Ines-Paul Baumann
Jes 56,1-8 (BigS)
Mk 11,11-28 (GN)
2011. Die Welt war im Umbruch. Jesus wollte live dabei sein und beschloss, sich mal wieder unter’s Volk zu mischen. Köln war bekannt als interessante Stadt, mit guten Kontakten zum kirchlichen Milieu, und trotzdem weltoffen, mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen, mit unterschiedlichen Lebensweisen und dem schönen Motto „Jede Jeck is anders“. Wie es Leuten dort wohl ergehen würde, die auf der Suche waren nach der Nähe Gottes? Jesus war gespannt.
Aus guter alter Tradition wollte es Jesus auch dieses Mal als Mann aus dem Nahen Osten versuchen. Nicht aus Israel – Israel war in der Welt von 2011 kein Staat wie jeder andere. Auch als Palästinenser wäre die Sache von vorneherein zu politisch gewesen. Warum nicht einfach als Tunesier. Die hatten sich ja gerade eine Menge neue Freiheiten erkämpft; von Tunesien aus käme er bestimmt besser vom Nahen Osten nach Köln als zum Beispiel von Lybien.
Jesus machte sich auf den Weg.
Kaum in Tunesien angekommen, wunderte er sich, dass er den Weg nach Köln gar nicht so einfach fortsetzen konnte wie gedacht. Der Weg nach Deutschland war verschlossen. Als Sohn eines einfachen Zimmermanns aus dem Nahen Osten gehörte er dummerweise nicht zu den Fachleuten, die sie in Deutschland gerade gerne aufnahmen. Er hatte weder Deutschkenntnisse noch Vermögen vorzuweisen.
Jesus grübelte in der tunesischen Mittagshitze, wie er nun weitermachen sollte, da bekam er mit, wie am Hafen ein Boot gerade dabei war, mit hundert Leuten in See zu stechen – auf nach Europa! Jesus sprang an Bord.
Nach nicht enden wollenden Tagen voller Entbehrungen und einem ständigen Wechselbad aus Furcht und Hoffnung erreichten sie tatsächlich eine europäische Insel. Sie gehörte zu Italien! Ein Land mit großer christlicher Tradtion. Jesu Stimmung besserte sich. Nun würde alles gut werden.
Zu seiner Verwunderung wurde die gesamte Gruppe sofort in ein Lager gesteckt. Sie wurden behandelt nicht wie Bürger, sondern eindeutig wie Störenfriede. „Wir wollen euch nicht“, das war die Botschaft. Sie hausten unter erbärmlichen Bedingungen. Jesus hatte Hunger. Wie damals, an dem Morgen mit dem Feigenbaum vor 2000 Jahren. Er musste schmunzeln bei der Erinnerung. Mann, war er schlecht gelaunt gewesen. Und dann trug dieser blöde Feigenbaum, der von Ferne so toll aussah, zwischen seinen weithin sichtbaren Blättern nicht eine einzige Frucht. War ja eigentlich auch klar, es war die falsche Jahreszeit dafür. Eigentlich konnte der Baum nix dafür, dass er um diese Jahreszeit keine Früchte trug. Aber in dem Moment war ihm das egal gewesen. Bevor er sich versah, hatte Jesus den armen Baum verflucht. Sehr peinlich, wenig souverän und ganz schön ungerecht. Naja, er hätte sich gar keine Sorgen gemacht haben müssen. Tausende von Exegeten in den nachkommenden Jahrhunderten fanden toll klingende Rechtfertigungen für diese blöde Aktion. Aus seiner von Hunger und schlechter Laune getriebenen Kurzschlusshandlung wurde bei den Theologen Europas eine durchdachte, tiefsinnige Tat – von Jesus, dem Übermenschen. Warum kamen sie so schlecht damit klar, dass er wirklich Mensch geworden war? Ein Mensch, der sich die Fingernägel schneiden musste, gerne badete, noch lieber aß und trank, und eben schlechte Laune bekam, wenn er Hunger hatte. Wo war das Problem? Warum verklärten sie sein Menschsein so?
Seine eigene Ausführung, die ihm zum Feigenbaum noch gerade rechtzeitig eingefallen war, ignorierten sie seltsamerweise genau so. Wollten sie nicht, dass zum Beten nun keine Opfer, keine Priester, keine Vorgaben mehr dazugehören mussten? Was störte sie daran, wenn dieser ganze Betrieb um Kulte und Hierarchien nun ein für alle Mal vom Tisch hätte sein können? Wie geschickt sie stattdessen darin waren, neue Opfer-Kulte aufzubauen! Statt Tieren verkauften sie jetzt Kerzen, statt nach Jerusalem pilgerten sie jetzt an Wallfahrtstätten, aber im Kern hatte sich nichts geändert: Einfach so beten und glauben ging nicht.
Selbst der Vorraum für die Frauen war noch nicht überall abgeschafft – immer noch hatten zum Teil nur Männer Zugang zu Räumen und Tätigkeiten, die Frauen verwehrt blieben. Von Leuten, die dummerweise einen anderen Hintergrund hatten als die Insider, ganz zu schweigen. Wer die Gebräuche nicht kannte oder sich nicht daran hielt, hatte es schwer. Was andere als schöne Liturgie wahrnahmen, kam Außenstehenden oft ähnlich vor wie die Betriebsamkeit im Tempel. Alle schienen beschäftigt, alle hatten zu tun, alle hatten ihren Platz, aber wo war Gott? Jesus seufzte. Hatte seine Tempelreinigung denn gar nichts gebracht? OK, dass er mit seiner kleinen Aktion den Tempelbetrieb damals nicht zum Erliegen bringen würde, war klar gewesen. Das war ja auch nicht seine Absicht gewesen. Aber danach, in den Jahrhunderten, in denen sie dann regelmäßig über seine Aktion predigten, blieb denn auch da gar nix hängen? Das Gefühl der Wut von damals stieg plötzlich wieder in ihm hoch. Er erinnerte sich genau. Im Gegensatz zum Feigenbaum war das nun wirklich keine spontane Kurzschluss-Aktion gewesen. Eine ganze Nacht hatte er über das nachgedacht, was er am Tag zuvor im Tempel gesehen hatte. Als er so dastand und einfach nur zugeschaut hatte. Es war ein buntes Treiben. Die Pilger konnten die Opfertiere, die immerhin makellos sein mussten und die sie ja kaum auf der Reise zum Tempel hätten mitnehmen können, vor Ort erwerben. Sehr praktisch. Viele machten davon Gebrauch. Tausende von Tieren standen bereit, um den täglichen Ansturm auf den Tempel zu meistern. War das ein Lärm und ein Betrieb! Dazu die Geldwechsler, die die römischen Münzen in tyrische umtauschten, weil auf denen keine Bilder von Menschen eingeprägt waren. So konnte im Tempel das Bilderverbot gewahrt bleiben, und die Leute konnten trotzdem ihre Tempelsteuer entrichten. Wirklich gut organisiert das Ganze. Ein reibungsloser Ablauf, gut eingeübt, störungsfrei, alles lief wie am Schnürchen. Zumindest für diejenigen, die Teil dieses Ablaufs waren. Die Hohepriester, die Händler, die Geldwechsler. Alles Männer. Und die anderen? Die Frauen? Die Heiden? Wie konnten sie in diesem Hochbetrieb sich Gott nahen? Der Platz, an dem sie das hätten tun sollen, war komplett von der Betriebsamkeit eingenommen. Jesus war klar, bei dieser eingespielten Routine würden ein paar Diskussionen niemanden aus der Ruhe bringen. Seine sonstige Art, mit Menschen und Situationen umzugehen, würde hier nur vereinnahmt werden. Deswegen hatte er sich eine ganze Nacht lang Zeit gelassen, bevor er reagierte. Er wollte ein Zeichen setzen. Eines, das lange in Erinnerung bleiben würde. Dass sie stutzig machen sollte, Das die selbstzufriedene Betriebsamkeit für einen Moment unterbrechen sollte. Das in seinem Tun und Handeln so einzigartig war, dass sie nicht würden darüber hinweg gehen können. So reifte in Jesus der Entschluss, im Tempel eine kleine Aktion zu starten. Er würde keine Menschen angreifen und auch die Tiere nur so antreiben, wie sie es gewohnt waren. Tische umstürzen, Tiere freilassen, das würde gänzlich reichen, um klarzumachen, worum es ihm ging. Und tatsächlich, alle vier Evangelien nahmen diese Begebenheit auf. Schade, dass sie in den Jahrhunderten danach manchen als Rechtfertigung für Zornanfälle und Gewaltanwendung gegen Menschen diente. Auch wenn er es gewohnt war, missverstanden und missgedeutet zu werden, gerade bei diesem Thema tat es ihm doch weh. Es ging immerhin nicht um irgendwas. Es ging um das Allerheiligste! Die Nähe zu Gott! Gott anbeten zu können! In Gottes Gegenwart sein zu können! Das durfte doch niemandem verwehrt werden! Egal, ob er aus fremden Ländern kam, Frau oder Mann war, oder eine der Personen, die mit oder ohne Operationen in keine dieser Kategorien mehr passten! Erinnerten sie sich denn nicht an Gottes Worte aus dem Jesajabuch? Auch die Fremden, auch die Verschnittenen! Nicht als Teil einer Betriebsamkeit, sondern als Teil der Familie Gottes! Nicht aufgrund von Opfern, sondern aufgrund von Glauben!
Jemand rüttelte Jesus an der Schulter. Jesus blinzelte mit dem Augen. Ach ja, Lager, Flüchtling, 2011, vor den Toren Europas, des ach so freiheitlichen Kontinents. Überall sah er Uniformen und dazwischen Menschen, die abtransport wurden. Zurück in ihre Heimat, in den Hunger, in die Folter, in die Vergewaltigungen, in die Ausbeutung, in die Unterdrückung. Soso, das ach-so-freiheitliche Europa will Freiheit gar nicht für alle Menschen, sondern nur für die nützlichen? Für diejenigen, die den Betrieb nicht störten? Diejenigen, die ins System passten? Diejenigen, die eh schon dazugehörten? Ein paar wenige Männer mit dem Zugang zu den Ressorcen, Frauen nur am Rande, keine Fremden, viele Opfer bringen und ungestörte Betriebsamkeit – erinnerte ihn das nicht an etwas? Für wen oder was brachten die Menschen Europas diese Opfer? (immerhin nicht Tiere, sondern sich selbst!) Warum gab es für die eine Arbeit hundert Mal Geld so viel wie für die andere? Und warum galten die einen Tätigkeiten als Arbeit, andere nicht – unabhängig davon, ob sie sinnvoll waren oder irgendjemandem gut taten? Die Menschen Europas tauschten also nicht Münzen, sondern sich und ihre Zeit und ihr Menschsein. Zweckorientierte Lebensläufe für eine Arbeitsstelle. Zeit für Geld. Übungen für Wohlbefinden. Glatte Haut für Begehren. Beliebtheit für Anerkennung. Alle tauschten nur für sich selbst, alle drehten sich nur um sich selbst. Statt der Nähe Gottes suchten sie ihre eigene Göttlichkeit. Wollten Meister des eigenen Lebens sein. Warum nahmen sie sich nicht als Menschen an – und Gott als Meister des Lebens? Warum drehten sie sich pausenlos um sich selbst, nahmen sich selbst aber gar nicht ernst? Was war das für eine seltsame Auffassung von Freiheit und Menschsein, die Europa da verteidigen wollte?
Jesus atmete tief durch. Er war froh, dass er damals im Tempel keine Kompromisse eingegangen war. Dass er sich nicht vom System hatte vereinnahmen lassen. Dass er ein Zeichen gesetzt hatte, dass eben nicht alles mitgemacht werden musste. Und dass er eine Alternative geschaffen hatte. Dass nun niemand mehr abhängig war von Tempeln, die Menschen errichten,
in denen Menschen die Regeln festsetzen,
in den Menschen unterschiedlich einsortiert werden, je nachdem woher sie kommen, welches Geschlecht sie haben und welcher Tätigkeit im Wirtschaftssystem sie nachgehen.
Statt des Religions-Konsum-Tempels hatte er mit seinem Tod und seiner Auferstehung neue Tempel errichtet: er selbst wurde nun Mittler der Nähe Gottes, das wahrgewordene Versprechen Gottes, Nähe Gottes, Gegenwart Gottes – und sein Tempel waren ab sofort seine Gemeinden und all die Menschen, die ihm in sich selbst und in ihrem Leben Raum gaben. Ihre Körper, jeder einzelne, war nun Tempel – Tempel des Heiligen Geistes, Tempel des Allerhöchsten, Tempel der Gegenwart Gottes auf Erden.
Auch der Sinn der Tempelreinigung ging damit natürlich auf die Gemeinden und die einzelnen Menschen über:
Nun mussten sie sich nicht mehr damit beschäftigen,
ob der Betrieb reibungslos läuft,
ob sie alles richtig machen,
ob die Lieder ihren Geschmack treffen,
ob der Priester die richtigen Klamotten trägt,
ob die Einsetzung des Abendmahls innig genug gesprochen wird,
ob sie im Gebet die richtige Anrede für Gott benutzen,
ob die Räumlichkeiten irgendwelchen Vorschriften entsprechen,
ob sie sympatisch sind und gesund und interessant und ausgeglichen,
ob sie genug Geld oder Talent oder religiöses Wissen mitbringen.
Alle zusammen sind sie nun mit ihren Körpern und ihren Gemeinden Orte, in denen die Nähe und Liebe Gottes allen Menschen begegnet – unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Wirtschaftskraft und ihrem Geschlecht. Gemeinden, in denen nicht Geld und nicht Kultur über die Zugehörigkeit bestimmen, in denen es kein oben und unten gibt und kein drinnen und draußen, sondern wo ALLE willkommen sind. Wo die Menschen für ihre Anwesenheit keine korrekt ausgefüllten Genehmigungen und keine korrekt vollzogenen Opfer-Kulte brauchen – genau so wenig wie Jesus für seine Gegenwart hier und heute in Köln, jetzt in diesem Gottesdienst, in diesem Tempel, in euch und euren – mehr oder weniger unversehrten – wunderbaren Körpern.