Ines-Paul Baumann
Alles ist erlaubt – aber nicht alles nützt. Alles ist erlaubt – aber nicht alles baut auf. Denkt dabei nicht an euch selbst, sondern an die anderen.
1.Kor 10,23-24 (E)
Lesung: 1. Kor 10,23-31
Beate stand an der Einfahrt zur Tankstelle und fröstelte. Puh, war das jetzt noch mal kalt geworden. Sie schlug die Handschuhe gegeneinander und hauchte eine imposante Atemwolke in die glasklare Luft. Die Kälte kroch ihr langsam in die Knochen. Wo blieben die denn nur? Ein rotes Auto würde sie fahren, hatte die Frau am Telefon gesagt. Na, das fing ja gut an. Hoffentlich hatten die keinen Unfall gehabt. Beate verscheuchte den Gedanken. Nicht, dass sie das Unglück damit noch anzog! Schnell umfasste sie den Heilstein in ihrer Hosentasche und dachte an etwas Positives. Die würden bestimmt gleich um die Ecke biegen, sagte sie sich fest vor. Und tatsächlich, da sah sie auch schon das rote Auto! Die Fahrerin hielt an und sie warfen das Gepäck in den Kofferraum. Beate nahm auf der Rückbank Platz und sah sich um. Die anderen beiden Frauen machten einen netten Eindruck. Sie lächelten Beate freundlich an und begrüßten sie herzlich. Im Auto war es bereits muckelig warm, es lief eine ruhige Musik mit langsamen, regelmäßigen Rhythmen. Beate fühlte sich sofort wohl und entspannte sich. Vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei. Beate ließ ihre Gedanken treiben.
Als das Auto plötzlich langsamer wurde, brauchte Beate einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Ach ja, sie war auf der Fahrt zum Entspannungs-Wochenende im Landhaus von „Frauen und Leben“. Der Zwischenstopp wurde eingelegt, um noch eine weitere Teilnehmerin einzusammeln. Die gemeinsame Anfahrt sollte nicht nur die Umwelt schonen, sondern war Teil des Programms. Hier konnten schon die ersten Kontakte geknüpft werden.
Die Frau, die gerade einstieg, brachte sofort eine andere Stimmung in die Gruppe. Mit der Ruhe war es jedenfalls erst mal vorbei. Kaum waren sie wieder angefahren, erklang zwar wieder der Klangteppich der Musik, aber die Neue wollte sofort wissen, was das denn für Musik sei. Die Beifahrerin reichte eine CD-Hülle nach hinten und sagte: „Hier, shamanische Heilgesänge.“
“ Ah, das passt,“, dachte Beate, „deswegen habe ich mich so wohl gefühlt.“
„Oh nein!,“ beschwerte sich die Neue, „das haben sie mir neulich beim Zahnarzt auch schon unterjubeln wollen! So was höre ich nicht! Ich bin Christ und glaube nicht an fremde Mächte!“
Hä?, wunderte sich Beate, was hat die denn für Probleme? Was sollte irgendein Gott dagegen haben, diese CD zu hören? Es war doch nur Musik, und die Musik tat gut, das hatte sie ja eben selber gemerkt.
Die Beifahrerin drehte sich nach hinten und lächelte die Neue an: „Na, du musst ja auch nicht dran glauben. Die Wirkung dieser Musik ist erwiesen. Lass dich einfach drauf ein und merke, wie sie dir gut tun wird.“
Jetzt mischte sich die Fahrerin ein. „Ich hatte früher auch Probleme mit solcher Musik. Ich mag zwar Musik, aber wenn sie der Anbetung falscher Mächte dient, wollte ich damit nix zu tun haben. Ich bin auch Christin. Aber neulich habe ich in der Bibel eine Stelle gesehen, wo Paulus sagt: ‚Alles ist erlaubt – aber nicht alles nützt. Alles ist erlaubt – aber nicht alles baut auf.‘ Da ging es darum, dass manche Christen nix zu tun haben wollten mit Götzenopferfleisch – also mit Fleisch, das fremden Göttern geopfert wurde. Damals war es allgemein üblich, dieses Fleisch zu essen. Es gab eigentlich gar kein anderes Fleisch. Aber manche der Christen dachten, dass sie dieses Fleisch nicht mehr essen dürften – schließlich stand es ja im Zusammenhang mit einem Glauben, den sie nicht mehr teilten. Aber wir wissen doch, dass es außer dem Gott, an den wir glauben, gar keine anderen Götter gibt! Diese Opfer laufen also vollkommen ins Leere. Wo es keine anderen Götter gibt, gibt es auch keine fremden Mächte und keine fremden Einflüsse. Also haben die sich gesagt: Lasst uns das Fleisch ruhig essen! Und so sehe ich das mit den ganzen anderen Sachen heutzutage auch: Ich glaube an Gott und daran, dass es nur einen Gott gibt, wovor sollte ich also Angst haben? Ob Musik, Steine oder Aspirintabletten, wo ist der Unterschied – Hauptsache, es tut mir gut und ich danke Gott dafür!“
Alles sollte erlaubt sein? Im Christentum? Beate wunderte sich. Unter Glauben und Kirchen hatte sie eher etwas kennengelernt, das geprägt war von Geboten und Verboten, von gut und böse, von falsch und richtig, von Erwartungen und Regeln. Kein Sex vor der Ehe, kein dies, kein jenes – das war weit weg davon, dass da alles erlaubt sein sollte! Das Wort „Götzenopferfleisch“ passte schon eher zu dieser Welt. Was für ein Ungetüm. Aber die Argumentation fand sie einleuchtend. Wenn das Fleisch Götzen geopfert worden war – also Göttern, die es in echt gar nicht gab – , dann konnte ja auch nichts dran sein, dieses Fleisch zu essen. Götter, die es nicht gibt, können schließlich auch nichts anrichten.
Die zuletzt zugestiegene Frau widersprach: „Mag ja sein, dass du das so siehst – aber es spielt doch auch eine Rolle, was andere denken. Wenn eine denkt, dass es da eine Macht gibt, dann hat das auch Macht über sie! Und diejenigen, die daran glauben, dass da wirklich was dahintersteckt, die fühlen sich nun mal bestätigt, wenn wir das mitmachen! Wir denken vielleicht, wir hören nur ein bisschen Musik zusammen und fühlen uns wohl – aber für eine, die daran glaubt, dass durch diese Musik ein Kraft in unser Leben Zugang findet, für die sind wir dann Teil davon, dieser Kraft Raum zu geben. Wir können nicht nur von uns ausgehen – wir müssen immer auch überlegen, was das für die anderen bedeutet und was das mit denen macht! Deswegen sagt Paulus an der Stelle ja auch weiter: ‚Denkt dabei nicht an euch selbst, sondern an die anderen.‘ Wer in dem Fleisch noch Götzenopferfleisch sieht, sollte von Christen gezeigt bekommen, dass dieses ganze Zeug gar nicht nötig ist für das Heil, das Jesus uns zuspricht. Und da geht es schließlich um viel mehr als nur darum, sich ein bisschen wohler zu fühlen! Entweder macht Jesus Chrsitus uns frei oder nicht. Entweder wir trauen auf Gott, oder wir glauben, dass andere Mächte noch Macht über uns haben. Beides geht jedenfalls nicht! “
Jetzt war Beate doch ein bisschen irritiert. Wo war denn jetzt die Grenze zwischen dem entspannten Genießen von materiellen Dingen – sei es Fleisch oder Musik oder sonstwas – und dem Punkt, wo damit ein Glaubenssystem unterstützt wurde, das Menschen bindet an die Wirkungen von unsichtbaren Mächten? Wie groß war der Zusammenhang von den Dingen an sich und dem Glauben an Götter und Mächte dahinter? Wieviel „Götzenopferfleisch“ steckte in den Dingen im Leben? Beate dachte sich einen Götzenopferfleisch-Faktor aus. Von 0 bis 10.
Götzenopferfleisch-Faktor 0 hieß: Völlig unbedenklich. Das Zeug tut einfach gut und alle wissen das.
Götzenopferfleisch-Faktor 10 hieß: Alarm! Aufpassen! Selbst wenn das Zeug eigentlich einfach nur gut tut, könnten andere darin etwas sehen, was auf ihr Leben hohen Einfluss hat und was durch bestimmte Rituale gütig gestimmt werden muss. Also erst überlegen: Mache ich da etwas mit, was jemand anderen darin bestärkt, sich von etwas abhängig zu machen?
Beate fing an, den Dingen in ihrem Leben einen Götzenopferfleisch-Faktor zu geben:
– Schwimmen gehen: Götzenopferfleisch-Faktor 0. Tut gut, Punkt.
– Fleisch essen: Götzenopferfleisch-Faktor 0. Nee, stimmt gar nicht. Ihre Schwester hatte einen Juden geheiratet, die durften nur Fleisch essen, das koscher war. Und die Türkin auf ihrer Arbeit durfte auch nicht einfach alles Fleisch essen. Also Rücksicht nehmen! Und dazu all die „Gläubigen“, die dachten, nur mit Fleisch wäre eine gesunde Ernährung möglich. Oder nur OHNE Fleisch wäre eine gesunde Ernährung möglich. Hei-jei-jei. Von wegen, Fleisch ist einfach Fleisch. Götzenopferfleisch-Faktor mindestens 8!
– Psycho-Therapie. Götzenopferfleisch-Faktor 0, klare Sache. Ist wichtig und befreiend. Wobei – neulich hatte sie in einem Antiquariat in einem Buch gelesen, dass Christen keine Psychotherapie machen dürften. Naja, das Buch war ein paar Jahrzehnte alt. Die Kirche hatte ja auch mal verboten, dass die Welt eine Kugel sei statt eine Scheibe. Also beim besten Willen, auf alles durfte man nun auch keine Rücksicht nehmen. Also: Psycho-Therapie: Götzenopferfleisch-Faktor 0, egal was andere denken mochten!
– Horoskope lesen: 0, ganz klar! Sie und ihre Freundinnen lachten immer , wenn sie sich das in der Frühstückspause gegenseitig vorlasen. Obwohl, auch hier musste Beate zögern. Neulich hatte sie mitbekommen, wie der eine Kollege, der zur Zeit alles dafür tat, den Mann für’s Leben zu finden, Männer mit dem Sternzeichen „Steinbock“ von vorneherein ausschloss. Das würde NIE zusammenpassen, sagte er überzeugt. Naja. Also wohl doch nicht Faktor 0. Für manche schien das Sternzeichen über allem zu stehen, was Menschen aus ihrem Leben machen können. Je nachdem, mit wem sie zu tun hatte, waren Horoskope also ein Lacher oder ein geradezu magischer Lebensführer. Ganz klar: GÖ-Faktor 10.
– Der Heilstein in ihrer Hosentasche. Oh, jetzt msste Beate in sich gehen. Wenn sie ihn mal nicht dabei hatte, war sie ja schon immer etwas in Sorge, ob jetzt irgendwas schief gehen würde. Mit dem Stein fühlte sie sich einfach sicherer. Aber es stimmte ja auch: Steine konnten Wirkungen haben! Wie Musik, Farben, Düfte ja auch. Und wie die eben schon erwähnte Aspirin. Wo war da der Unterschied? Eine Aspirin zu nehmen war unumstritten, ein Stein in der Tasche war esoterisch? Hm. Die einen dachten so, die anderen dachten so: GÖ-Faktor 10.
– Der Traumfänger am Rückspiegel in ihrem Auto. Jetzt musste Beate über sch selber schmunzeln. Ihr war klar, dass andere darin nur ein paar Federn sahen. Sie nicht. GÖF 10.
„Und was ist dann mit manchen Sachen, die Kirchen immer machen? Weihwasser, Marienbilder, Bibellesen?“ Oh, das war gar keine Stimme aus Beates Innerem, das war die Stimme der Beifahrerin: „Was soll daran anders sein? Wenn ‚Götzenopferfleisch‘ nicht automatische, ‚magische‘ Wirkungen hat, warum dann ein Tropfen Wasser oder ein Stück Papier mit Farbe drauf, das das Gesicht einer Frau zeigt, oder ein bisschen Druckerschwärze zwischen Buchdeckeln mit einem Kreuz auf dem Cover? Wenn sowas das Wirken eures Gottes ermöglicht, dann glaubt ihr doch auch an einen direkten Zusammenhang von sichtbaren Dingen und unsichtbaren Wirkungen! Gerade im Christentum strotzt es doch nur so von Verboten, Geboten und irgendwelchen Vorgaben!“
Genau, das hatte Beate vorhin ja auch schon gedacht. Die Frage fand sie berechtigt: Entsprachen die Regeln, die die Kirchen aufgestellt hatten, wirklich einem Glauben an einen Gott, der Menschen in die Freiheit führen wollte? Kam es da nicht genau so drauf an, darauf zu achten, wie andere das sahen? Beate kannte Leute, die dachten, NUR mit Weihwasser kann Gottes Segen bei Menschen ankommen, oder mit Weihwasser würde Gottes Segen quasi AUTOMATISCH bei Menschen ankommen. Es gab Christen, die trugen kleine Heftchen und Bildchen bei sich und verteilten die an andere Menschen, weil nur damit Gott ihr Leben WIRKLICH schützen würde. Andere dachten, dass es Menschen gab, die näher an Gott dran seien als andere – aufgrund ihrer Ausbildung oder ihres Amtes, und dass deren Gebete dann quasi „mehr Gültigkeit“ hätten. Und wie viele dachten, dass man sich oder sein Leben auf-opfern müsse für Gott. Da war er schon wieder, dieser Opfer-Begriff. Heute wurde vielleicht kein Fleisch mehr geopfert – aber auch heute noch gab es Menschen, die davon ausgingen, dass Gott nur dann gütig sei, wenn Gott gütig gestimmt werde. Und um Gott gütig zu stimmen, musste man die „richtigen Gebete“ sprechen und die „richtigen Dinge“ tun und zur „richtigen Beichte“ gehen und zur „richtigen Eucharistie“ und „richtigen Lobpreis“ machen und das „richtige Gefühl“ dabei haben.
War das eine Glaube, in dem alles erlaubt war? Wenn Gott wirklich der Gott der Liebe war, Quelle des Lebens, Kraft der Versöhung und des Friedens, Überwinder von Tod und allen Mächten, die sich dem Leben entgegenstellten – dann glaubte Beate nicht, dass so ein Gott nur unter Einhaltung der richtigen Regeln aktiv war. Somit gäbe es doch auch hier einen Götzenopferfleisch-Faktor, fand sie: Auch hier würden dann doch falsche Vorstellungen von Gott unterstützt, wenn man das mitmachte.
Ach, war das alles kompliziert. Wie gerne würde sie jetzt einfach wieder aus dem Fenster gucken, die Landschaft vorbeiziehen sehen und die angenehme Musik von vorhin hören. Obwohl, so ganz unbefangen war sie da jetzt auch nicht mehr. ‚Schamansiche Heilgesänge’… Wenn Leute wirklich dachten, diese Musik hätte quasi magische Wirkungen?
Wenn da was dran wäre, dann wurde ihr die Musik damit unheimlich. Sie wollte sich nicht irgendwelchen Wirkungen von irgendwelchen Kräften aussetzen, wo sie nicht wusste, was dahinter steckte, und die ihr gar nicht die Freiheit ließen mitzureden, ob sie das wollte der nicht. Dann würde sie die Musik lieber nicht mehr hören wollen.
Und wenn da nix dran war und es Musik war wie jede andere, dann sollte diese Musik auch nicht so überhöht dargestellt werden – dann wäre es vielleicht sinnvoller, andere Musik zu hören, um sich davon klar zu distanzieren und nicht die falschen Annahmen anderer zu unterstützen.
Oder war es damit sogar um so wichtiger, die Musik zu hören, eben um klarzustellen, dass diese Musik eben doch nur eine Musik wie jede andere ist und für einen Christen gar nix dagegen spricht, die angenehme Musik zu genießen wie so viele andere Dingen auch? Gerade UM damit zu zeigen, dass in der Musik an sich nix Böses stecken kann, solange wir es nicht in so einen Zusammenhang stecken?- Aber was war das denn für ein komischer Grund: Etwas tun, nur damit andere mitbekommen, dass man es ruhig tun kann??
Beate seufzte. Plötzlich schien gar nix mehr dafür zu sprechen, diese Musik zu hören. So angenehm die Musik auch gewesen war, so unangenehm war plötzlich der ganze Zusammenhang dazu. Wäre ihr doch bloß nie erzählt worden, dass sie gerade shamanische Heilgesänge gehört hatten… !