Predigt MCC Köln, 23. Nov. 2014
Ines-Paul Baumann
Mt 25,31-46: „Vom Weltgericht“
„Dann würden im Himmel ganz andere Menschen sein als in den Kirchen!“, schoss es Micha durch den Kopf, „Wenn es wirklich GAR NICHT darauf ankommmen sollte, was die Menschen für einen Glauben hatten – sondern NUR darauf, ob sie mal jemandem geholfen hatten…?“
Micha konnte das Offensichtlichste aus dem Text einfach nicht ignorieren. Und es war noch nicht lange her, da hätte Micha an dieser Vorstellung großen Spaß gehabt.
Es hätte ihn gerührt, wenn Jesus die AIDS-Aktivisten freundlich willkommen geheißen hätte – und es hätte ihm durchaus eine gewisse Genugtung verschafft, wenn der schwulenfeindliche Prediger von Jesus zu hören bekommen hätte, dass er bitte erst mal den HIV-infizierten Obdachlosen zu essen geben solle.
Micha musste an die Transfrau denken, die nach der OP aus der Narkose aufwachte und von ihrer Bettnachbarin ein paar Tropfen Wasser gegen den Durst gereicht bekam, während der Rest ihrer Familie zuhause saß und dafür betete, dass ihr verlorender Sohn bitteschön in seine alte Rolle zurückkehrte.
Micha hätte die freudige Überraschung der Aktivisten von „Kein Mensch ist illegal“ geteilt, dass Jesus sie freundlich willkommen geheißen hätte – während Jesus dem Islam-feindlichen Ältestenrat empfohlen hätte, erst mal die muslimische Flüchtige in der Abschiebehaft zu besuchen.
Unwillkürlich musste Micha auch an seine beste Freundin denken, die so oft im Gefängnis ihrer Depression saß – und die in seiner Gemeinde so oft zu hören bekam, dass ihr nur der rechte Glaube fehlte. Ihre eigene Überraschung wäre sicher am größten gewesen, dass Jesus ausgerechnet sie längst angenommen hatte.
Aber mit den Tagen der unbefangenen Freude über solche Überraschungen war es vorbei. Vor drei Monaten war Micha Christ geworden. So richtig, mit allem drum und dran.
Hier waren sie echte Christen. Die pickten sich nicht einfach aus der Bibel raus, was ihnen gerade in den Kram passte. In seiner Gemeinde wurde die Bibel wörtlich genommen.
Und so wusste er, dass er genau diesen Bibeltext auf gar keinen Fall wörtlich nehmen durfte.
Aus jeder anderen Stelle hätten sie ihm sofort gepredigt: das sei doch klar, dass es darin um Himmel und Hölle ging und darum, dass die mit dem richtigen Glauben in den Himmel kommen. Die Frage, wer einen Platz bei Gott haben sollte und wer nicht, war wichtig in seiner Gemeinde. Ständig wurde alles und jeder/r genau daraufhin geprüft.
Nun aber setzte sich ein unpassender Stachel fest in Michas Gedanken: Sollten tatsächlich alle Leute, die anderen Gutes tun, einfach nur deswegen einen Platz bei Gott haben? Das würde alles auf den Kopf stellen, was er gelernt hatte.
Es konnte doch nicht plötzlich egal sein, in wessen Namen sie Gutes taten. Im Namen Jesu, das musste doch etwas anderes bedeuten als im Namen Allahs oder im Namen der Menschenrechte oder im Namen des Humanismus.
Es konnte doch auch nicht plötzlich egal sein, wem sie Gutes taten. Manche Leute mussten doch erst mal zu spüren bekommen, wie schlecht sie sind – wie sollten sie sich sonst öffnen für das wahre Heil, das Gott für sie bereit hielt? Micha war ja nicht herzlos oder ungerecht. Im Gegenteil. Ihm war daran gelegen, dass die Menschen das wahre Heil erkennen sollten. Anstatt nur ihre leiblichen Bedürfnisse zu befriedigen. Das war doch nur materiell. Oberflächlich.
Der Jesus, der ihm beigebracht worden war, der hätte sich nie mit HIV infiziert.
Der Jesus in seiner Gemeinde wäre nie eine Transsexuelle gewesen.
Der Jesus, an den sie glaubten, wäre nie eine Muslima in Abschiebehaft gewesen.
Und ihr angebeteter Herr Jesus Christus wäre auch nie depressiv gewesen.
Michas Gemeinde wollte Jesus dienen – aber doch nicht „solchen“ Menschen.
Er überlegte, ob diese Bibelstelle vielleicht aus Versehen in die Bibel gelangt war.
Vielleicht sollte er einfach mal seinen Pastor fragen.
Aber er war sich unsicher, ob der ihn verstehen würde. Wer weiß, was der dann von ihm denken würde.
Vielleicht sollte er seine Fragen auf der Facebook-Seite seiner Bibelgruppe posten.
Na, da konnte er sich auf was gefasst machen.
Vielleicht würde sein Chef im christlichen Buchladen was dazu sagen können.
Obwohl – nicht dass Micha am Ende seinen Job verlieren würde. Er war auf das Geld angewiesen. Wenn man einmal aus diesem System draußen war, wussten ja alle, was dann passiert: Kein Einkommen, keine Kreditwürdigkeit, kein Handyvertrag.
Angst machte sich in ihm breit. Ein Leben ohne Gemeinde? Ein Leben ohne Facebook-Freunde? Ein Leben ohne Job und ohne alle Absicherungen des Finanzmarktes?
Und das nur, weil er nicht in ihr Bild passte?
Der Preis war ihm zu hoch. Was würde es ihm nützen, dass Jesus der einzige wahre „Herr“ ist, wenn er in dieser Welt irgendwie klarkommen sollte? In dieser Welt regierten nun mal andere Werte.
Micha war ganz wirr. Da waren so viele Stimmen in seinem Kopf. So unterschiedliche Askpekte. Manche Stimmen waren lauter, andere leiser.
Ganz oft ganz laut waren die Stimmen, die andere verurteilten. Sie herabsetzten. Sie nervig fanden. Micha konnte sich gut über andere Leute aufregen. Den Überlebenskampf in seiner Gesellschaft konnte er gut annehmen. Die Selbstgerechtigkeit in diesen Stimmen hatte etwas sehr Befriedigendes.
Auch sich selbst gegenüber setzte er diese Haltung sehr oft ein: Mit sich selbst ging er keineswegs milder um. Er verlangte viel von sich. Er war streng mit sich.
Micha verurteilte sich und andere oft.
Eher leiser waren die Stimmen, die unsicher waren. Die verletztlich waren. Die Hilfe annehmen und Hilfe geben wollten. Die sich nach Begegnungen voller Sorgfalt und Achtsamkeit sehnten. In denen er anderen und sich selbst mit Wohlwollen begegnete.
Aber seine Sehnsucht danach, sich und anderen wohlwollend begegnen zu können, wurde leider immer wieder überstimmt von diesen anderen Stimmen in ihm.
Waren das die Böcke und die Schafe, die Jesus meinte?
Micha versuchte sich vorzustellen, wie Jesus selbst vor ihm stand. Das Bild, das vor seinen Augen entstand, war sehr kitschig, und er musste fast ein bisschen über sich lachen, aber es half ihm: sich vorzustellen, wie Jesus mit langen Haaren und weißem Gewand die Hände ausstreckte, um ihn willkommen zu heißen. Wie Jesus ihn ansah, umgeben von hellem Licht und schwerelosen Engeln, in der Mitte dieser Jesus mit weisen und gütigen Augen, in denen eine Menge Humor aufblitzte und unendlich viel Menschenfreundlichkeit.
Was wäre, wenn er sich von diesem Jesus so angenommen fühlen könnte, dass er freier werden konnte von Bedürfnis nach Anerkennung durch andere Menschen?
Als nächstes versuchte Micha sich vorzustellen, wie Jesus ihm Aufgaben gab. Ihn losschickte. Nicht immer mit genauen Plänen und Anweisungen, aber mit der Zusage, immer bei ihm zu sein und jeden Schritt mit ihm zu gehen.
Was wäre, wenn das, was Jesus von ihm wollte, wirklich wichtiger war als das, was „die soziale Anerkennung“ und sein engherziges Selbstbild von ihm wollten?
Micha merkte, wie in dem Licht und in der Wärme, die er in diesem Jesus sah, sich in seinem Inneren etwas veränderte.
Die Stimmen, in denen er sich und andere immer so verurteilt hatte, wurden leiser. Der Druck, den er sich und anderen immer gemacht hatte, ließ nach. Das ständige Gemurmel, ob er und andere seinen Maßstäben genügten, entfernte sich.
Die anderen Stimmen gewannen dadurch an Stabilität. Sie durften bleiben, bekamen einen Platz in seinem Leben: Die Stimmen, in denen er auch mal schwach und unsicher sein durfte. In denen er weinen durfte. Die Stimmen, die wollten, dass es ihm gut ging. Die Stimmen, die bereit waren, sich helfen zu lassen. Sie Stimmen, die wollten, dass es allen Menschen gut geht. Wie sehr hatten die anderen Stimmen Micha für solche Gefühle und Gedanken verurteilt. Lächerlich gemacht. Herabgesetzt. Gestraft.
Gut, dass Micha diese Stimmen nun wegschicken konnte, so wie Jesus die Böcke weggeschickt hatte.
Ab heute würde Micha jeden Tag versuchen, sich Jesus vor Augen zu halten – und frei und bewusst zu entscheiden, welche Stimmen fortgeschickt gehörten und welche Stimmen angenommen werden wollten.
Das Bild von „Jesus in seiner Herrlichkeit und allen Engeln mit ihm“ half Micha dabei. Irgendwie war damit bereits jetzt SEIN Tag.
Micha merkte, wie er damit selbst in Bewegung geriet: fort von einem Leben voller Strafen sich selbst und anderen gegenüber – hin zu einem Leben voller Wohlwollen sich selbst und anderen gegenüber.