Ines-Paul Baumann
Joh 2,1-12: Die Hochzeit in Kana mit dem „Weinwunder“
Es war später Nachmittag, als Johannes anrief. „Ich habe mit dem dritten Kapitel meines Evangeliums angefangen! Ich hatte eine super Idee!“ Johannes klang ganz aufgekratzt. So war er selten. Es musste eine sehr gute Idee gewesen sein. Normalerweise war er ein sehr nachdenklicher und innerlicher Mensch, geradezu zärtlich, manchmal etwas melancholisch, manchmal auch eher versponnen. „Johannes, du hast doch immer tolle Ideen“, sagte ich. „Was ist es also diesmal?“
„Weißt du noch, wie wir damals mit Jesus auf dieser Hochzeit waren, ganz am Anfang? Ich erzähle die Geschichte, dass Jesus Wasser in Wein verwandelt hat!“, antwortete Johannes.
„Das kannst du nicht machen!“, fiel ich ihm sofort ins Wort. „Es ist das erste Wunder von Jesus, das du erzählst. Was sollen die Leute denken? Dass Jesus eine Art Dionysos war? Soll er als Gott des Weines in Erinnerung bleiben? Als einer, der auf Festen herumlungert und die Leute betrunken macht und Ausschweifungen fördert? Johannes, das geht nicht!“
„Du weißt doch selbst, dass Jesus auf der Feier war und das Wasser in Wein gewandelt hat!“, konterte Johannes. „Warum sollen die Menschen es nicht erfahren? Wie oft erlebe ich, dass genau das verschwiegen wird. Gott, Gott, Gott, Religion, Religion, Religion, alles ist immer schwer und gewichtig und ernst. Weißt du noch, wie Jesus mit dem Freund vom Bräutigam am Buffet stand und die beiden sich Handwerker-Witze erzählt haben? Oder als Jesus über die Stufe stolperte, mitten in die Arme vom Diener, der gerade Wein ausschenken wollte, und alles ging daneben und landete auf dem schönen Kleid, das ich an dem Tag extra angezogen hatte? Und wie Jesus kaum seine Sandalen sortiert bekam bei dem Kreistanz?
Wer kann sich heute noch Jesus auf einer Party vorstellen? Geh heute mal auf eine Party und fange an, über Jesus zu reden. Die Leute werden ganz komisch und denken, jetzt hört der Spaß auf. Jesus darf doch im Alltag überhaupt nicht mehr vorkommen. Ja, Sonntags im Gottesdienst, da sind sie ganz fromm und machen einen auf Jesus hier und Jesus da, aber kaum sind sie auf dem Weg nach Hause und einer nimmt ihnen im Bus den Platz weg, da werden sie wütend und schimpfen rum, als gäbe es nichts Wichtigeres, als sich nichts nehmen zu lassen. Ob auf einer Party, im Job, auf dem Amt, im Supermarkt oder beim Sex: Da darf Jesus nicht mit dabei sein. Ich finde, diese Hochzeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass Jesus es genau anders will: Jesus will mit uns in unserem Alltag leben und nicht nur als Ehrengast bei den besonderen Momenten unseres Lebens auf der Tribüne sitzen!“
„Das stimmt“, musste ich Johannes Recht geben. Ich hatte trotzdem meine Zweifel: „Aber wie sollen die Leute aus dieser Geschichte lernen, was Christsein bedeutet? Die Zeichen Jesu sollen doch auch was aussagen! Auf der Hochzeit ist doch so gar nix passiert, was für das Handeln Jesu sonst so wichtig ist: Niemand hat sich bekehrt, niemandem wurden die Sünden vergeben, niemand hat Jesus angebetet, niemand hat Gott die Ehre gegeben, niemand hat sein Leben geändert, niemandem wurde aus existenzieller Not geholfen – wie sollen die Menschen, die dein Evangelium mal lesen sollen, was daraus lernen? Das einzige, was darin überhaupt einen religiösen Bezug hat, sind die sechs steinernen Wasserkrüge, wie sie im Judentum für die vorgeschriebenen Waschungen benutzt werden. Und nicht mal die kommen vorschriftsgemäß zum Einsatz. Wie sollen Menschen also lernen, was es heißt, fromm zu sein?“
„Mensch, genau darum geht es doch!“, legte Johannes los. „Hat Jesus uns jemals geboten, dass wir uns reinigen sollten, bevor mit ihm redeten? Hat Jesus uns jemals aufgefordert, irgendwelche Rituale zu vollziehen, bevor wie uns ihm nähern durften? Hat Jesus irgendwann mal irgendwelche Vorschriften oder Regeln aufgestellt, um in seiner Nähe sein zu dürfen? Wann und wo hat Jesus auch nur ein Mal definiert, was Christsein heißt?
OK, dich und mich hat er aus unserem gesamten Leben herausgeholt und in die Nachfolge gerufen. Für uns beide gab es kein Ziel mehr, das nicht Jesu Ziel war, und keinen Weg mehr, den wir noch ohne Jesus hätten gehen wollen. Aber wir waren nur ein paar. Wie viele andere Menschen hat Jesus einfach so geheilt? Wie viele hat er mit ihrem Glauben auch wieder in ihren Alltag zurückgeschickt? Wie vielen Menschen hat er überhaupt erst einen Alltag ermöglicht? Menschen, die am Morgen noch nicht wissen, ob und wie und wofür sie überhaupt aufstehen sollen! Jesus liebt sie nicht weniger als uns, die wir manchmal nicht wussten, wohin mit unserer Kraft und Energie!
Wenn Jesus all den Menschen so unterschiedlich begegnet, können wir doch nicht wieder Vorgaben machen, wie und was da passieren soll! So, wie ich die Geschichte von der Hochzeit jetzt aufgeschrieben habe, wird genau das hoffentlich klar!
Zum Beispiel habe ich Maria mit reingenommen. Maria ist in meiner Geschichte das typische Beispiel für alle, die deutlich aussprechen, was Sache ist. Zuerst ist sie es, die zu Jesus geht und sagt: ‚Jesus, sie haben keinen Wein mehr.‘ Ist ja eigentlich nicht ihr Problem, aber das ist doch schon mal was typisch christliches: Dass wir auch die Probleme vor Gott bringen, die nicht nur uns selbst betreffen:“
„Moment mal“, unterbrach ich Johannes, „das weißt du doch gar nicht. Vielleicht wollte Maria auch einfach noch mehr Wein haben. Tu mal nicht so, als wären wir Christen in allem immer nur selbstlos. Und soll ich dir mal sagen, wie oft Leute aus meiner Gemeinde zu mir kommen und sagen: ‚Pastor, da und da gibt es ein Problem, tu was!‘ Als wäre ich immer und für alles zuständig und könnte alles lösen! Wenn Maria zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: ‚Pastor, sie haben keinen Wein mehr!‘, naja, ich weiß nicht, wie ich da reagiert hätte! Manche Sachen müssen wir schon gemeinsam lösen!“
„Hehe“, lachte Johannes, „Jesus reagiert in meiner Geschichte genau so. Zuerst wirkt er total genervt. Aber dann kümmert er sich doch um die Lösung des Problems, allerdings müssen andere mit anpacken. Das machen die auch, und weißt du warum? Weil Maria sie vorher dazu aufgefordert hat. ‚Was Jesus euch sagt, das tut!‘ Wer sagt das heute noch? Wir brauchen Leute, die so was sagen!“
„Stimmt“, musste ich Johannes erneut Recht geben. Wie oft hatten wir Jünger nicht verstanden, was Jesus von uns wollte, haben es aber einfach mal gemacht. Manches erschien unsinnig, manches unlogisch, manches war peinlich, aber wenn Jesus es gesagt hatte… Oft machten wir gar nix Besonderes, wir waren ja auch nur Menschen! Als ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass Jesus eigentlich nie etwas von uns wollte, was nicht im Rahmen unserer ganz typischen menschlichen Möglichkeiten gelegen hätte. Leute mit besonderen „Potentialen“ oder irgendwelchen übersinnlichen Begabungen hat er nie aus uns gemacht. Wir waren immer Menschen wie alle anderen Menschen auch und sind das auch geblieben – den Unterschied hat immer er selbst gemacht. In seiner Anwesenheit wurde einfach alles anders: unser Menschsein, unser Zusammensein, unser Blick auf uns selbst, unser Blick auf andere – mit Jesus waren wir plötzlich nicht nur in Gottes Gegenwart, sondern Teil von Gottes Wirken. Gottes Liebe macht uns zu was Besonderem, nicht unsere Taten.
„… deswegen füllen die ja dann auch einfach nur Wasser in die Krüge“, hörte ich Johannes‘ Stimme sagen und merkte, dass ich eine Zeit lang gar nicht zugehört hatte. „Wasser! Nix als Wasser! Menschen tragen einfach zusammen, was sie haben, und was macht Jesus draus? Etwas ganz Besonderes. Auch solche Menschen brauchen wir, auch das kann Christsein heißen: Einfach mal mitmachen, die eigenen profanen Dinge Gott zur Verfügung stellen, etwas abgeben, etwas einbringen, und dann macht Gottes Wirken etwas daraus, was vorher nie möglich erschienen wäre.
Und das Ergebnis bekommen Menschen zu spüren, die vielleicht gar nicht mehr wissen, was da ursprünglich passiert ist, aber merken: ‚Wow, das schmeckt gut. Das ist nicht bitter, nicht schal, nicht abgestanden, hat keinen Beigeschmack – was ich hier eingeschenkt bekomme, ist von absoluter Güte, es tut einfach gut!‘ Da sie nicht wissen, woher das kommt, danken sie auch weder den Menschen noch Gott dafür, aber sie freuen sich und sie leben und keiner ist bloßgestellt und das reicht.“
„Nein, das reicht nicht“, widersprach ich Johannes. „Jesus hat Zeichen gewirkt, damit die Leute an ihn glauben! Es reicht eben nicht, das Gute einfach nur hinzunehmen. Oder um bei deiner Feier zu bleiben: Es reicht eben nicht, sich einfach nur einschenken zu lassen! Gott will, dass wir dafür etwas tun! Und Gott will, dass wir ihm dafür die Ehre geben!“
„Ach ach“, schmunzelte ein sichtlich zufriedener Johannes, „sei nicht so engstirnig. Du warst doch dabei. Erinnere dich doch: Jesus hat auf dem Fest niemandem die Show gestohlen. Ganz im Hintergrund hat er gewirkt. Das Ergebnis zählte. Das war ihm genug an dem Tag. Wissen wir denn immer so genau, wo genau nun Menschen was getan haben, und wo genau nun Jesus was getan hat, und wie genau das nun zusammengespielt hat? Jesus war auf der Feier anwesend, das reicht. Jesus wollte die Gastgebenden nicht bloßstellen und auch nicht in den Schatten stellen. Ich weiß, wir bringen Leute oft erst dazu, sich schlecht zu fühlen und sich vor anderen zu ihren Fehlern zu bekennen, bevor wir ihnen Gottes Liebe zugestehen. Aber wir müssen wohl damit leben, dass Jesus das offensichtlich auch anderes gehandhabt hat.“
Johannes hatte einen wichtigen Punkt getroffen. Das war ja genau das alte Schema: Menschen müssen sich schlecht fühlen, dann müssen sie sich reinigen, und dann dürfen sie sich in Gottes Gegenwart begeben. Aber was hatte Jesus aus dem Wasser gemacht, für das die Reinigungskrüge vorgesehen waren? Er hatte Wein draus gemacht. Womit hätten sie sich jetzt reinigen können? Gar nicht mehr! Aus dem Wasser, das uns an unseren Dreck erinnern soll, hat Jesus Wein gemacht, der eine Feier begleitet.
Vorher waren die Krüge eine Quelle der Vorwürfe gewesen, der Anklage, der Selbstgeißelung, der Verurteilung von sich selbst und anderen. Alle mussten vor sich und anderen zeigen, wie unwürdig sie waren. Und alle konnten übereinander urteilen: „Der hat sich schon gereinigt (der darf!), der hat sich noch nicht gereinigt (der darf noch nicht!).“
Diese Krüge lässt Jesus nun mit Wasser füllen, aus dem er Wein macht, und diesen Wein stellt er allen zur Verfügung, die da sind. Ohne dass sie wieder Bedingungen und Voraussetzungen erfüllen müssen – einfach allen.
Aus den Quellen der Anklage hat er Quellen der Freude gemacht.
„Johannes“, sagt ich anerkennend, „gut, dass du das aufschreibst. Mögen die christlichen Gemeinden in den nächsten Jahrtausenden Orte sein, die Jesus genau so als Quelle der Befreiung und der Liebe für alle verkünden. Mögen die Gemeinden nicht wieder die Krüge auffüllen, wo sich Menschen Vorschriften und Verurteilungen ans Bein binden.
Möge es in ihnen Menschen geben, die sich wie Maria direkt an Jesus wenden und andere dazu auffordern, alles zu tun, was er ihnen persönlich sagt.
Mögen in den Gemeinden Menschen sein, die das, was sie können und haben, Jesus zur Verfügung stellen.
Und mögen ganz viele da sein, sich von Gottes Liebe reich einschenken zu lassen.
Mögen die Gemeinden diese Liebe so großzügig verteilen wie Jesus damals, unabhängig davon, wer darauf achtet, wem sie das zu verdanken haben, was ihnen da gerade so gut tut.
Solche Gemeinden braucht Jesus. Vielleicht denken sie oft, dass sie ja auch nur mit Wasser kochen, aber alles andere wäre ja auch Anmaßung und Täuschung und Überhöhung. Schön, wenn es in Gemeinden so irdisch zugeht wie damals, und wo Jesus genau damit ganz besondere Momente der Gemeinschaft draus machen wird.
Danke, Johannes, für diese Geschichte!“
„Gern geschehen“, brummte Johannes bescheiden. „Dann mach ich mal weiter, es gibt ja noch so viel zu erzählen!“