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„Wenn es jemals wieder eine gute Zukunft für uns selbst geben soll, dann nur, wenn es eine gute Zukunft für alle gibt.“ (Fazit nach dem misslungenen Versuch, bei den etablierten Machtstrukturen mitzumischen.)

Einordnung des Predigttextes MCC Köln, Ines-Paul Baumann
11. Juni 2023

Das Buch Jeremia, Kapitel 23,16-29

Gibt es noch Deutsche, wenn es kein Deutschland mehr gibt?

Gibt es noch Christen, wenn es keine Kirche mehr gibt?

Gibt es noch Homo- und Heterosexuelle, wenn Menschen nicht mehr in Männer und Frauen eingeteilt werden?

Gibt es noch cis, trans* und inter* Menschen, wenn die Zuordnung zu zwei binär gedachten Geschlechtern ihre Bedeutung verloren hat?

Gibt es noch Weiße und BiPocs, wenn rassifizierende und postkoloniale Kräfte und Wirkmächte überwunden sind?

Was von alldem ist Zuweisung von außen, was eigenes Selbstverständnis („out & proud“), was sind politisch wichtige Begriffe für Sichtbarkeit, Benennung, Repräsentanz und Veränderungen?

Solange es diese Kategorien noch gibt und solange sie noch so wirkmächtig sind, mögen diese Fragen vielleicht eher theoretisch anmuten. Für die Eindämmung oder gar Überwindung ihrer diskriminierenden Auswirkungen MÜSSEN diese Kategorien in unserem Denken und Handeln sogar mit berücksichtigt werden, sind viele überzeugt.

Für die Gruppe, die damals die Prophetenbücher zusammengestellt hatte, waren das allerdings nicht nur theoretische Fragen. Sie HATTEN konkret all das verloren, was sie nach äußerlichen Kategorien als gesellschaftliche Gruppe konstituiert hatte. Ohne Staat, ohne Land, ohne Territorium, ohne politische Struktur, ohne Regierung saßen sie im Exil und fragten sich:

Und nun?
Wer sind wir?
Wer sind wir in Zukunft?
Was macht uns aus?
Gibt es überhaupt eine Zukunft für das, was uns bisher ausgemacht hat?
Und was bedeutet das für unser Verhalten in der gegenwärtigen Situation? (Und für unsere Bewertung der Vergangenheit?)
Welche Pläne schmieden wir, woran arbeiten wir, mit wem und für was verbringen wir unsere Zeit?

Diese großen Fragen waren nicht rein philosophischer Natur; sie waren von enormer Bedeutung für die Einordnung des eigenen Lebens samt seiner Grundlagen, Rahmenbedingungen und Perspektiven – und damit ausschlaggebend für den Alltag, für das eigene Verhalten, für ganz praktische Entscheidungen.

Wie wohne ich, welche Verkehrsmittel nutze ich, welchen bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten widme ich mich, wo gehe ich tanzen, wie organisiere ich Care Work, wo bekomme ich Klamotten und Lebensmittel her… alles eine Frage vom eigenen Selbstverständnis und von Weltanschauungen. Wenn ich Kapitalismus, Markt und Wachstum Glauben schenke, treffe ich andere Entscheidungen, als wenn ich daran glauben will, dass ein nachhaltiger und gerechter Umgang mit Versorgung, Fürsorge und Klima wichtig ist.

(Für unsere Themen geht es auch um Fragen wie: In welche Kirche gehe ich? Wonach entscheide ich das? Was ist mir an Kirche wichtig? Solange ich z.B. an Anerkennung in mir wichtig erscheinenden Strukturen glaube, kann ich sie nicht außerhalb davon finden…)

Für diejenigen, die damals an den Prophetenbüchern arbeiteten, waren ein paar Dinge klar:

Als Prophet taugten nur diejenigen von den ganzen überlieferten Wahrheits-Verkündern (die biblischen Prophetenbücher sind alle nach Männern benannt), die außerhalb der institutionalisierten Religion standen und damit nicht ihr Geld verdienten. Alle, die innerhalb dieses Systems tätig waren, hatten ja ein Eigeninteresse: ihr Lebenseinkommen, ihr gesellschaftlicher Stand und ihr Lebensstil hingen daran. Wie kann ein Mensch relevante religiöse Inhalte unabhängig weitertragen, wenn er von relevanten religiösen Institutionen abhängt?

Zweitens kamen in der damaligen Situation nur diejenigen als wahre Propheten infrage, die den Untergang angekündigt hatten – denn nur sie hatten recht behalten. Angesichts der Situation, in der alles verloren war, konnten nur ihre Verkündigungen ernst genommen werden. Jetzt, wo der Untergang stattgefunden hatte, waren all die Ankündigungen voller Unheil, Drohungen und Untergangsszenarien gar nicht bedrohlich und angsteinflößend, sondern wurden Teil hilfreicher Erklärungen für das Geschehene. Sie wurden zu Werkzeugen, um die Katastrophe verstehen und verarbeiten zu können. Aus etwas Sinnlosem konnte etwas Sinnvolles entstehen.

Hoffnung zu finden war dabei nur EIN wesentlicher Faktor beim Verfassen der damaligen Schriften. Ohne Hoffnung hätte es überhaupt keinen Grund mehr gegeben, sich um irgendwas Gedanken zu machen.

Aber Hoffnung alleine würde nicht reichen. Der damaligen Gruppe war klar: Ohne einen grundlegenden Wandel würde es keine Zukunft geben.

Und hier verankerte diese Gruppe etwas in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Religion, was genau das Gegenteil von dem ist, was heutzutage manche Gruppen tun, die sich „um sich selbst Sorgen machen“ (oder um „das christliche Abendland“ etc.). Anstatt gegen andere auszuteilen, wurde mit den Prophetenbüchern deutlich gemacht: Wenn es jemals wieder eine gute Zukunft für uns selbst geben soll, dann nur, wenn es eine gute Zukunft für alle gibt. Und damit wurden genau die Propheten zu wichtigen Instanzen, die Ungleichbehandlung und Anbiederung an unterdrückende Strukturen anprangerten.

Maßstab für eine Gesellschaft musste aus dieser Sicht also sein: Wie geht es denen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft stehen? Wie geht es denen, die nicht hier geboren wurden, die nicht unsere Sprache sprechen? Wie geht es denen, die auf andere angewiesen sind – im populistischen Jargon: „die anderen auf der Tasche liegen“? Damals waren das die Fremden und die Witwen und Waisen. Fazit war: Sie müssen immer mitgedacht werden, wenn es eine Zukunft geben soll.

Ausgerechnet unter „christlichen“ Vorzeichen fordern manche lautstarke Stimmen heute genau das Gegenteil davon: Wenn ihre Gewohnheiten ihre Selbstverständlichkeit verlieren, hetzen sie gegen andere. Die Gruppe der Versprengten damals hatte ALLES verloren nicht nur ein generisches Maskulin, postkoloniale Vor(ur)teile, einen lebenslang festen Arbeitsplatz oder eine Stimmenmehrheit – und kam zum gegenteiligen Schluss: Es kann nicht nur um uns selbst gehen, es muss um alle gehen.

Theologisch hieß das: Aus den vielen Göttern, die es gut meinten mit ihren jeweiligen Gläubigen, wurde ein alleiniger Gott, der es jetzt gut meinte mit allen. Wenn es nur noch einen einzigen Gott gibt, und dieser Gott somit für alle Menschen zuständig ist, kann Gott all diese Menschen nicht mehr unterschiedlich behandeln. Gott wurde moralisch und gerecht,

Die Niederschrift der Prophetenbücher folgte also mehreren Strängen;

  • Der eigene Untergang bekam einen Sinn.
  • Das Gottesbild wurde so weiterentwickelt, dass Gott wieder vertraut werden konnte.
  • Und wenn der eigene Untergang eine innere Logik hatte, die direkt mit dem eigenen Handeln verknüpft war, dann war es zumindest möglich, über eine Änderung des eigenen Handelns auch wieder eine Änderung des eigenen Schicksals zu bewirken. Statt der Ohnmacht ausgeliefert zu sein, machte das eigene Handeln wieder einen Unterschied. (Heute gibt es dafür den Begriff der Selbstwirksamkeit. Genau das war damals das Ziel, zu dem auch das Verfassen der Prophetenbücher beitrug.)

Vieles davon hilft mir, die Bilder eines zürnenden, drohenden und strafenden Gottes in den Prophetenbüchern nicht ganz misszuverstehen. (Das wäre sonst ungefähr so, als würde ich heute das Klima als zürnend, drohend und strafend bezeichnen, nur weil es sich nicht besänftigen lässt von meiner Ignoranz und Untätigkeit.) Diejenigen, die angesichts von Missständen auf einem „Weiter so“ und „Alles wird gut“ beharren, sind nicht immer die besten Berater*innen. Für diejenigen, für die eh schon nicht alles gut ist, waren sie das noch nie. Aber jetzt gilt das auch für diejenigen, die genau dazu beitragen, dass es noch nicht gut für alle ist.

(Ausführliche Gedanken zu den Absätzen bis hierher: s. „Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät“ von Carel van Schaik & Kai Michel.)

Wir lesen gleich den heutigen Predigttext. Höre mal nicht nur auf den Text selbst, sondern auch darauf, was der Text in dir auslöst. Was regt dich auf, was bestätigt dich, was beunruhigt dich, was tröstet dich, was lehnst du ab, was erlebst du auch so? Deine innere Bewegung zeigt vielleicht Themen an, an denen du gerade dran bist. Hier ein paar naheliegende thematische Bezüge (aber vielleicht hast du gerade ganz andere; hör auf dich selbst!):

  • Was für ein G*ttesbild hast du verinnerlicht bzw. bearbeitest du gerade?
  • Bei den Themen, bei denen ein „Weiter so“ für dich oder andere nicht angemessen und heilsam ist: Auf was für Stimmen kannst und willst du da zurückgreifen?
  • Wenn es um ganz konkrete Fragen geht (wie: wovon lebst du, von wem bekommst du Geld, was macht das mit dir, wie organisierst du Versorgungs- und Fürsorgearbeiten, …): Sind deine Glaubensgrundlagen und deine religiösen Bezüge da eher befreiend oder eher einengend?

 

16So sagt Gott der Gewalten: Hört nicht auf die °Worte der Propheten, die zu euch prophetisch reden. Sie täuschen euch nur; Visionen aus dem eigenen °Herzen sprechen sie aus und nicht, was aus dem Munde Gottes kommt. 17Sie sagen fortwährend zu denen, die mich verachten: Gott spricht: °Frieden werdet ihr haben! Und zu all denen, die dem Starrsinn ihres Herzens folgen, sagen sie: Kein Unglück kommt über euch. 18Doch wer war in der vertraulichen Besprechung mit Gott anwesend, so dass er Gott sah und Gottes °Wort hörte? Wer hat Gottes Wort vernommen und gehört? 19Gebt Acht, Gottes mächtiger Sturm ist losgebrochen, ein Wirbelsturm wirbelt über die Köpfe der °Verbrecher hinweg. 20Gottes Zorn wird sich nicht abkehren, ehe nicht Gottes Pläne durchgeführt und umgesetzt sind. Doch letztlich werdet ihr es klar erkennen: 21Ich habe die Propheten nicht gesandt, dennoch laufen sie umher. Ich habe zu ihnen nicht gesprochen, dennoch reden sie prophetisch. 22Hätten sie vertraulichen Umgang mit mir, würden sie meinem Volk meine Worte verkünden und es zur °Abkehr von seinem falschen Verhalten und seinem bösen Tun bewegen.

23Bin ich nur °Gott, wenn ich nahe bin, – so Gottes Spruch – bin ich nicht auch Gott, wenn ich fern bin? 24Kann sich ein Mensch in Schlupfwinkeln verbergen, ohne dass ich ihn sehe? – so Gottes Spruch. – Fülle ich nicht Himmel und Erde aus? – so Gottes Spruch. 25Ich hörte, was die Propheten in meinem Namen an Lügen prophezeiten: Einen Traum, einen Traum hatte ich! 26Wie lange noch? Was haben sie im °Sinn, die Propheten, die Lüge prophezeien, und die Propheten mit Täuschung im °Herzen? 27Beabsichtigen sie, meinen Namen bei meinem Volk in Vergessenheit zu bringen durch ihre Träume, die sie sich gegenseitig erzählen, so wie ihre Vorfahren meinen Namen wegen Baal vergaßen? 28Ein Prophet, der einen Traum zur Verfügung hat, erzählt nur einen Traum. Wer aber mein °Wort zur Verfügung hat, redet °wahrhaft mein Wort. Was soll das Stroh beim Korn? – so Gottes Spruch. 29Ist mein °Wort denn nicht wie ein Feuer – so Gottes Spruch – und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt?

Das Buch Jeremia, Kapitel 23,16-29
Bibel in gerechter Sprache

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