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Sind Redeverbote von Jesus etwa besser als Redeverbote von Kirchen?

Predigt MCC Köln, 8. Okt. 2017
Ines-Paul Baumann

Markus 9,17-27 (im Licht von Markus 1,40-45)

Kirche und Redeverbote, das ist keine heilvolle Geschichte. Kirche hat Menschen viel zu oft mundtot gemacht. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse werden verschwiegen. Oder Homosexuelle im Klerus. Oder wie schön einvernehmlicher Sex unter Erwachsenen sein kann, auch wenn er nicht der Fortpflanzung dient (und auch der soll bitte schön einvernehmlich sein und Spaß machen dürfen). Und Opfer von Missbrauch, die davon erzählen wollen und können, dürfen schon gar nicht zum Schweigen angehalten werden.

Daniel hat in seiner letzten Predigt vor zwei Wochen schön herausgearbeitet, wie Jesus den Aussätzigen erst berührt und heilt, ihn dann sofort wegschickt und ihm verbietet, auch nur irgendjemandem davon zu erzählen – und wie der Aussätzige sich dann mal so gar nicht an das hält, was Jesus ihm gebietet. Die Berührung durch Jesu Hand war für ihn viel maßgeblicher als Jesu Worte. Aus Sicht von Christen hat sich der Geheilte also immerhin dem Wort Gottes widersetzt. Ein starkes Stück.

Dann habe ich mich aber irgendwann gefragt: Woher wusste denn Markus (nennen wir den Verfasser des Markus-Evangeliums jetzt mal so) von dem, was Jesus und der Aussätzige besprochen hatten? Ist der vormals Aussätzige durch die Gegend gelaufen und hat erzählt: „Da war ein Mann, der hat mich berührt, aber er hat gesagt, dass ich niemandem davon erzählen darf!“?

Angenommen, eines meiner Kinder käme vom Kinderchor nach Hause und erzählt: „Da war ein Mann, der hat mich berührt, aber er hat gesagt, dass ich niemandem davon erzählen darf“ – was würde ich dann denken?!… *)

*) Jesus hatte hinzugefügt, dass der Aussätzige als erstes direkt zu einem Priester gehen soll und sich von dort aus wieder der Öffentlichkeit zeigen. Das macht die Erzählung eines Kindes nicht besser: „Der Mann hat außerdem gesagt, ich soll direkt zum Pfarrer gehen, und von dort aus nach Hause gehen.“ Ja toll, dann sieht es halt so aus, als käme das Kind gerade aus der Kirche. (Und da KANN ja nichts Schlimmes passieren, oder was.) Nachdem sich der Wortlaut des ersten Teils erst mal in meiner Phantasie festgesetzt hatte, konnte der Inhalt des zweiten Teils nichts mehr retten. – Achtung, das hat natürlich NICHTS mit dem zu tun, was Markus von dem Handeln Jesu erzählt. Aber es ist ein Beispiel dafür, wie ich Meinungen und Erfahrungen aus der heutigen Welt mitbringe, wenn ich Bibeltexte lese. Das gilt es anzuerkennen und zu bearbeiten. (Ansonsten unterliegen wir tatsächlich der Gefahr, beim Übertragen unserer heutigen Kontexte in die Bibel stehenzubleiben. So wie das beispielsweise mit dem heutigen Konzept von der heterosexuellen monogamen Liebes-Ehe als „biblisch einzig(!) erlaubter“ Beziehungsform so oft geschieht.)

Die Kombination aus Berührung, Redeverbot und Kirche alarmiert mich – quasi grundsätzlich.

Nun kommt es im Markus-Evangelium häufiger vor, dass Jesus Redeverbote erteilt. Üblicherweise wird das dann „Messiasgeheimnis“ genannt, und dann wird irgendwie begründet, warum das ach-so-begründbar ist.

Ich war mit diesen Begründungen und dem „Messiasgeheimnis“ schon immer unzufrieden, und seit Daniels Predigt bin ich es noch mehr. Ich kann verstehen, dass Markus begründen musste, warum er – Jahrzehnte nach Jesu Tod! – so viel Neues von Jesus weiß und erzählen kann, was den Leuten zu Lebzeiten Jesu entgangen ist. Wenn sich Jesus nach außen hin oft bedeckt gehalten hat mit dem, was er alles tun kann und wer er in Wirklichkeit war – natürlich klingt es dann plausibel, dass weder das Volk noch die Jünger damals direkt angefangen haben, Jesus so anzubeten wie es die späteren Christen und Christinnen taten.

Und trotzdem bin ich unzufrieden damit. Wenn Jesus in die Welt gekommen ist, um der ganzen Welt zu offenbaren, wer und wie Gott in Wirklichkeit ist – dann sollte er doch jede Gelegenheit nutzen, das zu tun. Wir predigen doch ein Evangelium, das eben nicht nur einem kleinen Insiderkreis vorbehalten ist!

Freilich stimmt es, dass das Leben eines Menschen manchmal erst nach dessen Tod offenbart, wer er wirklich war. Das gibt‘s auch ohne Auferstehung oft. Manchmal auch ohne Tod. Wie viele Dinge in meinem Leben kann ich jetzt, wo sie vergangen sind, viel besser verstehen als damals in der Zeit, in der sie passiert sind! „Verstehen kann man das Leben rückwärts; leben muss man es aber vorwärts.“, hat Søren Kierkegaard gesagt. Wenn ich gerade mal wieder gar nicht verstehe, was in meinem Leben los ist, und ich trotzdem halt irgendwie weitergehen muss, tröstet mich der Gedanke, dass ich es vielleicht später irgendwann mal verstehen werde.

Natürlich gilt das auch für das Leben Jesu. Aber Jesus wird selbst im Markus-Evangelium nicht beschrieben als einer, der keinen Plan hat und nicht versteht, was in seinem Leben los ist. Jesus weiß doch irgendwie IMMER, was gerade los ist. Kein Wunder, wenn wir hier vom Sohn Gottes reden, von Gott selbst! Der läuft doch nicht drei Jahre planlos durch Palästina, um dann zu seinem Erstaunen am Kreuz zu enden, und dann auch noch zu denken: „Ach so, ja klar, jetzt verstehe ich, was ich da die letzten drei Jahre gemacht habe und warum das total sinnvoll war.“

Nein, das Markus-Evangelium hält zwar nicht damit hinter‘m Berg, dass es manchmal ziemlich unverständlich ist, wer dieser Jesus ist und was er da tut – aber die Unverständigen sind die Leute um Jesus herum, nicht er selbst. Dass Jesus sich mit Leuten herumschlagen muss, die nicht glauben und die nichts verstehen, kommt auch in unserem Predigttext vor. Dann verdreht Jesus die Augen, seufzt, und macht weiter.

Und deswegen verstehe ich das nicht. Wenn Jesus doch so geplagt ist von einer begriffsstutzigen Umgebung, dann muss er sich doch über jede Gelegenheit freuen, in der KLAR WIRD, WER ER IST.

„Messiasgeheimnis“! Wir als MCC fühlen uns auch oft unverstanden und nicht gesehen. Aber statt von einem MCC-Geheimnis zu reden, hat auf der vorletzten Gemeindeversammlung jemand vorgeschlagen, doch mal über Werbung zu reden.

Warum freut sich Jesus nicht, wenn sich herumspricht, wer er ist? Wer er „wirklich“ ist?

Die Leute reden doch eh schon über ihn. Ist dann nicht um so besser, sich selber einzumischen und jede Stimme zu fördern, die wirklich weiß, wer er ist und was er so macht?

Wenn Leute anfangen, über die MCC komische Sachen zu erzählen, und dann kommt eine mal neu in den Gottesdienst und hat vielleicht einen guten Tag bei uns erwischt und ist ganz happy, fangen wir sie dann an der Tür ab und sagen: „Aber pssst, erzähl bloß niemandem davon!“

Wenn ich mich irgendwo engagiere und die Leute fangen an, komische Sachen über mich zu erzählen, nutze ich dann nicht jede Gelegenheit, Gerüchte zu zerstreuen, indem ich mich zeige und hoffe, dass andere von dem erzählen, was sie Gutes mit mir erlebt haben?

Was machst du, wenn über dich Sachen geredet werden? Was machst du, wenn deine Eltern einen ganz falschen Eindruck von dir haben? Wenn dein Ex-Freund Sachen über dich verbreitet? Wenn deine Kollegen bei der Chefin ein völlig falsches Bild von dir zeichnen und deine Leistung nicht richtig zur Geltung kommt?

Es ist ja gerade NICHT so, als hätte Jesus irgendetwas zu verbergen nach seiner Begegnung mit dem Aussätzigen. Er hat ihn geheilt, nicht zerstört! Das war doch grandios! Das ist doch genau der Jesus, den ich so liebe: Der Jesus, der auch mit denen zu tun hat, mit denen sonst niemand zu tun haben will. Der Menschen berührt, zu denen andere auf Abstand gehen (damals wegen Aussatz, heute vielleicht wegen HIV, oder auch wegen schlechter Haut – manchmal reicht es auch, dass einer gerade geniest hat)! Hier zeigt er sich, der Jesus ohne Berührungsängste – warum zeigt sich hier gleichzeitig ein Jesus mit Offenbarungsängsten?

In anderen Fällen beschreibt das Markus-Evangelium, dass Jesus Dämonen zum Schweigen bringt. Ausgerechnet diese Dämonen sind mit die ersten, die erkennen, wer Jesus wirklich ist. Ist genau das das Problem? Fühlt es sich manchmal an, als wären es Dämonen, die uns zuflüstern, wer wir wirklich sind? Ich meine jetzt die Stimmen in uns, die uns WIRKLICH kennen – nicht diejenigen, die Zerrbilder von uns entwerfen und uns dauernd einreden, wie schlecht und ungenügend wir eh und immer und grundsätzlich sind. Die Dämonen, mit denen Jesus es zu tun hatte, die haben Jesus nicht in Grund und Boden geredet. Die haben nicht gesagt, „ach guck dir doch mal an, wie du schon wieder nix auf die Reihe kriegst“. Jesus ist Dämonen begegnet, die eine ganz klare Sicht auf ihn hatten, auf ihn und seine Identität und die wussten, zu was er in der Lage ist.

Sind vielleicht das die Stimmen, die uns gleichzeitig manchmal festhalten? Die Stimmen, die wissen, wer wir in Wirklichkeit sind, auch wenn andere das (noch) nicht sehen? Wie geht es mir mit den Stimmen, die mir meine Identität und meine Bestimmung vor Augen halten? Die mir spiegeln, zu wie viel Gutem ich in der Lage bin?

In Bezug auf Jesus war es ja so, dass diese Dämonen durchaus recht hatten – aber solange sie gleichzeitig andere klein gehalten und kaputtgemacht haben, war es wichtig, dass Jesus sie ausgetrieben hat. Da mögen die Dämonen über Jesus selbst noch so wahrhaftig und anerkennend geredet haben, den Jungen haben sie gefangen gehalten, eingeschränkt, ihn zähneknirschend und „starr gemacht“ im wahrsten Sinne des Wortes. Das geht nicht: Nur weil jemand mich erkennt und anerkennt, darf er deswegen noch lange nicht andere einschränken. Wie in unserem Predigttext: Was den Jungen taub und stumm machte, hat Jesus von ihm genommen – also genau das, was ihm die Augen verschloss und ihm die Worte nahm. Jesus wollte, dass der Jungen klaren Blickes ist und dass er seinen Mund aufmachen kann.

Auch hier erleben wir das Gegenteil davon, dass es ausgerechnet Jesus (oder Gott) sein soll, der Leute mundtot macht.

Warum also mal so, mal so? Hier der Aussätzige, der nichts erzählen soll – da der Junge, der befreit wird von dem, was (wer) ihm die Sprache verschlägt.

Was mir für heute dazu einfällt, sind Leute, die MICH manchmal darum bitten, über ihre wahre Identität zu schweigen. Wenn ich einen Mann, der heimlich schwul lebt, in der Gemeinde besuche, die ihm total wichtig ist (und bitte nichts davon erzählen soll, was ich von ihm weiß). Wenn ich die Transfrau, die gerade mit Hormonen angefangen hat, zu ihrer dementen Mutter ins Altersheim begleiten soll, die ihren Sohn auch so schon kaum wiedererkennt (und mich bittet, nichts von dem zu erzählen, wie wir sie sonst erleben). Oder wenn ich beim Psychologen im Wartezimmer sitze und froh bin, wenn die Sprechstundenhilfe nicht über den gesamten Flur brüllt, warum ich heute da bin (mag der Grund auch noch so sehr dazu dienen, dass ich oder andere mich erkennen und anerkennen, z.B. weil es um einen hervorragend ausgefallen Intelligenztest oder meinen wunderbaren Weg als genderqueerer Mensch geht).

Ja, es gibt Situationen, da möchte ich selber entscheiden, was ich wem erzähle und wann ich das tue. Offenbar ging es dem Jesus im Markus-Evangelium auch so. Es spricht also nichts dagegen, wenn es manchmal auch ein kleines „Ines-Paul-Geheimnis“ gibt. Und ein „Stefan-Geheimnis“. Und ein „Gabriele-Geheimnis“. Von Jesus lese ich ab, dass das ok ist, solange es dazu dient, sein zu können, wer ich bin. Bei Jesus hat es sich nicht gegen ihn gewendet. Vielleicht gab es auch damals schon den Druck, immer alles im Licht der Öffentlichkeit machen zu müssen. Jesus hat dem widerstanden. Auch das hat dazu beigetragen, dass er sein eigenes Leben gelebt hat. Dass er seiner Bestimmung gefolgt ist. Dass er sein konnte, wer er wirklich war. Und seine Mitmenschen ihn als den kennengelernt haben, der er für sie sein wollte und sein konnte. Dafür ist es manchmal richtig und wichtig, in unterschiedlichen Situationen auch mal unterschiedlich zu handeln.

 

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