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Normative Maßstäbe nicht kopieren, sondern kippen #CSD

Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
9. Juli 2023

1. Korintherbrief 1,18-28

Ein Ärgernis. Eine Torheit. Unsinn. Absurd. Anstößig. Entrüstend.

Genau so wurde (und wird zum Teil heute noch) über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt geredet. Die Begriffe, die heute selbstbewusst zum Einsatz kommen, hatten früher eine ganz andere Bedeutung; es waren Begriffe, die ausgrenzten, erniedrigten und darauf hinweisen sollten, wie pervers und was für ein Ärgernis wir sind: lesbisch, schwul, „Transen“. Der Begriff „queer“ war im englischen dermaßen abwertend, dass er in manch älteren Menschen nur schlechte Gefühle hervorruft.

Ähnlich versuchen Bibelübersetzungen anschaulich, Worte dafür zu finden, wie peinlich, empörend und schamvoll der Blick auf den gekreuzigten Jesus galt.

Das, was Paulus hier nun mit dem Inhalt seines Glaubens macht, ist „Queeren“ im allerbesten Sinne. „Queeren“ als Taktik ist viel mehr als nur eine Zusammenfassung für die Buchstabenkette „LSBT*I*AQ+“ (für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter*, aromantische/asexuelle, queere und weitere Menschen). Als Strategie geht es beim „Queeren“ darum, Maßstäbe nicht einfach zu übernehmen, sich ihnen nicht einfach anzupassen und sich ihnen nicht einfach unterzuordnen, sondern diese Maßstäbe infrage zu stellen, auseinanderzunehmen, neu zu bewerten. Damit wird ihnen nicht nur ihre Selbstverständlichkeit genommen, sondern auch ihre Macht.

Genau das macht Paulus hier. Die Maßstäbe, die er auseinandernimmt, sind einerseits Zeichen und Wunder, andererseits Weisheit und Verstand. Damit sagt Paulus nicht, dass all dies an sich problematisch ist. Diese beiden Kategorien waren aber in zwei damaligen Kulturen das Normative, an dem sich alles zu messen hatte. Um diesen Kulturen zu vermitteln, was an Jesus so toll war, hätte Paulus sich freilich auch darauf einlassen können (tut er auch an anderen Stellen, z.B. als er in Athen war). Er hätte also darlegen können, wie viele Zeichen und Wunder Jesus vollbracht hat. Oder wie weise und vernünftig es ist, an Jesus Christus als Sohn Gottes zu glauben.

Hier geht er aber anders vor: Paulus stellt die Maßstäbe infrage. Wie weit ist die Welt denn gekommen mit ihrer Suche nach Zeichen und Wundern und mit ihrer Weisheit und Vernunft, fragt er polemisch. Und stellt fest: Es hat ihr offenbar überhaupt nicht dabei geholfen, an Gott zu glauben.
Auch all die Zeichen und Wunder, die Jesus selbst vollbracht hat, und all sein Argumentieren haben ihn nicht davor bewahrt, am Kreuz hingerichtet zu werden.
Und spätestens beim Blick auf diesen Akt der Gewalt zerbrechen die genannten Maßstäbe: Der gekreuzigte Jesus stellt das Gegenteil von einem Zeichen und Wunder dar. Und wie soll sich mit Weisheit und Verstand argumentieren lassen, dass in einem Gekreuzigten die Gegenwart Gottes in die Welt gekommen ist?

Und nun macht Paulus aus dem Kreuz das, was CSDs und Pride-Paraden seit 1970 mit queeren Lebensweisen machen: Aus etwas Anstößigem wird etwas, das mit Stolz vor sich hergetragen wird. Das ist der Spirit der Stonewall Riots: Anstatt sich zu schämen und zu verstecken und kleinzumachen, wird über Bord geworfen, was zum Schämen und Verstecken und Kleinmachen führt. Nicht durch Anpassung an diese Maßstäbe, sondern durch Verweigern und Widerstand gegen diese Maßstäbe. „Nicht der Schwule ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt“, hieß damals der Meilenstein-Film von Rosa von Praunheim.

Paulus sagt also: Wunder und Vernunft sind nicht die Mittel, an dem sich der Gekreuzigte messen lassen muss. Sondern der Gekreuzigte wird zum Maßstab dafür, ob Wunder und Vernunft als Mittel überhaupt taugen. Bieten sie Wege und Mittel, um zum Glauben an Jesus zu kommen? Nein? Sorry, dann brauchen wir sie auch nicht. Dann sind sie kein hilfreicher Maßstab beim Bewerten, was wirklich weise und machtvoll ist. Der Gekreuzigte durchbricht die weltlichen Maßstäbe dafür, ob und warum etwas zählt.

Tunten sind nicht maskulin genug, um dem Maßstab für Männlichkeit zu gehorchen? Genau! Gerade das macht sie aus! „Mehr Männlichkeit“ ist der falsche Maßstab, um Tunten zu feiern!
Butches sind nicht feminin genug, um dem Maßstab für Weiblichkeit zu gehorchen? Genau! Gerade das macht sie aus! „Mehr Weiblichkeit“ ist der falsche Maßstab, um Butches zu feiern!
Nicht-binäre trans* Menschen sind nicht weiblich ODER männlich genug, um Frau ODER Mann zu sein? Genau! Gerade das macht sie aus! „Mehr binäres Passing“ ist der falsche Maßstab, um nicht-binäre trans* Menschen zu feiern!

Jesus war nicht stark und mächtig genug, um sich seiner Hinrichtung durch ein Wunder oder durch Argumentieren zu entziehen? Genau! Gerade das macht ihn aus! „Mehr Wunder“ oder „mehr Vernunft“ sind die falschen Maßstäbe, um Jesus als Verkörperung G*ttes in unserer Welt zu feiern!
In seinen Worten und Taten ging es NICHT darum, sich anzupassen an die religiösen und politischen Mächte! So konsequent war er, dass er nie eingeknickt ist! Gerade deswegen ist er jetzt so glaub-würdig!

Noch was: Für Paulus durchbricht der Gekreuzigte nicht nur die Maßstäbe, WAS zählt – sondern auch, WER was zählt. Offenbar saßen in der Gemeinde in Rom nicht gerade die Angesehenen, Festangestellten und Erfolgreichen. Paulus fängt gar nicht erst an, das zu rechtfertigen oder um die Angesehenen, Festangestellten und Erfolgreichen zu werben. Beim Anblick der Gemeinde gilt dasselbe wie beim Anblick des Kreuzes: Wer darauf guckt und nur Abwertung empfindet, schaut nicht mit dem Blick Gottes. Gerade, weil das Kreuz und die Gemeinde vielleicht so peinlich sind, offenbart sich an ihnen, wie Glaube im Sinne Jesu tickt: Die Maßstäbe der Welt werden hier nicht kopiert, sondern gekippt.

Dasselbe galt mal für Stonewall und die Pride-Paraden, die seitdem gefeiert werden. Nicht alles, was den CSD in Köln mittlerweile ausmacht, zeugt davon. Genauso wie nicht alles, was Kirchen heute erfolgreich und stark macht, noch davon zeugt, dass auch ihre Maßstäbe für Erfolg und Stärke durch Jesus eigentlich mal gekippt worden waren. Aber weder CSD-Kommerz noch Kirchenhierarchien können aufhalten, wie wirklich machtvoll es ist, Maßstäbe nicht zu kopieren, sondern zu kippen. In der bunten Welt geschlechtlicher und sexueller Vielfalt genauso wie im Glaubensleben.

‚Queere Kirche‘ ist mehr als eine Kirche, in der Queers auch willkommen sind.

Gesegneten CSD in Köln!

 

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