Schriftgelehrten abwatscht. Es ist so einfach, sich hier wie ein Zuschauer in der Arena zu fühlen und jubelstürmend den unterschätzen Außenseiter Jesus anzufeuern, der gegen die kraftprotzenden Gladiatoren-Pharisäer einen Triumph einfährt. Das Schwache erhebt sich über das Starke. Es ist so einfach, dass ich mich darüber erschrecke. Denn geht es hier wirklich darum? Hätte Gott Freude daran, mit welchen Gefühlen über die Pharisäer uns dieser Text vielleicht hinterlässt?
Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es in diesem Bibeltext überhaupt um die Pharisäer geht oder darum, sie von ihrem moralischen Thron zu stoßen. Es ist mir zu kurz gegriffen, wenn Jesus als Sozialrevoluzzer verklärt wird, der sich für die vermeintlich Schwachen einsetzt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Jesus all das geplant hat, damit er zu radikaler und ganzheitlicher Nachfolge aufrufen kann.
Stattdessen glaube ich, dass es in diesem Text nur um Jesus selbst und um eine einzige Frage geht: “Jesus, wer bist du? Gib uns einen Beweis! Erkläre dich!”
Immer wieder trifft Jesus auf diese Frage. Immer wieder muss er sich erklären, sich unter Beweis stellen, sich behaupten. Alle wollen wissen, wer er ist, nur verstehen will ihn anscheinend keiner. Sieht nicht die Mehrheit seiner Nachfolgerschar in ihm einen Wunderdoktor, übertragen sie nicht ihr Wunschbild nach einem politischen Führer auf ihn? Und seine Jünger, wieso muss er sie fragen, was sie denken wer er sei? Ein Rabbi, ein Querdenker, ein Charismat? Die Schriftgelehrten, die sich von früh bis spät mit Gott befassen, haben sie irgendeine Vorstellung davon, wer er ist? Sehen sie in ihm einen Sektierer, einen Konkurrenten, einen Aufrührer, einen Lehrer? Johannes der Täufer, sein wichtigster Freund, fragt nicht auch er ihn, ob er wirklich der sei, der er vorgibt zu sein?
Zum Beginn der Schaffenszeit Jesu prahlt das Matthäusevangelium beinahe mit den Zeichen, die Jesus unter den Menschen tut (Matthäus 4, 23-25); aber für die Pharisäer hat er in Matthäus 12 nichts mehr übrig. Davon, dass die Evangelien dem Wunderwirken Jesu so viel Raum geben, können die Schriftgelehrten nicht profitieren, als sie ihn ihrerseits nach Wundern fragen. Im Gegenteil, der Jesus, der die Menschen zur Feindesliebe aufruft, nimmt sich in Matthäus 12 aus dem Topf, Menschen die Verdammung zuzusprechen. Es sind sehr böse Worte, die Jesus wählt. Wehrhaft, könnte man sagen, aber ebenso gut könnte man das auch als grobes Fowl bezeichnen.
Hier erlebe ich keinen Sozialreformer-Jesus, keinen Rabbi-Jesus, und erst recht keinen Jesus, der innerlich souverän in seiner Rolle als Gottes Sohn ruht. Stattdessen sehe ich in Matthäus 12 vor allem erstmal einen Jesus am Limit, der gerade sehr schwierige Gefühle offen durchlebt. Jesus ist in Rage, wütend, verzweifelt, verletzt, genervt.
“Jesus, wer bist du, was bist du? Gib uns einen Beweis! Erkläre dich!”
Die Transmenschen unter uns können vielleicht bestätigen, wie anstrengend und mühsam es ist, für so eine Frage immer wieder Rede und Antwort stehen zu müssen. Schlimmer noch: vielleicht hast du dir Mühe gemacht, eine gute Antwort zu geben – aber der Fragesteller hat sich längst in sein eigenes Bild von dir verbissen und ist so damit beschäftigt, dich in eine Schublade einzuschachteln, dass jedes deiner Worte umsonst ist. Es geht also gerade gar nicht um dich, es geht ausschließlich um die Rolle, in die du gesteckt werden sollst.
Natürlich macht das wütend! Natürlich verletzt das! Natürlich nerven solche Begegnungen!
So auch Jesus. Ich finde es so naheliegend, wenn Jesus einfach abgrundtief frustriert davon ist, dass alle Leute ihr Wunschdenken auf ihn projizieren, statt ihm wirklich zuzuhören. Jeder kämpft sich daran ab zu klären, wer Jesus ist, aber kaum einer hört darauf, was er lehrt. Er ist zutiefst verzweifelt darüber, und das spürt man seinen zornigen Worten auch deutlich ab. Als man ihm schließlich sagt: “Deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen.” – da ist er noch so in Rage, dass er brüsk antwortet: “Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? Meine Jünger hier, das sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.” (Matth 12, 47-50)
Selbstredend ist Jesus Sohn seiner Mutter und Bruder seiner Geschwister, aber in diesem Moment ist das auch nur wieder eine Identität, die ihm übergestülpt werden kann und ihm nicht gerecht wird.
Ich rechne es den Autoren der Bibel hoch an, dass sie uns hier Einblick geben in einen Jesus, der impulsiv, temperamentvoll und leidenschaftlich ist, der auch verzweifelt und frustriert sein kann, der vor allen Dingen um seiner selbst willen erkannt werden möchte und der darunter leidet, wenn er missverstanden wird und nicht durchdringen kann zu seinen Menschen.
Und ja – er hat es schwer: die Zeitgenossen Jesu sind so postfaktisch, wie wir heute. Die Menschen früher glaubten wohl genauso wie wir am liebsten das, was sie wollen. Für einen schönen Traum verkaufen wir die Realität und geben unsere Oma noch oben drauf.
Matthäus 12 lässt uns einen schmerzlichen Blick werfen in den tiefsten Wunsch Jesu danach, von uns erkannt zu werden als die Person, die er ist. Wenn Jesus mich fragen würde, wer er ist, was wäre meine Antwort? Welche Beweise fordere ich innerlich ein?
Muss Jesus für mich vor allem der Jesus der Armen und Geschundenen sein?
Wie reagiere ich darauf, wenn Jesus sich mir als Jesus der Reichen und Fröhlichen zeigt? Wir haben in der MCC Liedermappe kein einziges Glaubensbekenntnis, das Jesus als Freund der Schwachen und Starken bezeichnet; was sagt das darüber aus, wer Jesus für uns ist?
- Muss Jesus für mich ein strahlender Sieger sein?
Wie reagiere ich darauf, wenn Jesus sich mir als zurückhaltender Fremder zeigt, oder wenn er mein Leben nicht umkrempelt? - Muss Jesus für mich aufregend und neu sein?
Wie reagiere ich darauf, wenn Gott mich unter wortkarge, zögerliche Geschwister stellt, die mit wenig schon zufrieden sind? - Muss Jesus für mich ein Friedensstifter sein?
Wie reagiere ich darauf, wenn mein Glaube mir Stress mit meinen Freunden einbringt oder mein Partner mich deswegen verlässt? - Muss Jesus für mich der absolute Mittelpunkt sein?
Wie reagiere ich darauf, wenn meine Arbeit oder meine eigene Gesundheit die Mehrheit meiner Zeit in Anspruch nehmen? - Darf Jesus für mich alles sein – nur nicht katholisch?
Es ist vielleicht gar nicht so einfach, Jesus zu erkennen als der, der er ist. Es ist gar nicht so leicht, Jesus Jesus sein zu lassen. Viel einfacher ist es, meine frommen Wünsche auf ihn zu zentrieren. Wir tun gut daran, mit den Schriftgelehrten nicht allzu hart ins Gericht zu gehen.
Lassen wir uns stattdessen lieber inspirieren von dem verletzlichen, leidenschaftlichen, nahbaren (und ja: auch angenervten) Jesus aus Matthäus 12. Folgen wir seinem Beispiel? Dann heißt das: Fort mit dem schönen Schein, her mit dem echten Sein!
Ich persönlich denke z.B. an die vergangene Jahreshauptversammlung und die Frage, welche Rolle wir im Arbeitskreis christlicher Kirchen einnehmen sollten. Da war ich sehr skeptisch und selbstgenügsam, aber wenn ich den heutigen Predigttext auf mich wirken lasse, ändert sich mein Blickwinkel. Wem ist geholfen, wenn wir uns als stark und selbstständig darstellen wollen? Jesus zeigte sehr offen seine Verletztheit darüber, dass er nicht erkannt wurde. Und wir? Zeigen wir unsere Verletztheit darüber, dass wir nicht erkannt werden? Stehen wir zum Schmerz und Verlustgefühl, das ins uns ausgelöst wird durch die Distanzhaltung anderer Christen? Lassen wir dieses bittere Gefühl zu, damit wir uns endlich offen nach Gemeinschaft sehnen können? Trauen wir Gott zu, dass er aus unserem Bedauern, unserer Skepsis, unseren schlechten Erfahrungen, unserer geheimen Sehnsucht eine Brücke bauen kann?
Ich bin überzeugt, dass wir es herausfinden werden, wo wir Jesus Jesus sein lassen.
AMEN.