Predigt MCC Köln 10. April 2016
Ines-Paul Baumann
Johannes 10,9-16: „Der gute Hirte“
„Jesus will dumme Herdenmenschen als Anhänger.“
Das Bild vom Hirten und den Schafen ist natürlich ein gefundenes Fressen für Religionskritiker.
„Das Ideal Jesu von seinen Gläubigen ist, dass sie Schafe (…) sind. Nun kann man Schafe als solche nicht als dumm bezeichnen, dies hieße den Menschen zum Maß aller Dinge zu machen. Menschen aber, die sich wie Schafe benehmen, kann man zu Recht als dumm bezeichnen. (…)
Jesus, die Apostel, der Papst, die Bischöfe und sonstigen „Hirten“ der verschiedenen Konfessionen sehen sich als Schäfer ihrer Mitmenschen. Darin zeigt sich die ganze Anmaßung und Verachtung ihrer Mitmenschen dieser „Menschenfreunde“. Ganz besonders krass wird diese Anmaßung, wenn man den Blödsinn in Betracht zieht, den diese „Hirten“ verkündigten und verkünden.
Gott als Hirten zu bezeichnen ist eine Beleidigung aller Schäfer: ein Schäfer, der seine Herde so vernachlässigt wie Gott, würde sofort gekündigt und schadensersatzpflichtig. (…) Er ist zu sehr damit beschäftigt, den Sexualpraktiken der Menschen nachzuschnüffeln (ob sie z.B. verbotenerweise Kondome benutzen), als dass er sich um das ganze Elend kümmern könnte (…).“
Nun wurde das Bild des Guten Hirten nicht vom Christentum erfunden. „Das Hirtenbild wurde vorchristlich im ganzen Alten Orient (Sumerer, Akkadier, Assyrer, Babylonier, Ägypter) und auch bei Griechen und Römern auf Herrscher und Verantwortungsträger aller Art angewendet.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Guter_Hirte)
In manchen Darstellungen sieht Jesus genau so aus wie Hermes, der griechische Gott und Götterbote. Das ist kein Zufall, und es sagt viel darüber aus, wofür Jesus stehen soll: Der „Gute Hirte“ geht mit seiner Verantwortung und Macht nämlich so um, dass es dem Wohl aller dient.
Von dem „Guten Hirten“ geht keine Gefahr aus, keine Gewalt, kein Machtmissbrauch. Derjenige, der Verantwortung trägt, darf nicht seine eigenen Interessen über die Interessen anderer stellen. Das Bild vom Guten Hirten ist eine Mahnung und Erinnerung gegen solchen Machtmissbrauch.
Gerade auf diesem Gebiet ist Religion besonders anfällig.
Religionskritik ist angesichts dieser und anderer Anfälligkeiten natürlich auch nichts Neues. Die folgende Religionskritik stammt noch aus jener Zeit, als der Gute Hirte im Alten Orient bekannt war (VOR dem Christentum). Wir finden diese Religionskritik im Alten Testament. Und hier ist Gott selbst der Religionskritiker:
So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut.
Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort!
So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten,
darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort!
So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.
Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.
Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.
Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.Hesekiel 34,2b-16
Zu der Zeit meines eigenen spirituellen Erwachens war ich in einem Alter, an dem auch andere Bereiche erwachten. Allerdings war das bei mir etwas schwierig. Mir war klar, dass ich in der Barbie-und-Ken-Welt keinen Platz finden würde (und auch nicht wollte). Also machte ich mich auf die Suche nach Alternativen.
Eine naheliegende Überlegung war, ob ich lesbisch bin. Also bin ich losgezogen und habe mir andere Lesben angeguckt. Meine Frage dabei war: „Bin ich wie die?“ Wenn ich genau so bin, würde ich ja wohl lesbisch sein. Wenn ich nicht dazu passen würde, wäre ich es offenkundig nicht.
Einige Jahre später stand die Überlegung im Raum, ob ich vielleicht ein Mann bin. Also habe ich mir andere Männer angeguckt, wieder unter der Frage: „Bin ich wie die?“ Wenn ich genau so bin, wäre ich wohl Mann. Wenn ich nicht dazu passen würde, wäre ich es offenkundig nicht.
In beiden Fällen war mein Fragen „Bin ich wie die?“ ein recht ergebnisloses Unterfangen. Eigentlich hätte ich das erwarten können: Schon auf meinem Weg zum christlichen Glauben war das Vergleichen wenig hilfreich. Jahre davor hatte ich mir nämlich andere Christen angeguckt und mich auch damals schon gefragt: „Bin ich wie die?“
Und lange Zeit hatte ich wirklich gedacht: „Ich bin nicht wie die anderen Christen, also kann ich kein Christ sein!“
Ich bin nicht der/die Einzige mit solchen Erlebnissen.
Alle Kirchen und Gemeinden haben einen gewissen „Stallgeruch“ (um wieder zu der Welt der Schafe zurückzukehren). Beim Besuch einer Gemeinde stellen sich Neue auch immer wieder diese Frage: „Passe ich dazu? Bin ich wie die?“
Und genau so wie ich früher stellen sie oft genug fest: „Hm, ich bin nicht so wie die, ich passe hier nicht rein.“
Überall gibt es Menschen, die nicht in ein bestimmtes Gemeinde-Bild passen (z.B. wegen ihrer geschlechtlichen Identität, sexuellen Orientierung, Frauenrolle/Männerrolle, Spiritualität, …). Sie würden sich vielleicht durchaus noch als gläubig beschreiben, aber sie finden keine Gemeinde, deren Stallgeruch ihnen das Gefühl gibt, dass sie dort gutes Weideland vorfinden (also Weideland, das sie wirklich nährt und trägt und ihnen genug Auslauf gewährt).
Manche suchen aber auch gar keine Gemeinde mehr. Sie fühlen sich überhaupt nicht mehr passend in dem, was sie an Christentum kennengelernt haben (sei es traditionell, sei es fundamentalistisch, aber auch in esoterisch-entweltlichter Version, oder oder oder…). Manche finden so wenig Anknüpfungspunkte, dass sie christliches Glaubensleben überhaupt gar nicht mehr kennenlernen wollen.
Überall gibt es also vereinzelte Menschen, die mit ihrer Spiritualität für sich alleine unterwegs sind. Die eben gehörte Beschreibung aus Hesekiel passt also durchaus auch auf die kirchliche Situation in unserem Land.
Natürlich liegt das nicht einfach an den „Schafen“, die einfach „zu dumm“ sind, den Weg in die Kirche zu finden. Manche Antwort-Versuche vonseiten der Kirchen tun aber so. Druck, Manipulation, Drohen, Abschreiben und Ausschließen sollen die Schäfchen wieder auf die richtige Spur bringen.
Unser Religionskritiker aus dem Alten Testament packt das Thema anders an. Seine Schafe sind durchaus klug, wenn sie den Hirten nicht trauen, die es nicht wirklich gut mit ihnen meinen!
Auch Jesus sieht nicht die Schafe als Problem, wenn sie nicht mit im Stall sind. Sie brauchen nicht Druck oder Drohungen – manchmal brauchen sie einfach eine TÜR! Türen öffnen Zugänge. (In beide Richtungen übrigens.) Genau so eine Tür zu sein, ist Teil von Jesu Selbstverständnis.
Jesus geht sogar noch einen Schritt weiter: Selbst Schafe, die in einem ANDEREN Stall gelandet sind, sind damit nicht automatisch in einem FALSCHEN Stall gelandet. Auch Schafe aus anderen Ställen können Jesu Stimme hören und ihm vertrauen. Auch Schafe aus anderen Ställen können zu Jesus gehören.
In der Tat, es gibt unterschiedliche Ställe. Sie haben einen jeweils unterschiedlichen Stallgeruch. Aber auch wenn wir auf unterschiedliche Ställe aufgeteilt sind, können wir trotzdem zu der einen Herde gehören, die zu Jesus gehört.
Auch die MCC hat natürlich einen eigenen Stallgeruch – auch wenn hier viele verschiedene Duftmarken zusammenkommen. Aber auch unser Einverständnis zu Vielfalt ist eben ein Punkt (von anderen möglichen Punkten), an dem manche sagen: „Ich passe da nicht rein.“
Einige gehen wiederum bewusst sowohl in die MCC als auch woandershin (eine andere Gemeinde, oder auch Workshops, Theater, Natur, … – vielleicht sogar andere Religionen?).
Jesus selbst geht zumindest davon aus, dass „andere“ Ställe kein Schaf davon abhalten können, sein Vertrauen in ihn zu setzen.
Gott selbst steht dahinter – und versteht unter angemessenem Weiden, dass wir für unsere Starken und Stärken einen genau so guten Umgang finden wie für unsere Schwachen und Schwächen:
Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
Hesekiel 34,16