Predigt MCC Köln, 13. Okt. 2013
Ines-Paul Baumann
Lk 17,11-19: „Die zehn Aussätzigen / Der dankbare Samariter“
Jakobus war sich unsicher, ob er das jetzt sagen durfte. Vielleicht durfte er es nicht mal denken – aber was sollte er machen, da dieser Gedanke nun mal in ihm aufgetaucht war. „I Don’t Like!“ durchfuhr es ihn in dem Augenblick, als er die Zehn hatte näherkommen sehen.
Ihre Krankheit war ihnen von weitem anzusehen, hatte sich nicht nur in ihre Körper eingeschrieben, sondern auch in ihre Haltung, ihren Gang, ihren Blick – alles an ihnen war ein stummes Zeugnis des Leids, der Schwäche, der Ausgrenzung, der Erniedrigung, der Demütigung, der Verachtung. Kein Wunder, dass niemand mit ihnen zu tun haben wollte. Die Angst vor Ansteckung war nur ein Teil davon; die Ausstrahlung dieser traurigen Gestalten reichte schon, um nicht mit ihnen zusammensein zu wollen.
„Guck mal, da kommen wieder ein paar Kranke zu Jesus“, sagte er so neutral wie möglich zu Philippus.
Jakobus und Philippus hatten es sich unter einem Baum gemütlich gemacht. Die Wanderung mit Jesus durch Samarien und Galiläa zog sich hin, und sie genossen die kleine Pause.
Jakobus erhob sich etwas und wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Rufe kamen. „Naja, Jesus wird sie sicher heilen!“, sagte er und lehnte sich ganz entspannt wieder zurück.
Von der Gelassenheit, mit der Jakobus das zu sehen schien, fühlte Philippus sich nicht gerade ermutigt, seine wahren Gedanken mit ihm zu teilen. Er wusste ja, dass er die Kranken eigentlich auch willkommen heißen musste. Er könnte sich doch freuen, wenn sie zu Jesus kamen und ihnen Heil widerfuhr.
Aber irgendwie hatte Philippus sich die Sache doch etwas anders vorgestellt. Er war davon ausgegangen, dass sie auszogen, die Welt zu retten. Raus aus den ganzen ungesunden Strukturen und unterdrückenden Mächten! Er wollte raus aus dem Unheil! Aber in der kurzen Zeit, seit er sich Jesus angeschlossen hatte, hatte er schon mehr Unheil gesehen als in seinem gesamten Leben davor.
Vielleicht hätte er sich doch besser den Zeloten anschließen sollen. Diese Aufständischen taten wenigstens etwas! Sie wehrten sich und leisteten Widerstand, wollten real etwas verändern – und nicht nur hier und da ein paar Leute heilen und das Reich Gottes verkündigen. Friede, Vergebung, Versöhnung, Heil, das war a alles schön und gut, aber veränderte Jesus damit wirklich etwas?
Oder er hätte sich Johannes dem Täufer in der Wüste anschließen sollen. Mit Askese und Ritualen dem ganzen Stress entfliehen, sich selbst genug sein, nur die Natur um sich herum und ein paar Gleichgesinnte. Weit weg von den Problemen der Welt. Aber Jesus schien die Probleme und die Problematischen ja eher anzuziehen!
Wenn er sich schon nicht traute, seine Gedanken mit Jakobus zu teilen, so wollte er ihm plötzlich wenigstens widersprechen. Anderer Meinung sein, diesen Frieden aufrütteln. Beinahe trotzig sagte er: „Vielleicht heilt Jesus sie dieses Mal NICHT.“
Es fühlte sich gut an, das gesagt zu haben. Wie mutig er doch war, so etwas zu denken und in den Raum zu stellen! Herausfordernd blickte er zu Jakobus herüber.
Jakobus sah ihn erstaunt an. „Quatsch! Warum sollte er sie dieses Mal nicht heilen?“
Was war das denn für eine Begründung? Philippus fühlte sich beflügelt, seinen Scharfsinn unter Beweis zu stellen. „Warum SOLLTE er sie immer alle heilen? Nur aus Gewohnheit? Er kann sich doch nicht immer dem Willen der Menschen unterwerfen. Was haben diese zehn Aussätzigen bisher dafür getan, aus ihrem Elend herauszukommen? Den ganzen Tag betteln sie und leben auf Kosten anderer. Allen fallen sie zur Last. Vielleicht erteilt ihnen Jesus mal eine Lektion!“
Jakobus traute seinen Ohren nicht. „Wie SOLLEN sie denn bitte schön arbeiten gehen? Wer traut sich denn überhaupt, ihre Anwesenheit und ihren Anblick auszuhalten? Es sind doch alle froh, wenn sie nichts mit ihnen zu tun haben müssen. Natürlich heilt Jesus sie!“
„Nein, tut er nicht!“, entgegnete Philippus starrsinnig. Zum Zurückrudern war es zu spät.
Gespannt blickten die beiden zu Jesus und den zehn Aussätzigen herüber. Von ihrem Platz unter dem Baum aus sahen sie, wie Jesus mit den Kranken ein paar Worte wechselte. Anschließend drehten sich die Zehn alle um und gingen wieder – genau so, wie sie gekommen waren.
„Siehst du!“, rief Philippus triumphierend, „dieses Mal hat er sie NICHT geheilt!“
Jakobus schüttelte den Kopf. „Ganz sicher hat er sie geheilt.“
„Aber du hast es doch selber gesehen!“, setzte Philippus nach. „Als sie gingen, sahen sie noch genau so schlimm aus wie bei ihrer Ankunft. Voller Aussatz überall!“
„Trotzdem hat er sie geheilt, ganz sicher!“, wiederholte Jakobus. „Nur weil wir nicht direkt eine Verbesserung sehen können, heißt das doch nicht, dass Jesus untätig war. Vielleicht können wir noch keine Veränderung erkennen, aber Jesus hat ihnen Heil geschenkt, das glaube ich fest.“
Philippus konnte nur den Kopf schütteln. Was Jakobus da sagte, ermangelte jeden Beweises. Die Begegnung mit Jesus war für die Kranken ohne Auswirkung gewesen. Alle hatten das sehen können.
Um so mehr wunderte es ihn, dass sie so schnell Ruhe gegeben hatten. Eben hatten sie noch so einen Lärm gemacht, und nun waren sie still und zogen davon? Komisch. Aber was soll’s, er war ja froh, dass sie so schnell wieder weg waren! Mit Jesus alleine und geborgen in ihrer kleinen Gruppe fühlte er sich am wohlsten.
Er fand es schwierig, dass immer wieder Leute dazukamen, die er gar nicht kannte. Es brachte alles durcheinander. Und meistens waren sie auf Jesus fixiert. Dem galt immer alle Aufmerksamkeit. Und wer beachtete IHN? OK, Jesus war immer nett zu ihm! Die anderen Jünger auch oft (allerdings bei weitem nicht so wie Jesus, fiel ihm da auf). Aber mit unbekannten Gesichtern war es am schlimmsten. Wie oft übersahen sie ihn einfach! Gut, dass die Zehn wieder weg waren, jetzt waren sie wieder unter sich!
Warum konnte sich Jesus nicht mal irgendwo mit ihnen niederlassen, ihnen schöne Dinge von Gott erzählen und die Welt da draußen mal sich allein überlassen?
Plötzlich sah Philippus einen der zehn Aussätzigen zurückkommen. Er traute seinen Augen nicht. Was sollte das denn jetzt? Hatte Jesus sie nicht eben noch weggeschickt? Philippus kniff die Augen zusammen und schaute nochmal genau hin. Ach, es war doch keiner der Aussätzigen. Der Mann da hinten sah völlig gesund aus, er strahlte geradezu von innen.
„Puh!“, entfuhr es Philippus. „Was denn?“, schreckte Jakobus aus dem Halbschlaf auf. „Ach nichts“, beruhigte Philippus. „Ich dachte nur, einer von den Aussätzigen würde uns nochmal nerven. Aber der Typ da hinten sieht ganz fit und sympathisch aus. Wahrscheinlich interessiert der sich gar nicht für Jesus.“
Jakobus hatte eine andere Idee. „Oder der will sich uns anschließen! Der wär doch eine prima Verstärkung! Wenn wir ein paar mehr wären, könnten wir bestimmt noch viel mehr reißen! Guck mal, was für eine Entschlossenheit der ausstrahlt und was für eine Power von diesem Typen ausgeht!“
Die beiden sahen zu, wie der Typ näher kam. Plötzlich dachten sie das gleiche und trauten sich beide nicht, es auszusprechen. Aber doch, es gab keinen Zweifel: Dieser anziehende, sympathische, attraktive Mann WAR einer von den Aussätzigen gewesen! Er war kaum wiederzuerkennen, aber er war es, ganz eindeutig. Die Veränderung war frappierend. Wer ihn vorher nicht gekannt hatte, konnte sich kein Bild davon machen, was für eine Vergangenheit dieser Mensch hinter sich hatte.
Während der Mann näher kam, hörten sie, wie er mit lauter Stimme Gott lobte. Bei Jesus angekommen warf er sich vor ihm zu Boden und dankte ihm. Philippus und Jakobus sahen sich an. Philippus zog fragend eine Augenbraue hoch. Jakobus zog die Augenbrauen zusammen und runzelte dabei die Stirn.
„Frag mich nicht!“, sagte Jakobus. „An seiner Stelle würde ich nirgendwo mehr hin gehen, wo jemand meine Vergangenheit kennt. Ich würde einen ganz neuen Anfang machen. Wo mich die Menschen so sehen, wie ich heute bin – und nicht so, wie ich früher war. Wo keiner ahnt, was ich mit mir herumschleppe. Ich würde sogar meinen Namen ändern, wenn es sein muss. Hauptsache, nichts erinnert an das, was ich früher mal war. Nun bin ich endlich der Mensch, der ich wirklich bin! Da würde das Vergangene doch nur zu Missverständnissen führen. Ist doch völlig unwichtig, was früher mal war. Gut, dass es vorbei ist!“
Philippus nickte mit dem Kopf ein paar Mal langsam auf und ab. „Mhm. Vielleicht haben das die anderen neun auch so gesehen. Vielleicht sind sie deswegen nicht wiedergekommen. Vielleicht wollten sie sich von Jesus nicht an ihre Vergangenheit erinnern lassen – er hatte sie schließlich noch so gesehen, wie sie früher waren. Aber glaubst du, dass auch sie so ihr Heil gefunden haben wie der hier?
Stell dir mal vor, du musst immer davor auf der Hut sein, dass jemand von deiner Vergangenheit erfährt. Musst immer aufpassen, was du erzählst von früher. Was ist, wenn dich mal jemand kennenlernt und wissen will, wie du früher warst? Oder deine Eltern kennenlernen will? Immer müssten alle aufpassen, was sie gerade erzählen dürfen und was nicht. In jedem Gespräch lauern Tretminen. Bloß nix Falsches sagen!
Und was ist mit deinen Erinnerungen und mit deinen Erfahrungen? Willst du das alles vergessen und zur Seite legen? Du kannst doch nicht so tun, als hätte es dich vor deiner Heilung nicht gegeben. Vielleicht warst du krank und unglücklich, vielleicht hattest du mit Leuten Umgang, von denen sonst keiner was wissen will, aber willst du jetzt so tun, als hättest du das nie erlebt? Glaubst du, dass es wahre Versöhnung geben kann ohne Versöhnung mit deiner Vergangenheit?“
Wolken zogen an ihnen vorüber. Ihre Gedanken zogen dahin.
„Glaubst du, dass Jesus ihm aufgetragen hat, hierher zurück zu kommen und vor ihm niederzufallen und ihm zu danken und Gott zu loben?“, fragte Jakobus nach einer Weile.
„Nein. Sonst wären die anderen neun vielleicht auch gekommen, wenn das Teil ihres Deals mit Jesus gewesen wäre. Diese Dankbarkeit und dieses Gotteslob können sich nicht unter Druck entwickeln. Das kann nicht von außen herbeigeführt werden. Nicht mal von Jesus.“
„Du meinst, diese Dankbarkeit und dieses Gotteslob können nur aus uns selbst heraus geschehen?“
„Ja. Diese Antwort auf Gott kann nur aus dir selbst heraus kommen.“
Und nach einer lange Pause fügte er hinzu: „Aber selbst jetzt, wo der eine hier ist, wird Jesus nicht aufhören, nach denen zu fragen, die NICHT hier sind. Auch wenn sie aus unserer Sicht gar nicht da sind – Jesus ist mit ihnen verbunden.“
… und wir entzünden die Gemeindekerze für die übrigen neun, die heute nicht hier sein können oder wollen:
für die neun, die von Kirche enttäuscht sind,
für die neun, die sich heute nicht außer Haus trauen,
für die neun, die vor Lampedusa ertrunken sind,
für die neun, die durchgekommen sind und in Europa auf eine bessere Existenz hoffen,
für die neun, die es in diesem Leben nicht mehr ausgehalten haben,
für die neun, die nie erfahren haben, dass Gott sie liebt,
für die neun, die unterwegs sind,
für die neun, die arbeiten müssen,
für die neun, die krank sind,
für die neun, die woanders Gottesdienst feiern,
für die neun vergessenen und ungenannten…
Wo auch immer sie sind und was auch immer sie gerade machen: Gott ist bei ihnen, und wir sind mit ihnen verbunden.