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Lebt und sterbt achtsam.
(1. Advent: Gottes Einbruch in unser Leben)

Predigt MCC Köln, 1. Dez. 2013
Ines-Paul Baumann

1. ADVENT & WELT-AIDS-TAG

Matthäus 24,37-44 & 1. Thessalonicher 5,1-11

Am Welt-AIDS-Tag sind solche Szenarien keine Zukunftsvisionen, sondern lebendige Erinnerung: Menschen werden weggerafft. Von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, wird einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Von zwei Frauen, die mit derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen.  *)

Zwei Männer.
Der eine bekommt die Diagnose: HIV-Positiv.
Kurze Zeit später wird er dem Leben genommen.
Der andere bleibt allein zurück.

Zwei Frauen.
Die eine bekommt die Diagnose: Brustkrebs.
Kurze Zeit später wird sie dem Leben genommen.
Die andere bleibt allein zurück.

Eine Familie.
Die 16-jährige Tochter bekommt die Diagnose: Depression.
Kurze Zeit später nimmt sie sich das Leben.
Die Eltern bleiben allein zurück.

* ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *

Kaum jemand wird die Verstorbenen beneiden, als sei es der größte Gewinn oder der finale Triumph, dass sie dem Leben genommen werden. Aber wie viel Erlösung lag nicht schon in Momenten des Todes: Das Loslassen… wenn das Leid ein Ende nimmt… wenn in einen ausgezehrten Körper endlich Friede einkehrt…

Und die Zurückgebliebenen? In ihren Herzen kreisen Fragen. Tatsächlich können ausgerechnet sie, die noch am Leben sind, das geradezu als Strafe empfinden.
Warum muss ich jetzt alleine weiterleben, wie soll ich das schaffen?
Warum hat es mein Kind erwischt – hätte es nicht mich statt seiner treffen können?

* ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ * ~ *

Warum infiziert sich der eine bei dem einen Mal, wo das Kondom reißt – und der andere bei seinen vielen Sexdates nicht?
Warum schlägt die Chemotherapie bei der einen gut an – und die andere wird schwächer und schwächer, ohne dass noch irgendetwas hilft?
Warum nimmt sich ein junger Mensch, dem das ganze Leben bevorsteht, das Leben – und der frustrierte Nachbar, der weder für sich noch für andere noch irgendwas bewegen will in seinen letzten Jahren, darf weiter vor sich hin fluchen?

Wenn das Schicksal so in unser Leben einbricht, ist das keine Begegnung des Friedens und der Geborgenheit.
Wenn Gott mir meine Liebsten nimmt, erlebe ich das als Einbruch in mein Leben.
Wenn ich sie heute zurücklassen müsste, weil ich selber sterben sollte, erlebe ich auch das als Einbruch in mein Leben.

Das ergeht Christen nicht anders als Nichtchristen. Inmitten solcher Erfahrungen kann es nicht darum gehen, die Gläubigen gegen die Ungläubigen auszuspielen. Diese Bibelworte wollen nicht trennen, sie wollen verbinden. Selbst der Bibel ist ein Gott, die uns unser Leben und unsere Liebsten nimmt, wie ein Dieb in der Nacht. Einer, der in unseren Frieden und unsere Sicherheit einbricht.

Sollen wir dann das Licht ausmachen, uns die Augen und die Ohren zuhalten und so tun, als würden wir nichts mehr mitkriegen? Auch wenn manche spirituelle Übung genau darauf hinausläuft: Egal, wohin wir uns zurückziehen wollen – der Einbruch von Leben und Sterben in unsere Existenz kann überall und jederzeit passieren.

Sollen wir so tun, als würde uns das alles nichts mehr ausmachen, als würde es uns nicht berühren und nicht unerträglich erscheinen? Auch wenn manche spirituelle Übung genau darauf hinausläuft: Egal, wie unberührbar wir uns machen wollen – der Einbruch von Leben und Sterben in unsere Existenz kann überall und jederzeit passieren.

All die Übungen für inneren Frieden, Ausgeglichenheit, Harmonie, Balance, Gelassenheit, Bewusstheit und emotionales Gleichgewicht, alle Übungen zum Zentrieren und Fokussieren und Entspannen… wenn der Dieb kommt und einbricht in unseren Frieden und unsere Sicherheit, kann uns das dann egal sein? SOLL uns das egal sein? Soll das womöglich noch etwas ganz wunderbares sein? Sollen wir uns zurücklehnen, denn „wir sind ja gerettet“? Sollen sich die Glaubenden ausruhen, nur noch um sich kreisen, sich an ihren Lobgesängen ergötzen, theologische Spitzfindigkeiten zu einer Spielwiese von Lieblosigkeit und Ausgrenzung machen, Leidende zu Schuldigen erklären und sich darauf freuen, am Schluss Recht zu haben und gut dazustehen?

Selbst der Bibel ist ein Gott, der uns unser Leben und unsere Liebsten nimmt, wie ein Dieb in der Nacht. Wie wohl tut diese schonungslose Sichtweise der Bibel, wo Glaubende manchmal selbst die erschütterndsten Lebenserfahrungen noch romantisieren oder ausnutzen. („DANN wird offenbar werden, wer wirklich auf der richtigen Seite stand!“) Angesichts des Entsetzens, der Fragen und des Leids können Gläubige nicht einfach jubeln und sich selbstgerecht hinter ihren Gewissheiten verschanzen.

Wer AIDS bekommt, ist selber schuld, „die Gerechten“ bleiben davon verschont?
Welche Krebs bekommt, wird schon irgendwas falsch gemacht haben, „die Gerechten“ bleiben davon verschont?
Wessen Kind sich das Leben nimmt, wird schon irgendwelche Schuld auf sich geladen haben, „die Gerechten“ bleiben davon verschont?

Oh nein, solche Erfahrungen dürfen uns Menschen nicht voneinander trennen, sie müssen uns verbinden.
Es gab Eltern, die in ihren Kirchen nicht trauern durften um ihren verstorbenen schwulen Sohn. Heimlich kamen sie zur MCC, um wenigstens hier in Frieden Abschied nehmen zu dürfen. Bündnisse wurden geschlossen, die im normalen Leben nie möglich gewesen wären. Letzte gemeinsame Stunden wurden zu Stunden der Versöhnung, der Solidarität, des Lachens.

Manchen Hausherren des christlichen Glaubens sind solche Begegnungen suspekt, verdächtig des Paktes der Gerechten mit den Ungerechten, der Heiligen mit den Sündern. Genau diese Brücke hat Jesus Christus aber immer gesucht. Genau den Menschen, die von den Hausherren der Religion ausgeschlossen wurden, hat Jesus seine Zeit und seine Zuwendung geschenkt. Genau denen, die von den Hausherren der Religion abschätzig betrachtet wurden, hat Jesus die Wertschätzung und Liebe Gottes zugänglich gemacht.

Wenn Hausherren der Religion sich so gegen das Wirken Jesu stellen,
wenn sie in Dogmen und Glaubensgrundsätzen Sicherheit suchen,
wenn sie Frieden finden dadurch, dass sie nur unter ihresgleichen bleiben…

… dann MUSS es ihnen wie ein Einbruch vorkommen, wenn Jesus erscheint und ihnen all das wegnimmt. Dann ist Jesus tatsächlich der Dieb dessen, womit sie sich als Religion so gut eingerichtet haben.

Wenn alle Sicherheiten und Traditionen und Glaubensgewissheiten noch so sehr davor schützen sollen, dass Unvorhergesehenes passiert,
wenn alles so bleiben soll, wie es schon immer war,
wenn die Freisetzung von Menschen zu ihrem wahren Dasein unterbunden statt unterstützt werden muss…

… dann MUSS sich Jesus auf eine Art und Weise Gehör verschaffen, die zur Unzeit kommt. Für die es immer viel zu früh ist. Wo der Einbruch von Gottes Ruf stets unpassend ist.

Aber wenn die Hausherren der Religion auch noch so sehr aufpassen und ihre liebgewonnenen Innenansichten bewahren wollen – DASS Jesus kommt, können sie nicht verhindern.
DASS Jesus erscheint, kann kein Dogma verhindern.
DASS Jesus in manche Scheinheiligkeit einbricht und falsche Sicherheiten entreißt, kann keine Tradition verhindern.

Vielleicht erwischt auch uns das Wirken Jesu manchmal auf dem falschen Fuß.
Wenn Jesus Menschen einfach annimmt, wo wir erst Läuterung erwarten.
Wenn Jesus uns selbst einfach annimmt, wo wir uns noch geißeln mit Schuldgefühlen.
Wenn Jesus so ganz anders handelt, als uns die Hausherren der Religion haben glauben machen wollen.

Wenn sich HIV, die „Strafe Gottes für die Ungerechten“ als eine Krankheit entpuppt, die alle Menschen treffen kann – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer sexuellen Orientierung und ihrem Lebensstil. (Die allererste Person mit HIV, der ich in meinem Leben begegnet bin, war die Gattin unseres damaligen Pastors.) Überall lauert HIV mittlerweile als Krankheit oder als Gefahr: In allen Köpfen, in allen Sicherheitsmaßnahmen, in allen intimen Kontakten, in allen medizinischen Untersuchungen. Die Zeit der Unbeschwertheit ist vorbei. Nicht nur die Infizierten haben AIDS – die Menschheit hat AIDS, die Kirche hat AIDS, der Leib Christi hat AIDS.

Ich glaube nicht, dass Jesus die Geschichte seines Erscheinens mit dem Entzweien von Lebensgeschichten verbindet, damit uns das alles egal ist. Wir müssen nicht so tun, als wäre alles in Ordnung und sicher, wo es das nicht ist. Wir müssen nichts schönreden, wir müssen nichts wegreden. Genau das macht uns als Kinder des Lichts aus:

Als Kinder des Lichts können wir alles wahrnehmen, wie es ist.
Wir müssen das Licht nicht ausmachen,
wir müssen uns nicht die Augen zuhalten,
wir müssen das Licht nicht dimmen
– als Kinder des Lichts können wir hinsehen, wahrnehmen, mit offenen Augen und offenen Armen da sein.
Wachsamkeit.
Erbauung.
Da sein.

(Ist das die gängige spirituelle Praxis von Christen? Warum müssen sich Menschen vom Christentum abwenden, um das einzuüben? Warum müssen Menschen z.B. im Buddhismus das suchen, was die Bibel dem Christentum mitgeben wollte?)

Nicht für die Zukunft leben, sondern den Moment achten. Hier und jetzt: Du bist da. Ich bin da. Gott ist da. Das Sterben ist da. Das Leben ist da.

Wir haben nur die Gegenwart, die wir gestalten können. Aber was auch immer die Zukunft bringen mag: Die Gegenwart kann sie uns nicht entreißen.

Selbst für HIV gibt es mittlerweile Medikamente, die das Leben damit erleichtern. Das Leben wird weitergehen. Und enden. Und weitergehen. Ob wir leben oder sterben, ob wir wachen oder schlafen: Auch wenn es manche Hausherren von Religion nicht gerne hören, auch wenn wir in ihren Augen falsch leben und falsch glauben und falsch lieben (!) – der Liebe und dem Wirken Gottes können sie uns nicht entziehen. Wo wir dem (manchmal noch so ungewissem) Ruf Gottes folgen, kann das (manchmal noch so gewisse) Rufen der Hausherren nichts mehr ausrichten. „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ (Röm 14,8) Lebt und sterbt also achtsam.

 

*) Danke für diesen und andere Hinweise an Rev. Dr. Durrell Watkins, Sunshine Cathedral MCC Fort Lauterdale, USA

 

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