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Wir brauchen keinen Gott, der uns hilft, unser Inneres ins Gleichgewicht zu bringen. Wir brauchen einen Gott, der uns hilft, unsere Welt ins Gleichgewicht zu bringen!

Predigt MCC Köln, 5. August 2018
Ines-Paul Baumann

Jesaja 62,6-12

Ich bin mir uneins, was ich von Gedenktagen halten soll. Irgendwie ist es eine Gelegenheit, etwas zur Sprache und ins Bewusstsein zu bringen. Sichtbar zu machen. Zu würdigen. Manchmal ist es aber auch etwas von oben herab. Vereinnahmend. Gedenktage zeigen eben auch, dass im Verhältnis miteinander etwas nicht selbstverständlich ist; dass etwas eben NICHT stimmt.

Stellt euch vor, die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) würde heute einen Transgendersonntag feiern. Dann stehen geschätzte 99,5% Cis-Menschen auf einer Kanzel und erzählen was zum Thema Transgender, oder zum Bezug ihrer Kirche zu Transgender.
Manche mögen das toll finden: Hurra! Die Kirche gedenkt unser!
Andere mögen das komisch finden. Würden die auch einen Cisgender-Tag feiern? Ach nee, ist nicht nötig, das ist ja normal. (Also sind Transgender nicht normal?)
Sind Frauentage sinnvoll? Männertage?
Wir feiern schließlich auch den CSD, und den Welt-AIDS-Tag, und den Tag der Bisexualität. Ja, WIR feiern! Aber würden wir uns nicht auch zurecht beschweren, wenn diejenigen, die nicht „direkt genannt“ sind, NICHT mitfeiern würden?

Der heutige Sonntag liegt auch zwischen zwei Gedenktagen:

  • 2.8. Gedenktag Genozid an den Roma
  • 9.8. Internationaler Tag der indigenen Bevölkerungen

Heute feiert die EKD den „Israelsonntag“. Früher hieß der „Judensonntag“, traditionell auch „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“. Wahlweise auch „Die Kirche und das Volk Israel“; so steht es auf der Website „Dr. Martinus Kirchenjahr“.
Ich zitiere aus dem dortigen Vorschlag zur Gottesdienstgestaltung: „Da sich an diesem Sonntag alles um das Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk dreht, wäre es sinnvoll, eine(n) jüdische(n) Mitbürger(in) oder die jüdische Gemeinde zu bitten, am Gottesdienst aktiv teilzunehmen.“ Als Eingangsvotum dürfen sich die jüdischen Mitbürger_innen dann anhören, „dass Israel um unseretwillen mit Blindheit geschlagen ist, damit wir selig werden; danach aber auch das Volk Israel als das wahre Volk Gottes.“ Und: „Das Leid, das Jesus um sein Volk trug, weil es sich nicht bekehren wollte, gibt uns kein Recht, Israel als das verworfene Volk zu bezeichnen.“ (http://www.daskirchenjahr.de/tag.php?name=10ntrinitatis&zeit=Trinitatis)

ELKB und VELKD holen etwas weiter aus: „Israel – ein von Konflikten gebeuteltes Land. Eine grauenvolle Geschichte, die Deutschland und Israel trennt und verbindet. Israel – Ursprung des Christentums, verachtet und idealisiert, bewundert und verfolgt. All diese Facetten spielen am „Israelsonntag“ eine Rolle. Er erinnert seit dem 16. Jahrhundert an den Gedenktag der Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Freilich wurde er in seiner Geschichte sehr unterschiedlich begangen: Während in der Vergangenheit die Überlegenheit des Christentums demonstriert wurde, stehen heute die Trauer über das Unrecht, das den Juden angetan wurde, sowie die heutigen guten Beziehungen zwischen Juden- und Christentum im Vordergrund. Auch wenn wir nicht wissen, was Gottes Plan mit den beiden Religionen ist, so bleibt Israel doch Gottes auserwähltes Volk.“ (https://www.kirchenjahr-evangelisch.de/article.php?day=748)

„Gottes auserwähltes Volk.“ Ich weiß nicht, ob wir Israel einen Gefallen tun, wenn wir das heute noch so formulieren. Neben den Auserwählten stehen meistens die Verworfenen. Auserwählt zu sein, macht eine Gruppe zu etwas besonderem, zu etwas GANZ besonderem – und ist damit auch die Kehrseite zu Diskriminierung. Würde Antisemitismus (also Judenfeindlichkeit bis zur Judenverfolgung) über so lange Zeiträume in der Geschichte so weit verbreitet sein können, wenn nicht „die Juden“ als Gruppe schon deswegen ausgesondert waren, weil sie eben als „die Auserwählten“ gegolten haben? Werden an Auserwählte nicht zurecht besondere Ansprüche gestellt? Und fallen besonders tief, wenn sie diese nicht erfüllen?

Hinzu kommt, dass wir mit Auserwählten einen Sonderstatus verbinden, der anderen damit NICHT zuteil wird. Silkes Auserwählte ist die Siglinde – und zwar NUR die Siglinde. Wenn Siglinde mitbekommt, dass ein Teil von Silkes exklusiver Aufmerksamkeit auch Birgit gilt, fühlt sich Siglinde dann NICHT mehr auserwählt? NICHT mehr geliebt? In vielen Beziehungen ist das so; und in vielen Gottesbeziehungen auch. Gott kann doch nicht MEHRERE Auserwählte haben! Oder? Doch, ich behaupte, Gott kann das, und ich gebe Klaus-Peter Jörns damit recht, dass das sowohl Gott als auch Gottes Auserwählte befreit. (Klaus-Peter Jörns: „Notwendige Abschiede. Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum.“ Gütersloh 2010. ISBN: 978-3579064086)

Die Auserwählung schränkt nämlich beide ein, Gott UND die Auserwählten. Klaus-Peter Jörns führt das anschaulich aus: Eine bedrängte kleine Randgruppe erfährt, dass ihr wunderbarer Gott (der sie auserwählt hat), sie auf eine bestimmte Weise rettet. Diese Erfahrung wird dann tragend für ihr Gottesverständnis. DAS hat Gott (für uns) getan, DAS wird Gott WIEDER (für uns) tun. Das heißt: ab sofort wird Gott nur noch dann als Gott wahrgenommen werden können, wenn Gott WIEDER SO in Erscheinung tritt.

Manche kennen das von Gottesdienst-Erfahrungen:
Aus einer Gotteserfahrung in einem prachtvollen alten Kirchengebäude wird: „In prachtvollen alten Kirchengebäuden kann ich Gott erfahren“, und daraus wird dann: „NUR in prachtvollen alten Kirchengebäuden kann ich Gott erfahren.“
Aus einer Gotteserfahrung bei einem prachtvollen modernen Lobpreis wird: „Bei prachtvollem modernen Lobpreis kann ich Gott erfahren“, und daraus wird dann: „NUR bei prachtvollem modernen Lobpreis kann ich Gott erfahren.“

In der Tat, sowas schränkt Gott natürlich schon mal ziemlich ein.

Es setzt aber auch die Gotteserfahrungen anderer herab (also, was DIE da machen, da KANN Gott gar nicht drin sein).

Und letztlich führt es eben auch zu Gewalt.

Nun konnte das Christentum von Anfang an nicht GANZ leugnen, dass Jesus Jude war und die Heiligen Schriften eigentlich Texte jüdischen Glaubens. (Später sollten das weite Teile der Christenheit durchaus hinbekommen.) Aber seit Paulus ist so eine Art gönnerhafte Haltung ins Christentum eingezogen: Mit „Gottes Volk“ sind zwar ab sofort eigentlich nur die wahren Christen gemeint, aber Israel gehört halt doch noch irgendwie dazu. (Die Armen sind halt nur – leider Gottes – gerade mit Blindheit geschlagen, damit solange auch die NICHT-Israeliten gerettet werden können. Dank sei dem gnädigen Herrn.)

An dem Punkt finde ich übrigens auch den heutigen Predigttext schwierig. Ist die einzige Alternative dazu, dass ich gerade am Boden liege, direkt die, berühmt und bewundert zu werden? Geht‘s nicht auch eine Nummer kleiner? Mir würde es reichen, als eine_r von vielen einfach gut leben zu können. „Ruhmreich“, ich brauch das nicht.

Was ich persönlich durchaus brauche, ist aber der Trotz und die Hoffnung, die in dem Text stecken. Ich habe schon immer bewundert und bestaunt, was Menschen diesem Leben abtrotzen. Inmitten von Gewalt, Leid, Armut, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Krankheit nicht aufzugeben. Überleben. Allein das kann schon Widerstand sein. Der heutige Predigttext wird mir sympathisch, wenn ich ihn als so einen Mutmach-Text lese:

Das Jerusalem in diesem Text ist kaputt. Zerstört. Von den schützenden Mauern ist nichts übrig. Ein bisschen wie das Gegenteil vom Turm zu Babel. Aber anstatt zuallererst wieder Mauern hochzuziehen (GEGEN andere), geht es darum, Straßen anzulegen (FÜR das eigene Leben vor Ort). Statt sich abzuschotten, geht es darum, Wege zu finden. Das ist ein anderes Lebens-Konzept als sich einzumauern, um Schutz zu finden. DAS rechne ich diesem Text hoch an. Gerade nach den Erfahrungen, von anderen eigentlich immer nur ausgebeutet worden zu sein. Gerade nachdem andere nur als bedrohlich erlebt wurden.

Damit ist sicher nicht gemeint, dass Schutzräume nicht auch sinnvoll sein können. Die Urgemeinden wussten, wie wichtig die Verstecke in den Höhlen waren, um überhaupt überleben zu können. Auch heute sind Schutzräume wichtig, für manche immer noch zum schieren Überleben, aber z.B. auch in Form von Selbsthilfegruppen. Aber daraus darf kein religiöses Konzept werden. In München wollte einer mal eine MCC gründen unter dem Motto „Beten ohne Heten“. Das ist KEIN Konzept der MCC. MCC schützt sich nicht, indem wir uns abschotten. MCC IST so offen, dass manche schon denken, wir seien nicht ganz dicht. Ich mag es, nicht ganz dicht zu sein. Ich bin doch kein vakuumverpackter Tiefkühlfisch.

Die Angst vor anderen, die uns alles wegnehmen, wird in Deutschland allerdings auch verstärkt angeführt, um Grenzen dicht zu machen und „Fremde“ nicht reinzulassen. Insbesondere in Gegenden, wo kaum ein Ausländer wohnt und die Arbeitslosigkeit eh hoch ist, scheinen die Unmengen Ausländer den armen Einheimischen Unmengen Arbeitsplätze wegzunehmen. Abgesehen von dem rechnerischen Kunststück, wie EIN (1)  Dazugekommener EINHUNDERT (100) Eingesessenen „IHRE Stelle wegnehmen“ soll: Hier wird ein bisschen vergessen bzw. verdreht, wer auf wessen Kosten lebt. Kolonialisierung ist nicht vorbei. Unser Umgang mit bzw. Bedarf an Rohstoffen und Billigarbeitskräften trägt dazu bei, dass Menschen in Armut leben müssen (innerhalb und außerhalb der Grenzen der BRD). Der Zuspruch im Predigttext, dass nicht andere die Früchte der eigenen Arbeit einsacken, gilt IHNEN – nicht denen, die meinen, unsere Probleme könnten wir weiter auf Kosten anderer lösen, ohne die Konsequenzen dafür mit zu tragen.

Das zeigt nochmal, wie wichtig es ist, welche Stimmen laut werden, wenn Not und Angst vor Not herrschen. Die einen sagen: Mauern hoch, dicht machen, abschotten, Grenzschutz aufstellen. Der Predigttext sagt: Baut eure Stadt so auf, dass es sich leben lässt. Baut Wege. Und: Stellt Wächter auf – aber nicht zur Abschottung gegen andere, sondern um Gott in den Ohren zu liegen! „Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe“! (Jes 62,6+7)

DAS ist das eigentlich Grandiose an diesem Text. Von wegen „Auserwählt“ und Gott-denkt-immer-an-uns. Solange wir hier nicht in Frieden und Gerechtigkeit wohnen, ist Gott nicht entlastet und nicht entlassen. SO einen Gott, der sich damit zufrieden geben würde, wollen wir nicht und brauchen wir nicht. DAMIT lassen wir Gott nicht davonkommen.

Wir brauchen keinen Gott, die nur unsere Seelen im Himmel belohnt, wenn wir auf Erden genug gelitten haben – wir brauchen einen Gott, der uns schon auf Erden belohnt!
Wir brauchen keinen Gott, der uns genug innere Kraft gibt, das Elend der Welt auszuhalten – wir brauchen einen Gott, der uns hilft, das Elend in der Welt zu mindern!
Wir brauchen keinen Gott, der unser Inneres ins Gleichgewicht bringt – wir brauchen einen Gott, der uns hilft, diese Welt ins Gleichgewicht zu bringen!

Gerade mit Blick auf Israel und Palästina und das Leid, das Religionen, Herrschende, Kriege, Grenzzäune und Wirtschaftssysteme stiften in aller Welt: Gott segne die Hände, die nicht aufhören, Gutes zu tun, und die Lippen, die nicht aufhören, daran zu erinnern – auch und gerade für die, die gerade im Staub liegen und NICHT wissen, ob es noch einen Gott gibt, der mit ihnen ist.

 

 

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