Predigt MCC Köln, 19. April 2020
Ines-Paul Baumann
2. Mose 14,10-13
„Lockdown“? „Hochfahren“? Die Gefühle von vielen Menschen lassen sich durch englische Begriffe und Maschinensprache nicht täuschen. Viele fühlen keinen „Lockdown“, sie fühlen: Ausgangssperre. Kontaktverbot. Sie sind auch nicht gefühlskalt wie eine heruntergefahrene Maschine. Im Gegenteil, gerade jetzt, wo Gewohnheiten und Ablenkungen fehlen, spüren wir unser Menschsein.
„Lockdown“ ist eigentlich nur die englische Übersetzung für Ausgangssperre. Warum sagen wir nicht einfach „ Ausgangssperre“? Warum die englische Version? „Lockdown“ war bis zum Coronavirus nicht unbedingt ein gebräuchliches Wort. Plötzlich ist es überall. Klingt es netter als „Ausgangssperre“?
„Wiederhochfahren“ ist auch so ein komischer Begriff. Bis zum Coronavirus haben wir eigentlich nur Computer und andere Maschinen herunter- und wieder hochgefahren. Was sagt es über den Blick auf eine Gesellschaft, wenn sie „hochgefahren“ werden soll wie eine Maschine, die gesteuert werden kann und funktionieren soll?
Angesichts des Coronavirus erleben wir eine Zeit „zwischendrin“. Das alte, gewohnte Leben geht gerade nicht weiter. Wie unser Leben in einer Woche, einem Monat oder einem Jahr aussieht, können wir im Moment nicht sagen.
Träume, Sehnsüchte, Hoffnungen blühen auf. Was könnte nicht alles gehen! Wie anders könnte die Welt aussehen! Aber wie durch ein Vergrößerungsglas zeigen sich auch Gefühle von Unsicherheit. Einsamkeit. Angst. Aggression. Verzweiflung. Suizidgedanken. Häusliche Gewalt.
Vor diesem Hintergrund wurde Ostern für manche zu einer neuen Erfahrung. In meiner Osterpredigt letzte Woche ging es darum, dass die Auferstehung eben NICHT eine Leben zurück zur „Normalität“ verspricht. Zumindest nicht da, wo diese Normalität das Leben einschränkt statt fördert.
Schon VOR der Coronapandemie wurde deutlich, dass unsere „Normalität“ auf der Ausbeutung von Umweltresourcen und Menschen beruht, und dass es so nicht weitergehen kann. Vor ein paar Wochen IST es dann nicht mehr so weitergegangen. Aus anderen Gründen, aber das Dogma, dass es keine Alternativen gäbe, hat seine Unangreifbarkeit verloren. Im Moment erfahren alle: Es GEHT auch anders.
Aber WIE soll dieses „anders“ auf Dauer aussehen? Wohin entwickeln wir uns – nun, da wir plötzlich merken, dass wir uns entwickeln können und müssen?
Im Alten Testament erlebt das Volk Gottes etwas ähnliches. Jahrelang lebten sie unter der ägyptischen Herrschaft. Das Leben war, wie es war. Es war „alternativlos“. Wozu auch, es war erträglich. Der Arbeits- und Leistungsdruck nahm zwar immer mehr zu, aber die Menschen hatten ihr Auskommen. Sie waren halt unfrei, aber sie hatten was zu essen. Aber plötzlich geriet alles in Bewegung. Und das Volk Gottes machte sich auf den Weg. Raus aus einem Leben, das nur noch ein Überleben war. Raus aus der Gefangenschaft. Raus aus einem Leben, in dem sie nicht sein durften, wer sie waren. Raus aus dem, was letztlich falsch für sie war. Raus, raus, raus. Daher der Name dieses Geschehens: Exodus. „Auszug“.
Aber Rausgehen ist ja nur der erste Schritt. Damit ist ja noch lange nicht geklärt, wo die Reise nun hingeht. Was kommt nun? Das gilt es erst mal zu klären. Das Alte lag zwar hinter ihnen – aber wo war das Neue? Für das Volk Gottes im Alten Testament wurden es ganze 40 Jahre des Umherstreifens. Und schon bald wollten die ersten wieder zurück zu ihren alten Gewohnheiten. Zurück ins alte Leben. Die Zeit in der Wüste war zu viel. Zu einsam. Zu unsicher.
Derzeit fühlen sich manche wie in der Wüste. Wie bei der Versuchung Jesu in der Wüste sind wir mit uns selbst konfrontiert. Und mit den Menschen um uns herum. Wir sind uns und anderen ausgesetzt. Auch den Menschen (und den Anteilen in uns), die es nicht gut mit uns meinen. Auch schmerzhafte Erinnerungen erheben ihre Stimme, von Tag zu Tag lauter. Wir finden keine Ablenkung mehr von dem, was uns angetan wurde. Wir leben aus dem heraus, was uns geprägt hat.
Gerade jetzt, wo das alte äußerliche Leben plötzlich weg ist, kommen all die alten Prägungen hervor. Äußerlich mag plötzlich vieles anders sein – unser Innerstes haben wir mitgenommen. Die äußerlichen Gewohnheiten fallen weg – innere Gewohnheiten zeigen sich.
Gerade jetzt ist der Blick auf den Auferstandenen so wichtig. Der auferstandene Jesus ist immer noch gezeichnet von dem, was ihm angetan wurde. Viele Gemälde haben das aufgegriffen: die Wundmale in seinen Händen. Die Wunde in seiner Seite. Was Jesus angetan wurde, ist nicht einfach weg. Es ist und bleibt in ihn eingeschrieben.
Dieser Zwischenschritt ist wichtig! Das, was Jesus angetan wurde, ist nicht weg! Viele Bilder zeigen einen Auferstandenen, der nur so strotzt vor Macht und Kraft. Aber unter all dem, inmitten all dem, ist ein verletzter Jesus. Ein Jesus, der verletzbar war und verletzt wurde. Dessen Verletzlichkeit ihn geprägt hat. Die Verletzungen, die Jesus erlitten hat, sind nicht einfach weg. Sie sind nicht rückgängig gemacht worden. Selbst als Auferstandener schleppt er sie mit sich herum.
Aber was wir bei dem Auferstandener schon sehen können: Jesus LEBT zwar mit dem, was ihm angetan wurde – aber er LEBT NICHT IM SINNE derer, die ihm das angetan haben.
Sie wollten ihn kleinmachen, demütigen, zum Schweigen bringen, sie wollten ihn brechen. Sie WOLLTEN ihn verletzen, und sie haben ihn verletzt. Und ja, Jesus lebt mit dem, was ihm angetan wurde. Aber sie haben ihn nicht gebrochen und sie haben ihn nicht zum Schweigen gebracht. Er lebt nicht so, wie sie ihn haben wollten.
In Jesus sehen wir, was Gott uns zuspricht. Auch wir werden leben können mit dem, was uns angetan wurde – ohne dass wir im Sinne derer leben, die uns das angetan haben. Gerade jetzt, wo uralte Gewohnheiten das Steuer übernehmen wollen, ist der Blick auf diese Zusage so wichtig. Im Blick auf den Auferstandenen sehen wir, dass das alles in uns eingeschrieben sein kann – ohne dass es die letzte Macht über uns haben muss.
Gerade jetzt, wo alte äußerliche Rahmenbedingungen wegfallen und alte Gewohnheiten uns ergreifen, sind wir besonders sensibel. Wie das Volk Gottes in der Wüste. Was taucht nicht alles in uns auf! Was für Stimmen wiederholen sich und werden lauter! Was für Gefühle ergreifen uns!
Suizidgedanken? – Manche sind zur Zeit besonders sensibel für das, was ihnen angetan wurde.
Verschwörungstheorien? – Manche sind im Moment besonders sensibel für unsichtbare Mächte.
Angst vor der Zukunft? – Manche sind im Moment besonders sensibel für Gefahren, die in Umbrüchen liegen können.
Alle drei sind damit auch auch Formen, in denen sich Sensibilitäten und Wünsche dafür zeigen können, dass „falsche“ Kräfte nicht das Leben bestimmen sollen.
Im Blick auf den Auferstandenen sehen wir auch das: Das, was falsch ist, darf und wird uns nicht beherrschen.
Ich sage das bewusst so offen. Was gerade „falsch“ und „richtig“ ist, kann unterschiedlich sein. Was für die eine gerade „richtig“ ist, ist für den anderen gerade „falsch“. Du weißt, was für dich „richtig“ und „falsch“ ist.
Manche sagen, wir sollen uns auf das konzentrieren, was gut und richtig ist. Aber als Jesus in der Wüste versucht wurde, hat er sich nicht einfach in positive Gedanken versenkt. Er hat auch dem ins Gesicht geblickt, der ihm schaden wollte. Er ihn in den Blick genommen, er hat ihn beim Namen benannt. Und genau damit hat er ihm seine Macht genommen.
So schnell wird es nicht immer gehen. Wie gesagt, im Alten Testament waren es 40 Jahre, bevor die Zeit reif war für das Neue. Aber JETZT ist die Zeit, in der unsere Prägungen sich deutlich melden. Ich möchte dich einladen, einmal kurz ins Auge zu fassen, was sich da in dir zur Zeit meldet.
Welche Erfahrungen sind in dir mächtig?
Welche Menschen wollten dir schaden?
Welche Strukturen haben dich geprägt, die dir NICHT gut tun?
Nimm sie in den Blick. In der aktuellen Zeit greifen sie eh nach dir. Zur Zeit zeigt sich, was dich geprägt hat. Was in dich eingeschrieben ist. Die Anteile, die dir und anderen gut tun. Aber auch die Anteile, die sich gegen dich oder andere wenden.
Und dann schau nochmal auf Jesus.
Jesus lebt mit dem, was ihm angetan wurde – aber er lebt nicht im Sinne derer, die ihm das angetan haben.
Das, was falsch ist, darf und wird uns nicht beherrschen.
(Vielleicht ist es es sinnvoll, wenn du dir dafür auch Hilfe suchst, z.B. durch Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, professionelle Begleitung, …)
„Heilung“ heißt nicht bloß, einfach „heil“ von dem zu werden, was in uns eingeschrieben ist, was uns gezeichnet hat. Heilung KANN heißen, von etwas befreit zu sein. Aber „Heilung“ kann auch heißen, MIT etwas zu leben. Möge Gottes Weisheit und Gottes Liebe dir beim Unterscheiden helfen: wo du dich von etwas (oder irgendwem) lösen kannst und musst. Und wo du leben wirst MIT dem, was dir angetan wurde, ohne dass es dich von DEINEM Leben weiter abhält. Möge Gott dir zeigen, was jeweils für dich jetzt dran ist.
Gott, wir bitten für alle, die sich von dem Leben verabschieden möchten, das sie derzeit leben. Die spüren, dass das Leben SO nicht gedacht war. Die das Leben, wie es gerade ist, nicht mehr ertragen. Die sich loswerden wollen, wie sie gerade sind. Die andere loswerden wollen, wie die gerade sind.
Gott, gib ihnen Weisheit bei ihren Entscheidungen. Segne sie, wenn sie nun aufbrechen. Segne sie insbesondere in der Frage, WOHIN der nächste Schritt führen soll.
Gott, wir bitten für alle, die wir als Gesellschaft nicht mehr so leben, wie wir es vor ein paar Wochen noch selbstverständlich getan haben.
Gott, gib uns Weisheit bei unseren Entscheidungen. Segne uns, wenn wir nun aufbrechen. Segne uns insbesondere in der Frage, WOHIN der nächste Schritt führen soll.
Gott, wir bitten für alle, deren Glaube gerade im Umbruch ist. Wo alte Gewohnheiten wegfallen. Wo wir uns an Sicherheiten und Glaubensgewissheiten festhalten. Wo alles heil und perfekt sein soll, und wo im Glauben KEIN Platz ist für all die Gefühle und Verletzungen und Wunden, die wir in uns tragen.
Gott, segne die Aufbrüche. Schenke insbesondere Segen in der Frage, WOHIN der nächste Schritt führen soll.
Amen.