Daniel Großer
Begrüßung
“Aber ich will!!”, schreit ein Kind an der Kasse des Supermarktes. Die Kasse steht voller bunter Dinge, da sind Zeitschriften, Schokoladentäfelchen, Kaugummies, Kuscheltiere und viele viele andere Dinge, die Kindern Freude bereiten. Das Kind fängt an zu schreien und bekommt davon nach einer Weile einen roten Kopf. Die Eltern des Kindes haben sichtlich Mühe, es an der Kasse vorbei zu schleusen. Es zieht an Armen und Beinen und versucht mit aller Kraft, sich gegen die überstarken Älteren durchzusetzen. Große Krokodilstränen rollen über die runden Wangen und die Augen können kaum noch etwas sehen. Schließlich nimmt die Mutter das Kind auf den Arm und trägt es fort. Das Kind schreit nur noch lauter. Die Leute im Supermarkt schauen sich schon um, es ist den Eltern sichtlich unangenehm. Da bewegt das Kind seinen Arm heftig, trifft die Mutter am Kopf und ihre Brille fällt auf den Boden. “So viel Zorn für so ein kleines Mätzchen!?”, versucht die alte Dame an der Nachbarkasse zu beschwichtigen und zwinkert dem Kind zu, dass seinen Weltschmerz immer noch nicht überwunden hat, während die Mutter es mit festem Griff an sich drückt und schimpft.
Predigt
Zorn ist ein starkes Gefühl, und wer kleine Kinder für eine Weile beobachtet, kann ihn früher oder später in Aktion beobachten. Heute klingt das Wort “Zorn” ganz altbacken und klamm in unseren Ohren, wir benutzen es kaum noch. Wenn jemand in unserer Nähe zornig ist oder zornig wird, dann suchen wir schnell das Weite aus Furcht, dass dieser Zorn sich vielleicht auch gegen uns richten könnte. Menschen in Telefonwarteschlangen oder den endlosen Wartesälen der Ämter und Ärzte kochen oft vor Zorn und manchmal entlädt er sich – in Deckung wer kann. Zornig sein, das ist ein starkes Gefühl, und es neigt dazu, nicht bei einem Gefühl zu bleiben.
Das heutige Christentum gibt sich große Mühe, sich als Religion der Liebe, des Friedens und der Versöhnung darzustellen. Im Gottesdienst feiern wir den Friedensgruß regelmäßig. Wer öfter den Gottesdienst der MCC besucht, dem fehlt vielleicht sogar etwas wichtiges, wenn wir den Friedensgruß nicht feiern. Dass Friede zwischen Gott und Menschen ist, davon erzählen wir. Ich wünsche mir sehnsüchtig, dass in deinem Herzen die Worte “Frieden” und “Liebe” das Echo sind, wenn dein Ohr von Gott hört.
Stattdessen hören viele Menschen aber etwas ganz anderes in ihrem Herzen, wenn sie an Gott denken. Gerade die, die in Kirchgemeinden aufgewachsen sind, denen eine religiöse Erziehung zuteil wurde, kämpfen nicht selten mit einem zornigen Gott. Einem Gott, der streng und von oben herab mit richtendem Blick nur darauf zu warten scheint, dass man einen Fehler begeht. Besonders religiöse Menschen leiden oft unter plagenden Schuldgefühlen und der Angst vor dem Gott des Zorns. Und das ist keinesfalls mehr so niedlich wie die Geschichte vom zornigen Kind, die wir eben gehört haben. Viele Menschen glauben in Wirklichkeit an einen Gott des Hasses.
Seit ich denken kann leide ich unter einem zornigen, hassenden Gott. Wenn ich euch von Schuldgefühlen, von Angst und von einem Gefühl der Verlorenheit erzähle, dann vor dem Hintergrund meiner eigenen Geschichte. Der Gedanke, nur ein nichtsnutziges Geschöpf zu sein, das vor Gott unwert ist und immer wieder an sich selbst versagt, dieser Gedanke hat mich viele Jahre meines Lebens begleitet und gelähmt. Wenn ich heute davon erzähle, dass Gott ein liebender Gott ist, voller Güte, voller Sanftmut, voller Gnade und Wärme, dann stimmt das. Ich kann es von ganzem Herzen weitersagen. Ich muss diese Botschaft immer wieder und wieder hören, vielleicht geht es euch ebenso. Aber wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst bin, dann ist das nur die eine Seite der Medaille. Mein Gott ist auch ein zorniger Gott. Mein Gott ist immernoch zornig. Das macht mir manchmal Angst. Aber ich komme mir wie ein Heuchler vor, wenn ich diesen Gedanken verdrängen oder übertünchen möchte.
Woher kommt das? Woher kommt das Bewusstsein vom zornigen Gott? Alles anerzogen? Alles ausgedacht, reingedeutet? Schwere Last des Mittelalters? Alles Lug und Trug und Irrlehre? Woher kommt mein zorniger Gott?
Da stehe ich mit meinem zornigen Gott, der mir nicht behagt und den ich gerne loswerden würde. Und ich stehe da mit meinem liebenden Gott, der mir irgendwie unvollständig erscheint.
Ich habe etwas bei der MCC gelernt: Je mehr ich meine, Gott genau zu kennen, desto andersartiger begegnet sie mir. Ich fühle mich deshalb oft wie ein Amateur, der Gott gar nicht kennt und ganz von vorne anfangen muss.
Woher kommt mein zorniger Gott? Diese Frage kommt immer wieder in mir auf. Ich habe in letzter Zeit viel im Alten Testament gelesen. Und was ich da zu lesen bekomme, gefällt mir nicht. Ich wünsche mir einen liebevollen, gnädigen, sanftmütigen Gott. Aber was finde ich? Ich finde einen Gott, der gnadenlos ganze Völker ausrottet. Ich finde einen Gott, der Abraham, Isaak und Jakob erst große Versprechungen vom Volk Israel macht, der dann aber mehrfach am liebsten einen Rückzieher machen würde. Stellenweise finde ich es geradezu peinlich, wie Gott mit Mose streitet:
Gott: “Das Volk, das DU aus Ägyptenland geführt hast…”
Mose: “Nein nein, das Volk, das DU aus Ägyptenland geführt hast…”
Gott: “DEIN Volk, das DU aus Ägyptenland geführt hast…”
Mose: “Aber DEIN Volk, das DU aus Ägyptenland geführt hast…”
Wie zwei Fünfjährige schieben Gott und Mose einander die Schuld in die Schuhe. Der Gott, der mir im Alten Testament begegnet, gefällt mir nicht. Er ist zickig, launig, wütend, aufbrausend, zornig, nachtragend, jähzornig. Er stellt irrwitzige Gebote auf, auf die albernsten Kleinigkeiten droht er seinem Volk Todesstrafen an, macht kleingeistige Vorschriften, verlangt blutrünstige Opferriten und überzieht Länder mit Krieg und Not.
Aber was das allerschlimmste ist: Noch nicht mal das macht Gott richtig. Zum Glück! Der Gott des Alten Testaments ist ein zorniger Gott! Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Und die hat auch im Alten Testament immer zwei Seiten:
[Lesung: 2. Mose 34, 1-14]
Ich komme nicht um meinen zornigen Gott herum. Ich habe einen zornigen, einen gewaltigen und bisweilen auch gewalttätigen Gott! Es fällt mir sehr schwer, damit meinen Frieden zu finden. Denn wenn Gott zornig sein darf, dann könnte er auch gegen mich zornig sein! Für mich als harmoniebedürftigen Menschen ein sehr unangenehmer Gedanke. Ich empfinde Zorn und Liebe als widersprüchlich. Ist das so? Kann Gott nicht beides sein – ein zorniger und liebender Gott? Ein Gott, der seinen Zorn nicht über seine Liebe stellt, aber beides kennt?
Der Regenbogen ziert unseren Altar. Der Regenbogen ist in der Bibel das sichtbare Zeichen, dass Gott ihre Menschen nicht ihrem Zorn opfern will – über alle Zeiten hinweg. Dennoch wird Gott auch nach der Geschichte von Noah immer wieder zornig – und ich bin überzeugt, dass sie auch heute noch zornig sein kann! Aber eben auch liebend. Vielleicht stellt Gottes Zorn ihre Liebe sogar auf eine noch höhere, bedeutsamere Ebene.
Wenn wir uns im Friedensgruß den Frieden Gottes zusprechen, dann muss ich daran denken, dass es dieser Friede ein besonderer Friede ist. Kein einfach so daher gesagter, billiger Waschlappenfrieden. Es ist der Frieden mit einem Gott, der sehr wohl eine andere Wahl gehabt hätte, dessen Zorn zerstören kann und dessen Leidenschaft wie Feuer brennt. Es ist nicht mein oder dein Friede, es ist Gottes Friede. Dieser Friede gehört Gott, weil Gott sich dazu entschlossen hat, diesen Frieden zu stiften. Gott hat sich entschlossen, ihrem Zorn ein Ende zu setzen. Und zwar trotz des bitteren Leidens und Sterbens Jesu. (Ich habe selbst keine Kinder, aber ich denke, wenn jemand miterleben muss, dass sein eigenes Kind ermordet wird, dann hat er/sie allen Grund dazu, voller Zorn zu sein!!) Dass Gott Jesus sterben und wiederauferstehen lässt, ist ein Zeichen gebändigten Zornes. Gott hätte genausogut aus Resignation uns alle dem Tod preisgeben können. Aber genau das tut Gott nicht. Gott bändigt ihren Zorn, und Kreuz und Auferstehung Jesu Christi bezeugen uns diese Gnade. Es ist die teure Gnade eines Gottes, dem Selbstgerechtigkeit, Egoismus und Machtgier nicht scheißegal sind, der in Rage gerät, wenn Hass und Gewalt in den Herzen wohnen.
Ich fange gerade erst an zu begreifen, was es heißt, einen zornigen Gott zu haben. Einen zornigen Gott zu lieben. Ein Gott, der nicht nur mächtig tut, sondern mächtig ist! Ein Gott, vor dessen Zorn ich keine Angst haben soll, sondern Ehrfurcht.
„Sie haben meinem Gott seinen Zorn genommen“ (Predigt von Ines-Paul Baumann) >