Predigt MCC Köln, 23. Februar 2020
Ines-Paul Baumann
Hiob 42,1-10
In der MCC Köln sehnen wir uns manchmal nach Leuten, die viel richtig machen. In der Bibel habe ich drei gefunden. Die drei sind sozial kompetent. Ihr Glaube ist nicht vergiftet von einem strafenden, willkürlichen oder sadistischen Gott. Sie kennen die Bibel. Sie machen ihren Glauben zur Grundlage ihres Handelns. Auf der Suche nach Mitarbeiter_innen würden sich die drei sofort anbieten. Ihr Glaube und ihr Verhalten: mustergültig! *)
– Gott ist nicht für alles Leid dieser Welt verantwortlich; und schon gar nicht heilt Gott oberflächlich: Manchmal müssen wir uns mit unserer eigenen Lebensgeschichte beschäftigen, um wirklich heil zu werden.
– Gottes Verheißungen werden am Ende größer sein als unser gegenwärtiges Leid.
– Wir können über Gott nicht verfügen.
Die drei haben einen gemeinsamen Freund. Auch der hat bis hierhin immer alles richtig gemacht. Nun aber ist er krank geworden, und seitdem ist er anstrengend. Nicht nur, dass er krank ist. Was schlimm genug ist. Er ist unansehnlich, er stinkt, es ist wirklich eher ein Akt der Gnade als reine Freude, bei ihm zu sein und mit ihm Zeit zu verbringen. (Da könnte er schon etwas dankbarer sein!) Aber dazu noch seine selbstgerechten, halbseidenen Gedanken über Gott!
Würden wir einen wie ihn in der MCC Köln als Prediger haben wollen? Wer mag sich sowas anhören! Seine Reden über Gott sind anstrengend – anklagend, langatmig, selbstgerecht. Nichts will ihn trösten, er wiederholt sich endlos, hört er anderen überhaupt zu? Anstrengend ist das. Nervig. So geduldig und verständnisvoll wie seine Freunde muss man erst mal sein.
Er selbst fühlt sich allerdings höchst missverstanden. Aus seiner Sicht machen seine Freunde nicht alles richtig, sondern alles falsch. Wie können sie behaupten, dass er schuld sei an seinem Leid! Wie können sie sein Leiden so verklären, herabsetzen, beschönigen! Die Worte seiner Freunde klingen für ihn wie naives, frommes Gelaber.
In der MCC Köln beobachte ich alle drei Situationen:
- Wir wünschen uns Leute wie die drei Freunde: Menschen, die viel richtig machen. Die wissen, wie man sich verhält. Die ihr Handeln und ihr Reden und ihre Urteile fest in ihrem Glauben begründen. Deren Glaube nicht vergiftet ist von einem strafenden, willkürlichen und sadistischen Gottesbild.
- Wir erleben manchmal Menschen, die so langatmig und selbstbezogen reden, dass es anstrengend wird.
- Und ich erlebe Menschen, die sich unverstanden fühlen, übersehen, falsch beurteilt. Die nicht wahrgenommen werden mit ihrer Situation. Denen wir nicht gerecht werden. Die auch noch leiden unter den Versuchen anderer, Glauben zu gestalten oder darüber zu reden. Oder die gar nicht erst zum Zuge kommen mit ihrer Art, wie SIE Glauben gestalten und darüber reden würden.
Die Geschichte in der Bibel, von der ich gerade erzählt habe, ist die Geschichte von Hiob und seinen drei Freunden. Das Urteil am Ende der Hiob-Geschichte fällt hart und eindeutig aus: Der Einzige, der recht über Gott geredet hat, ist Hiob. Die drei Freunde haben NICHT recht über Gott geredet.
Wie kann das sein? Die drei Freunde haben zum Teil wortwörtlich aus der Bibel zitiert! Hiob hingegen, der so mit Gott gehadert hat, der so zedert und verzagt und anklagt und jammert und rumnölt, ausgerechnet der soll jetzt „recht“ von Gott geredet haben?
Was lässt sich den drei Freunden vorwerfen? Haben sie die Situation verkannt? Wie denn, sie hatten ja keine Ahnung! Wer kann denn bitte schön auf die Idee kommen, dass Hiob zum Spielball einer Wette zwischen Gott und Satan geworden ist? Was soll DAS denn bitte für ein Gottesbild sein, in dem so etwas möglich ist?
Und doch ist es genau so. Die drei haben die Situation verkannt. Worauf haben sie sich verlassen: auf ihre Erfahrungen, auf ihre Bibelkenntnis, auf ihre Gottesbilder und ihre Menschenbilder. Aus meiner Sicht lässt sich das nur so verstehen: Es gibt Situationen, die wir damit nicht angemessen beurteilen können. Wo all unsere Erfahrungen und unsere Kenntnisse NICHT dazu beitragen, dass wir eine Situation verstehen. Unser Urteil über eine Situation mag noch so sehr von Glauben und Erfahrungen getragen sein, manchmal werden wir einer Situation und einem Menschen damit nicht gerecht. (Auch wenn alles, was wir denken und sagen, eigentlich stimmt.)
Was genau erfassen die drei nicht mit ihrer Erfahrung und ihrem Glauben? Sie schätzen das Gute falsch ein. Sie UNTERSCHÄTZEN das Gute in Hiob, und sie ÜBERSCHÄTZEN das Gute in ihrem Gottesbild. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Dadurch, dass sie das Gute in ihrem Gottesbild überschätzen, hat alles andere keinen Platz mehr bei Gott – und kann seinen Platz nur noch bei Hiob finden. Wenn das Unangenehme und Störende nicht von Gott ausgehen kann, muss es ja von Hiob ausgehen.
Gottesdienste sollen angenehm sein. Wir wollen uns wohlfühlen. Wenn wir uns wohlfühlen, fühlen wir uns Gott nah. Das gelingt nicht immer. In den Gottesdiensten der MCC Köln gibt es immer wieder mal Situationen und Menschen, die stören. Wo wir uns gestört fühlen, fühlen wir uns Gott ferne. Von GOTT kann es ja NICHT ausgehen, dass wir uns gestört fühlen. Stattdessen halten uns die Menschen und die Situationen, die uns stören, von Gott AB.
Auch ich mag Gottesdienste am liebsten, in denen ich mich nicht gestört fühle, sondern in denen ich mich Gott nahe fühle. „Störungen“ beurteile ich anhand meiner Erfahrungen und meines Glaubens. Ich habe mittlerweile eine Menge Erfahrungen. Meinem Urteil traue ich einiges zu.
Als Pastor* betrachte ich es als meine Aufgabe, das Maß an Störungen im Gottesdienst so weit wie möglich zu reduzieren. Es ist meine Verantwortung, Gottesdienste anzubieten, in denen wir uns wohlfühlen und Gott nahe fühlen. So steht es sogar in unserer Geschäftsordnung: „Die inhaltliche Ausrichtung der Gottesdienste der MCC Köln hat zum Ziel, dass sich die Anwesenden mit Gott verbunden wissen, von Gnade erfüllt sind und sich besser fühlen mit Gott, mit sich selbst und mit der Welt.“
Wenn ich also mitbekomme, dass etwas im Gottesdienst dazu beiträgt, dass Leute sich gestört fühlen und genervt und erschöpft nach Hause gehen (und vielleicht nie wieder kommen), dann kann ich das nicht einfach hinnehmen.
Tia, und dann denke ich an die Hiob-Geschichte. Und frage mich, wo ich zu einem der drei Freunde gehöre, die zwar ganz viel wissen und ganz viel richtiges sagen – und trotzdem die Situation gar nicht erfassen. Wo ich bei Gott zu ausschließlich mit Gutem rechne, und wo ich bei meinen Mitmenschen zu wenig Gutes sehe – insbesondere, wenn sie (psychisch) krank sind, ihre Reden über Gott langwierig und einseitig sind, und ihre Gedanken über Gott anfangen zu nerven.
Einer der Freunde Hiobs sagt es so: „Muss langes Gerede ohne Antwort bleiben? Muss denn ein Schwätzer immer Recht haben? Müssen Männer zu deinem leeren Gerede schweigen, dass du spottest und niemand dich beschämt?“ (Hiob 11,1-3) Landete alles auch schon als Beschwerde bei mir als Pastor: Predigten werden empfunden als „LANGES Gerede“ und „LEERES Gerede“.
Das ist natürlich das Gegenteil davon, wie ich mir Predigt wünsche. Wir haben sogar klare Vorgaben dafür: nicht länger als 15 Minuten. Gedanken bitte strukturieren. EIN Zuspruch und EIN damit verbundener Anspruch. Alles in allem: Das Gegenteil von Hiobs Reden! Und dazu kommen ja noch die Störungen zusätzlich zur Predigt!
Wie könnte es besser gehen? Sollen wir das Gestalten der Gottesdienst-Gemeinschaft so „auslagern“, dass Einzelne nicht mehr stören können? Eine paar wenige, die dafür ausgebildet sind und ihr Handwerk beherrschen, liefern den Rahmen. Alle anderen dürfen mit schweigen und mitsingen und Sachen vorlesen. Der Ablauf ist klar und geregelt. Die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß von Störungen wären damit minimiert.
Bei Hiob findest sich so eine Struktur nicht. Hier gibt es keinen Profi, der zuständig ist und alles ordnet, weil er es gelernt hat und am besten kann. Die drei Freunde rufen nicht den Pfarrer an, dass der doch mal einen Krankenbesuch machen soll. Hiob vereinbart keinen Termin zum Seelsorge-Gespräch. Hier haben Menschen miteinander zu tun.
Jesus heilte, damit Menschen wieder (oder das erste Mal in ihrem Leben) Teil der Gemeinschaft sein können. (Aus meiner Sicht gehören zwei Sachen dazu, damit ich Teil einer Gemeinschaft bin: Erstens, dass ich tatsächlich einfach dabei bin. Zweitens, dass ich MIT mir dabei bin, nicht ohne mich oder gegen mich.) Im Neuen Testament geht es vor allem um Menschen mit Aussatz, Besessenheit und Behinderungen, die von der Gemeinschaft ausschlossen wurden. Heute sind es auch noch andere Sachen, die darüber entscheiden, wer Teil einer Gemeinschaft werden kann und wer nicht. Soziale Kompetenz ist so ein Merkmal.
Einer redet oft und zu viel, ein anderer redet selten und wenig. Der erst wird irgendwann aktiv ausgeschlossen. Der zweite ist gerne gesehen, er stört ja nicht.
Eine ignoriert ihre Mitmenschen, trampelt über deren Grenzen und Gefühle – eine andere ignoriert sich selbst, trampelt über ihre eigenen Grenzen und Gefühle. Die erste wird irgendwann aktiv ausgeschlossen. Der zweite ist gerne gesehen, sie stört ja nicht.
„Heil“ zu werden geht aber in beide Richtungen. Die einen lernen im Lauf der Zeit, weniger zu reden. Andere lernen, sich öfter einzubringen. (Oder WIR lernen, andere Formen zur Teilhabe und „Mitsprache“ zu eröffnen, als nur über Reden! Dann erfahren auch wir als Gemeinschaft Heilung!)
Die einen lernen im Lauf der Zeit, mit den Bedürfnisse anderer besser umzugehen – die anderen lernen im Lauf der Zeit, mit ihren eigenen Bedürfnissen besser umzugehen. Christliche Gemeinschaft fördert oft nur das erste; das Ignorieren der eigene Bedürfnisse gilt sogar oft als besonders christlich und gut. BEIDES bedarf der Heilung!
Wie schaffen wir es nun, auf dem Weg dahin Gemeinschaft miteinander zu gestalten? Regeln, Klarheiten und Struktur sind sicher Teil davon. Auf der Gemeindeversammlung werde ich das als eines unserer Themen einbringen: „Vielfalt braucht Struktur. Struktur braucht Vielfalt.“
Aber das alleine reicht nicht. Welcher Geist trägt uns dabei? Die Antwort bei Hiob lautet: Der Geist der Fürbitte. Am Ende war klar, dass Hiob recht über Gott geredet hatte, seine drei Freunde hingegen nicht. Nun könnte das Urteil gesprochen werden. Du falsch – du richtig. Du darfst weitermachen – du musst beschämt nach Hause gehen. So endet die Hiob-Geschichte aber nicht.
- Den dreien wurde klar gemacht, dass sie nun abhängig sind – ausgerechnet von denen, denen sie Unrecht getan haben (Gott und Hiob). Es gibt Momente, in denen wir es nicht mehr richten können. Es liegt nicht mehr an unserer Leistung, ob und wie es weitergeht. Sich zu verteidigen, sich zu rechtfertigen, das eigene Handeln nochmal zu begründen, all das ist hier nicht gefragt. Das interessiert gerade nicht.
- Es interessiert nicht, weil es gar nicht um ein Urteil geht. Hiob hat nicht das Recht, über die drei zu richten. Es nützt ihm auch nichts, dass er selber Recht hat. Er darf sich weder vor die drei Freunde e noch vor Gott hinstellen und sagen: „Seht ihr, ich hatte Recht. Nun verschafft mir Recht!“ Was Hiob tun soll, damit sich sein Schicksal wieder zum Guten wendet: Er soll Fürbitte tun. Für die drei Freunde, die ihm und Gott so Unrecht getan haben, soll er Fürbitte tun.
Ob diese Fürbitte das Leben der drei Freunde verändert, bleibt in der Geschichte offen. „Und der Herr wandte das Geschick Hiobs, als er für seine Freunde Fürbitte tat.“ (Hiob 42,10). Wie es mit denen weitergeht, die ihm Unrecht getan haben, ist im Hiob-Buch nicht mal mehr eine Erwähnung wert. Unabhängig von ihrem weiteren Verhalten ist die Fürbitte der entscheidende Schritt zum Heilwerden Hiobs.
Die Fürbitte ist so wichtig, weil sie aus der Struktur des Urteilens herausführt. Heilung kehrt erst ein, als alle Beteiligten aufhören zu richten. Vorher steht eine lange Phase des ehrlichen Austauschs. Aber dann müssen die drei Freunde einsehen, dass Erfahrung und Bibelkenntnis nur begrenzt dazu taugen, Situation und Menschen einzuschätzen (insbesondere solange sie das Gute darin unterschätzen). Auch Hiob darf nun nicht RICHTEN über diejenigen, die ihn und seine Situation so falsch eingeschätzt hatten – er soll für sie Fürbitte tun.
Ich gehöre zu denen, die sowohl den ehrlichen Austausch als auch eure Fürbitten brauchen. Ohne eure Hilfe werde auch ich euch und eure Situation oft falsch einschätzen. Ich bitte Gott um zunehmende Einsicht, das Gute in euch und unserem Miteinander nicht zu unterschätzen, auch und gerade da, wo ich mich und unsere Gottesdienste gestört fühle. Gott segne unsere gemeinsame Reise. Mögen Austausch und Fürbitten (statt Urteilen und Richten) auch bei uns heilende Wege in die Gemeinschaft öffnen!