Predigtimpuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
4. Juni 2023
Jesaja 6,1-8
„Die Konsequenz unseres Lebensstils führt uns in die Katastrophe.“ Jesaja konfrontiert seine Gesellschaft mit der Realität. Dem vorangegangen ist ein Eindruck der Gegenwart G*ttes, ein heiliger Moment. Dieser Aus-Blick führte bei ihm zu der Ein-Sicht: Ich kann nicht mehr einfach so mitmachen beim einfach-so-Weitermachen. Er geht nicht mehr konform, er wendet sich ab und wendet sich gegen zerstörerische Normalisierungen und unterdrückende Mächte seiner Zeit. Dass er seinen Mund nun so offen für die Wahrheit aufmachen kann, hat er einem himmlischen Wesen zu verdanken: Einer der Serafim wählte die genau für ihn passende glühende Kohle aus und berührte damit seine Lippen. Wir werden heute nicht mit glühenden Kohlen hantieren. Aber mit den Spuren, die sie hinterlassen, wollen wir uns sehr wohl beschäftigen. Und uns ganz Serafim-like aus der Bibel herauspicken, was für uns heilsam ist.
1 Im Todesjahr des Königs Usija, da sah ich den Herrn auf einem hohen und erhabenen Thron sitzen und die Säume seines Gewandes füllten den Tempel aus. 2 Serafim standen über ihm. Sechs Flügel hatte jeder: Mit zwei Flügeln bedeckte er sein Gesicht, mit zwei bedeckte er seine Füße und mit zwei flog er.[1] 3 Und einer rief dem anderen zu und sagte: Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen. / Erfüllt ist die ganze Erde von seiner Herrlichkeit. 4 Und es erbebten die Türzapfen in den Schwellen vor der Stimme des Rufenden und das Haus füllte sich mit Rauch. 5 Da sagte ich: Weh mir, denn ich bin verloren. Denn ein Mann unreiner Lippen bin ich und mitten in einem Volk unreiner Lippen wohne ich, denn den König, den HERRN der Heerscharen, haben meine Augen gesehen.[2] 6 Da flog einer der Serafim zu mir und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte. 7 Er berührte damit meinen Mund und sagte: Siehe, dies hat deine Lippen berührt, so ist deine Schuld gewichen / und deine Sünde gesühnt. 8 Da hörte ich die Stimme des Herrn, der sagte: Wen soll ich senden? Wer wird für uns gehen? Ich sagte: Hier bin ich, sende mich! 9 Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: / Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. / Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. 10 Verfette das Herz dieses Volkes, / mach schwer seine Ohren, / verkleb seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht, / mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt / und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft. 11 Da sagte ich: Wie lange, Herr? / Er sagte: Bis die Städte verödet sind und unbewohnt, / die Häuser menschenleer, / bis das Ackerland zur Wüste verödet ist. 12 Der HERR wird / die Menschen entfernen, / sodass die Verlassenheit groß ist inmitten des Landes. 13 Bleibt darin noch ein Zehntel, / so soll es erneut abgeweidet werden, wie bei einer Eiche oder Terebinthe, / von denen beim Fällen nur ein Stumpf bleibt. Heiliger Same ist sein Stumpf.
Jesaja 6,1-13
Einheitsübersetzung 2016
Wie wenig hat dieser Bibelabschnitt mit manch Frohen Botschaften von Erweckungspredigten gemein!
Was Jesaja da vor seinem inneren Auge sieht an Heiligkeit und Vollkommenheit, ist in Wirklichkeit weit weg von der Realität. Die Kapitel vorher machen das deutlich (nicht umsonst steht der Beginn von Jesajas Dienst erst im sechsten Kapitel – die Kapitel davor sind wichtig, um das richtig einordnen zu können): Die ganze Erde ist eben nicht erfüllt von Gottes Herrlichkeit, wie die Serafim in Vers 3 singen. Unrecht geschieht. Religiöse Gebräuche sind so sinnentleert, dass sie Gott nur noch auf die Nerven gehen. Die Ungerechtigkeit und das Schielen auf Machtoptionen sind so weit fortgeschritten, dass es zur Katastrophe kommen wird. Statt mit Gott im Bunde zu sein, liebäugelt das Volk mit Bündnispartnern, die es früher zu seinen Feinden gezählt hatte. (Woraufhin Gott diese prompt zu SEINEN Bündnispartnern macht. Dieser Move im Gottesbild ist einer der theologischen Umbrüche dieser Zeit: Aus Gottes Feinden werden Gottes Instrumente. Karen Armstrong schildert das sehr schön in ihrem Buch, s. S. 80.)
Die Predigten des Jesaja werden dementsprechend eher wie das Gegenteil einer Frohen Botschaft klingen. Der Gott, der zu Jesaja spricht, wirkt fast frustriert-trübsinnig, und nicht mal die Umkehr zu Gott wird zu erlöst-beseelten Gläubigen führen, die sich an innerem Frieden laben. Jesaja selbst ist der erste, den das betrifft: Seine Gottesbegegnung führt nicht zu Erleuchtung oder zu Wissen, sondern zu Taten (Karen Armstrong, S. 79).
Dennoch (oder genau deswegen) glaube ich, dass Jesaja hier etwas erlebt, was durchaus charakteristisch für einen Glauben biblischer Dimensionen ist. Jesaja ist nicht der Erste und nicht der Einzige, bei dem zu beobachten ist: Glaube ist eben nicht gleichbedeutend damit, sich gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu mehr Gerechtigkeit in den Weg zu stellen. Sondern im Gegenteil: Glaube führt hier zu einem kritischen und schonungslosen Blick auf destruktive Strukturen und Handlungen. Unrecht, Ungerechtigkeiten, Machtverhältnisse, Ausgrenzung, Diskriminierung, Missachtung (von sich selbst, anderen und der Schöpfung): Mag all das auch gang und gäbe sein, im Horizont des glaubenden Blicks verliert es seine Selbstverständlichkeit, Anziehungskraft und Macht.
Gerade die Erkenntnis, dass es auf Erden nicht so zugeht wie es möglich wäre, wird dabei zum entscheidenden Faktor. Was Jesaja zu sehen bekommt – sein Einblick in eine Welt voller Gottesgegenwart – wird zum neuen Maßstab von allem, was er auf Erden sieht. Und das wirft ein ganz anderes Licht auf das Handeln der Menschen. Was bisher normal war, erscheint Jesaja nun unvernünftig und untragbar. Es gibt viele Bereiche, auf die wir das in unserer heutigen Zeit beziehen können: Rassismus, Klima-Ignoranz, Umgang mit Geflüchteten, Wachstumswirtschaft, Antifeminismus, …
Die Umkehr fängt bei Jesaja selbst an. Angesichts seiner Gottesvision fällt ihm auf, wie sehr er selbst Teil dieser Welt ist, die dem nicht entspricht. Er erkennt und bekennt sich als Teil des Systems, das in den Abgrund steuert. Je klarer ist, dass und wie es besser laufen könnte, desto unerträglicher wird der Ist-Zustand.
Jesaja erlebt einen Bruch zu seiner Teilhabe daran und zu jedem Hinnehmen dessen als vermeintliche „Normalität“. Nach Jahrzehnten politischer „Sachzwänge“ haben sich auch heute manche offenbar gut darin eingerichtet, dass es „halt nicht anders geht“. Jesaja kann sich nicht mehr auf so eine Position zurückziehen. Für ihn ist das kein Gewinn mehr, sondern Weh und Verlorenheit. (Vers 5)
Nun passiert etwas Wunderschönes. Einer der Serafim, also ein Wesen aus der unmittelbaren Gegenwart Gottes, wählt eine glühende Kohle aus und berührt damit Jesajas Lippen. Die ganzen Verstrickungen Jesajas in die Fehlentwicklungen seiner Zeit verlieren ihre Kraft über ihn. Mitmachen, Schuld und Konformität verlieren ihren lähmenden Zugriff, halten ihn nicht mehr auf der Anklagebank fest. Sein Fokus verbleibt nicht bei einer selbstanklagend-abwehrenden Form von White Fragility. Jesaja fängt nicht an, sich in Untätigkeit einzurichten oder zu beklagen, dass es doch „schon immer so war“ und es „doch alle so machen“ (auch wenn das stimmt). Stattdessen übernimmt Jesaja nun Verantwortung, wird zum Ally, macht den Mund auf. Mit seinem Blick auf G*tt wird er vom Konformisten zum Aktivisten.
Mögen wir auch noch so lange in Postkolonialismus aufgewachsen und davon geprägt worden sein, möge unser ökologischer Fußabdruck noch so riesig sein, mögen wir hetero- und cisnormative Bilder noch so sehr verinnerlicht haben – das ist keine Ausrede, sich nicht auf den Weg zu machen und es anders zu machen. Jesaja unterstellt sich dem nicht mehr. Seit der Berührung des Seraphen hört Jesaja auf die Stimme G*ttes, und die zeigt ihm andere Sichtweisen und andere Wege.
Bei mir wirft das einige Fragen auf:
- Wer ist der Seraph, der für mich findet, was ich heute brauche? Habe ich Wesen um mich, die Unterstützendes, Befreiendes, Heilendes mitbringen, als kämen sie geradezu unmittelbar aus Gottes Gegenwart?
- Was ist mein persönliches Stück glühende Kohle, das mich berührt, das mich freisetzt? Auf welchen (damals Brandopfer-)Altaren liegen die Kohlen herum, die angeblich Gott geopfert gehören – die Gott aber vielleicht viel weniger braucht als ich gerade? Wenn ich ein Stückchen von all den Gaben herauspicken könnte – was wäre das, und wo soll es mich berühren, heilen, verändern?
- Oder bin ich zusammen mit anderen in der MCC nicht manchmal auch schon wie die Serafim? Dass wir uns ganz Serafim-like aus der Bibel herauspicken, was heilsam ist, was berührt, was verändert? (Timothy Koch in: „Isaiah“, Queer Bible Commentary S. 371ff)
Der Fortgang von Jesajas Gottesbegegnung zeigt: Es wird nicht unbedingt alles gut und einfach. Vielleicht wird es erst mal anstrengender. Vielleicht werden wir das Gefühl haben, gegen Wände zu reden. Vielleicht wird es gesellschaftlich erst mal weiter bergab gehen. Gottesbegegnung dient bei Jesaja nicht dazu, dieser Realität den Rücken zuzukehren. Jesaja wird sich und andere ab hier unablässig mit der Realität konfrontieren. Aber Maßstab für diese Realität wird für ihn nun nicht mehr sein, wie es immer war oder derzeit ist (auch wenn das noch so übermächtig und machtvoll wirkt), sondern Maßstab wird ab jetzt sein, wo es hingehen soll.
Mehr lesen?
- Karen Armstrong: „Die Geschichte von Gott. 4000 Jahre Judentum, Christentum und Islam“, München 2012, Pattloch Verlag (hier: ab Seite 76)
- Timothy Koch: „Isaiah“, in: „The Queer Bible Commentary“, London 2006, SCM Press (hier: ab Seite 371)