Ines-Paul Baumann
1 Kor 11,17-33
Im Jahr 54 nach Christus betrat Mirjam die Gemeinderäume in Korinth und blickte erstaunt um sich. Korinth war eine wilde Stadt, aber nach dem, was Mirjam von den Christen gehört hatte, hatte sie sich unter „Versammlung der Heiligen“ etwas anderes vorgestellt. In allen Ecken saßen ein paar Grüppchen, manche hatten große Mengen Essen vor sich ausgebreitet, waren satt, redeten und lachten laut und waren offensichtlich etwas angetrunken. Hinter Mirjam stürzten zwei ärmlich gekleidete Frauen durch die Tür, sie wirkten abgehetzt, waren viel zu dünn und wirkten schwach und kränkelnd. Mirjam wunderte sich. Von der christlichen Gemeinde hatte sie gehört, dass Arme und Reiche MITEINANDER Gemeinschaft hätten. Das war einer der Gründe, warum sie hierhergekommen war. Es stimmte ja auch, hier waren tatsächlich Arme und Reiche zu sehen, Frauen UND Männer, manche mit jüdischen Hintergrund, andere nicht. Ein bunter Haufen an Menschen und Kulturen. Das gab es fast nie in Korinth, sonst lebten alle getrennt für sich, und Mirjam war beeindruckt. Aber so ganz schien das mit der Gemeinschaft nicht hinzuhauen. Die Wohlhabenden, die nicht arbeiten gehen mussten, hatten offensichtlich früh angefangen, sich einen schönen Tag zu machen. Auf die Ärmeren, die arbeiten gehen mussten, nahmen sie keine Rücksicht. Von draußen war sie das gewohnt, da war das üblich. Alle aßen für sich, je nachdem, was man sich gerade leisten konnte und wann man gerade Zeit hatte. Aber von den Christen hatte sie sich etwas anderes erhofft. War das der angepriesene Zusammenhalt trotz aller Unterschiede? In den Blicken und Gesten von einigen sah Mirjam viel Unsicherheit. – Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe. Ein Mann mit lauter Stimme rief die Versammelten zusammen und fing an, einen Brief vorzulesen:
Paulus, nach dem Willen Gottes vom Messias Jesus als Apostel gerufen, und Sosthenes, der Bruder, an die Gemeinde Gottes in Korinth, an die durch den Messias Jesus geheiligten Menschen, die gerufen wurden, heilig zu leben – und zugleich an alle Menschen überall, die den Namen Jesu Christi anrufen. Er ist ihr und unser Befreier. Unter euch wohne Gnade und Friede von Gott, unserem Ursprung, und von unserem Befreier Jesus Christus.
Diese Worte gefielen Mirjam. Gnade, Friede, der Glaube an einen Befreier – das suchte sie, deswegen war sie hierhergekommen. Sie lauschte weiter:
Euretwegen spreche ich immer wieder Dankgebete zu Gott, weil euch im Messias Jesus die Gnade Gottes geschenkt worden ist. Denn in Christus seid ihr an allem reich geworden, begabt zu jeder Sprache und zu jeder Erkenntnis, ihr bezeugt den Messias und darin beweist ihr zunehmend Stärke. Daher fehlt bei euch keine geistliche Begabung, während ihr auf das Offenbarwerden unseres Befreiers Jesus, des Messias, wartet. Bis zum Ende wird er euch festigen, so dass ihr am Gerichtstag Gottes nicht angeklagt werdet, an dem Jesus Christus, unser Befreier, kommt. Gott ist treu. Durch Gott seid ihr in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus, des Messias, unseres Befreiers, gerufen.
„In die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus berufen.“ Diese Worte berührten Mirjams Herz. Hier ging es endlich mal nicht um Philosophie oder Regeln oder Werte, das hier war etwas völlig Neues! Gemeinschaft mit Gott! Mirjam war begierig, mehr zu erfahren.
Ich bitte euch, Geschwister, denkt an den Namen Jesu, des Messias und Befreiers, und sprecht mit einer Stimme; lasst keine Risse zwischen euch entstehen, haltet einander in gemeinsamem Geist und gemeinsamer Überzeugung fest. Die Sklavinnen und Sklaven der Chloe haben mir von euch berichtet, meine Geschwister, dass es bei euch Streit gibt.Damit meine ich, dass alle ihre Unterschiede betonen: Jch gehöre zur Paulusgruppe, ich zur Apollosgruppe, ich zur Kephasgruppe, ich zur Messiasgruppe. Ist Christus teilbar?
Oh ja, das erklärte den komischen Eindruck, den Mirjam von dieser Gruppe hatte. Sie war erleichtert, dass der Schreiber des Briefes – wie war doch gleich sein Name, Paulus oder so? – das so offen aussprach. Wenigstens wurden Konflikte hier nicht einfach totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt. Mirjam entspannte sich. Es war zwar irgendwie enttäuschend, dass es hier so menschelte, aber doch auch ein wenig befreiend. Immerhin waren es genau diese so unvollkommenen Menschen, die in dem Brief als „Heilige“ angesprochen worden waren. Ihren Status als Heilige konnten sie also nicht deswegen haben, weil sie alle so perfekt wären. In Mirjam keimte die Hoffnung auf, auch sie würde zu diesen Heiligen dazugehören können. Bisher war sie immer an sich gescheitert. Sie fühlte sich viel zu menschlich, als dass sie es gewagt hätte, sich als „Heilig“ zu bezeichnen oder gar einem Gott zu nähern. Dieser unvollkommene Haufen um sie herum hatte damit offensichtlich andere Erfahrungen. Was steckte da dahinter? Mirjam wollte mehr erfahren und beeilte sich, wieder zuzuhören:
Deshalb hat Gott es den Glaubenden geschenkt, sie durch die Einfalt der Verkündigung zu retten. Es gibt jüdische Menschen, die Zeichen Gottes erwarten, und griechische Menschen, die Weisheit suchen; doch wir verkündigen den gekreuzigten Messias. Manchen jüdischen Menschen ist das ein Ärgernis, manche aus den Völkern sehen darin eine Dummheit. Denen, die von Gott gerufen werden, ob jüdische oder nichtjüdische Menschen, verkörpert der Messias göttliche Macht und göttliche Weisheit. Denn die Einfalt Gottes ist weiser als die Menschen, und Gottes Schwachheit ist stärker als die Menschen. Seht doch eure Berufung an, Geschwister: Es sind nämlich nicht viele Weise von ihrer Herkunft her, nicht viele Mächtige, nicht viele aus den Elitefamilien unter euch. Vielmehr hat Gott die Ungebildeten der Welt erwählt, um die Weisen zu beschämen; und die Schwachen der Welt hat Gott erwählt, um die Starken zu beschämen. Und die Geringen und die Verachteten der Welt hat Gott erwählt, die nichts gelten, um denen, die etwas sind, die Macht zu nehmen. Das geschieht, damit sich kein Mensch aufgrund von Wohlstand und Erfolg von Gott unabhängig wähnt, dennn durch Gott seid ihr mit dem Messias Jesus verbunden, der uns von Gott her zur Weisheit geworden ist, und zur Gerechtigung und Heiligung und Befreiung.
In der Tat, der Briefeschreiber schien die Menschen hier gut zu kennen: nicht viele Weise, nicht viele Mächtige, nicht viele aus den Elitefamilien! Und das war offensichtlich kein Zufall! Hier ging es also endlich mal NICHT um Bildung, Macht oder Herkunft. Der einzige, der hier groß sein sollte, war anscheinend dieser Jesus! Um ihn ging es ja nun dauernd. Was hatte es mit dieser Zusammenkunft hier also auf sich? Der Mann las weiter aus dem Brief vor:
Folgendes habe ich euch zu sagen: Ich kann es nicht loben, dass ihr zum Schaden, nicht zum Nutzen zusammenkommt. Erstens nämlich – so höre ich – gibt es Spaltungen unter euch, wenn ihr in der Gemeindeversammlung zusammenkommt, und zum Teil glaube ich es. Denn es muss ja wohl unter euch unterschiedliche Verhaltensweisen geben, damit sich herausstellt, wer sich unter euch bewährt. Wenn ihr also an einem Ort zusammenkommt, dann esst ihr in Wahrheit das Mahl nicht als Gemeinschaft derer, die zu Christus gehören. Denn alle essen nur ihre private Mahlzeit, so dass manche hungern und andere betrunken sind. Habt ihr denn keine Häuser, um zu essen und zu trinken? Oder verachtet ihr die Gemeinde Gottes und demütigt die Besitzlosen? Was soll ich euch sagen? Soll ich euch loben? In dieser Sache kann ich nicht loben! Denn ich habe von unserem Befreier empfangen, was ich euch weitergegeben habe, nämlich: In der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, nahm der. dem wir angehören, Jesus, das Brot. Er sprach den Segen, brach das Brot und sagte: „So ist mein Leib für euch; das tut zur Erinnerung an mich.“ Nachdem die Mahlzeit beendet war, nahm er ebenso den Becher mit den Worten: „Der neue Bund durch mein Blut ist mit diesem Becher da. Das tut, sooft ihr trinkt, zur Erinnerung an mich“. Denn: Immer wenn ihr dieses Brot esst und aus dem Becher trinkt, verkündet ihr den Tod des Befreiers, bis er selbst kommt. Daraus folgt: Wer auf unsolidarische Weise das Brot isst oder aus dem Becher des Befreiers trinkt, wird an seinem Leib und Blut schuldig. Jede Frau und jeder Mann soll sich in dieser Hinsicht bewähren und so vom Brot essen und aus dem Becher trinken. Alle, die beim Essen und Trinken dem Leib Christi nicht gerecht werden, die ziehen sich durch ihr Essen und Trinken das Gericht zu. Deshalb sind bei euch viele unsicher oder krank geworden und manche schon gestorben. Wenn wir uns danach richteten, würden wir nicht gerichtet. Wenn ‚die’Ewige“ uns richtet, werden wir erzogen, damit wir nicht mit der Welt endgültig gerichtet werden. Deshalb, meine Geschwister, wenn ihr euch versammelt, um gemeinsam zu essen, nehmt einander an.
Mirjam war baff. Diese Gedanken waren ihr völlig neu. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie ein Mensch gerecht sein könne vor Gott. Was sie erfüllen müsse, um vor Gott bestehen zu können. Wann wäre sie würdig genug? Bisher hatte sie sich bei dieser Frage immer nur um sich selber gedreht. MEINE Taten, MEINE Gedanken, MEINE Haltungen, MEINE Grenzen, ICH ICH ICH. Mirjam hatte schon immer Probleme damit gehabt, sich für Gott „gut genug“ zu fühlen. Gott war heilig, Gott war vollkommen, wie konnte sie es da wagen, sich als würdig zu betrachten! Hier erlebte Mirjam etwas völlig anderes: Was DIESE Menschen hier würdig machte, war ihr Umgang mit einander. DAS schien im Zentrum dessen zu stehen, was dieser Jesus wollte: Gemeinschaft nicht nur mit Gott selber, sondern auch untereinander.
Mirjam schämte sich ein bisschen, sie fühlte sich plötzlich sehr egozentrisch damit, dass sie sich immer nur um sich selber gedreht hatte. Das war ihr bisher gar nicht so aufgefallen. Erst jetzt, wo sie etwas anderes kennenlernte, wurde ihr das so deutlich. Bisher hatte sie immer gedacht, sie müsste erst das und das tun, sie müsste erst bestimmte Voraussetzungen erfüllen. SIE muss sich Schritt für Schritt verändern, DANN kann sie sich Schrott für Schritt dem Vollkommenen nähern. Hier erlebte sie das Gegenteil: Im Abglanz des VOLLKOMMENEN erkannte sie das Unvollkommene. Im Abglanz dessen, wie es RICHTIG war, erkannte sie das, was falsch war. Ja, es fiel ihr nicht nur leicht, das zu erkennen, sondern es war sogar leicht und befreiend, das auch zuzugeben. Genau MIT diesem Gott, der sie annahmn und befreite, fiel es ihr nicht nur leicht zu erkennen, wo sie davon abgewichen war, sondern es fiel ihr auch leicht, das sich und anderen einzugestehen – gar nicht als Voraussetzung zur Teilhabe an der Gemeinschaft mit den anderen und mit Gott, sondern als Folge aus dieser Gemeinschaft. Wahrscheinlich konnten auch die Menschen um sie herum deswegen so offen mit dem umgehen, was bei ihnen falsch lief. Dass sie mit ihrem Mahl eben nicht SO umgingen, wie sich Jesus das vorstellte. Auch sie wurden ja in der Gemeinschaft mit Gott dazu in die Lage versetzt, das zu erkennen und es besser zu machen.
Um so wichtiger war es natürlich auch, dieses Mahl dann tatsächlich an dem auszurichten, wie es richtig sein sollte, und sich nicht mit dem zufriedenzugeben, wo das nicht so war. Statt wie bei einem Picknick Grüppchen getrennt herumsaßen, sondern alle zusammen das Mahl einnahmen. Das eben NICHT Leute ausgeschlossen wurden, sondern dass diese Gemeinschaft offen war und ALLEN die Gelegenheit gab, an dem Mahl teilzunehmen. Ein Mahl, in dem spürbar wurde, dass es darum ging, sich mit allen anderen in die Gemeinschaft zu begeben, die Gott wollte und verwirklichte. Ein Mahl, bei dem Wohlstand, Bildung, Herkunft, Weisheit und Würde eben nicht Menschen voneinander trennen können, weil es auf den eigenen Wohlstand, die eigene Bildung oder sonst was Würdiges ja gar nicht ankam. Wie hatte dieser Paulus gesagt? „BEIM Essen und Trinken dem Leib Christi gerecht werden“ – also nicht erst gerecht sein, und DANN das Mahl zu sich nehmen, sondern DURCH das Mahl, DURCH die Gemeinschaft mit Jesus, gerecht werden.
Mirjam wurde schwindlig: Das, was sie bisher als das Wichtigste zur Lösung aller Probleme erachtet hatte – nämlich die Frage, ob sie würdig genung war, wurde plötzlich Teil des Problems: Sie dachte damit ja nur über sich nach, statt die Menschen neben sich mit in den Blick zu nehmen. Ob sie der Gemeinschaft Gottes würdig war, war ab heute nicht mehr ihre individuelle Angelegenheit, sondern ein Sache der Gruppe, der Gemeinschaft, des Miteinanders.
Sie blickte um sich. Sie versuchte, die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Diese Menschen, von denen viele so offenkundig nicht zu den Weisen, Mächtigen und Eliten gehörten. Die ebenso wenig wie sie würdig waren duch das, was sie mitbrachten, sondern allein durch ihren Glauben, ihr Vertrauen und ihr Einverständinis mit den Vorstellungen dieses Jesus Christus, der eine andere Gemeinschaft unter ihnen verwirklichen wollte und ermöglichte. Nicht FÜR Gott musste sie frei, würdig, heil und heilig sein – sondern in Gott fand sie Befreiung, Würde, Heil und Heiligkeit.
Mirjam konnte es gar nicht erwarten, an diesem Mahl teilzunehmen und sich damit in diese Gemeinschaft einzureihen, die Gemeinschaft mit Gott, mit anderen und das erste Mal in ihrem Leben auf eine befreite und erlöste Weise auch mit sich selbst. SO versöhnt hatte sie sich mit Gott, mit ihren Mitmenschen und mit sich selbst noch nie gefühlt.