Predigt MCC Köln, 28. Juni 2020
Ines-Paul Baumann
Genesis 2,18-23
Neulich habe ich einen queeren und einen feministischen Kommentar über einen Abschnitt in der Bibel gelesen. Sie kamen zu gänzlich unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Interpretationen. Es ging um die Bücher Esra und Nehemia. Darin ist beschrieben, wie nach der Zeit des Exils das zerstörte Jerusalem samt Tempel wieder aufgebaut wird. Esra und Nehemia sind eingesetzt, um diesen Wiederaufbau zu leiten. Der eine Kommentar vergleicht die beiden von ihrem Führungsstil her. Esra ist aus seiner Sicht ein ganz schwacher und schlechter Leiter. In Nehemia hingegen sieht er einen so tollen Leiter wie Mose oder David: Nehemia trifft Entscheidungen unabhängig und setzt sich durch. (Ihm ist das wichtig, weil Nehemia ein Eunuch ist und damit aus seiner Sicht einer von der LGBTQI*-Community.) Der andere Kommentar sieht ebenfalls die unterschiedlichen Führungsstile. Auch hier ist Esras Führungsstil dadurch gekennzeichnet, dass der nichts alleine entscheidet – sondern dass nämlich unter Esra „die Entscheidungskompetenz und Durchführung (…) bei der Gesamtgemeinde“ liegt (Karrer:157). Wer Demokratien etwas abgewinnen kann, muss darin nun nichts Schlechtes sehen.
Wenn einer der beiden Kommentare als Predigt in der MCC Köln gelandet wäre, hätte ich mir gewünscht, dass die andere Sichtweise mit ins Gespräch gekommen wäre. Esra und Nehemia lassen sich nicht nur so ODER so sehen. Je nach Perspektive tauchen ganz unterschiedliche Sichtweisen auf. Der Austausch darüber ist wichtig. So wird die eine Sichtweise nicht absolut gesetzt. Und selbst wenn ich eine Meinung nicht teile, kann ich lernen, warum sie einer anderen Person vielleicht wichtig ist. Und umgekehrt: Wenn andere meine Sichtweise nicht aussprechen, muss ich nicht einfach nur übernehmen, was die anderen sagen, sondern kann meine Anliegen mit einbringen.
Das ist das Gegenteil davon, dass in einer Gemeinde alle dieselbe Meinung haben müssen. Und es ist das Gegenteil davon, dass in der Bibel lauter Sachen stehen, mit denen Gott klare und eindeutige Vorgaben kundtut, die für alle und immer gelten.
Nach letztem Sonntag wurde mir gesagt, dass meine Predigt unklar gewesen sei. Ich musste schmunzeln. Die letzte Predigt hatte vor allem das Anliegen, dass alle ihren eigenen Gedanken nachspüren können. Ich wollte Raum dafür geben, dass ihr selber wahrnehmen könnt, was euch eigentlich bewegt, Gottesdienste aufzusuchen und woran ihr messt, ob sich das „lohnt“. Insbesondere in der letzten Predigt ging es mir genau nicht darum, klare Vorgaben zu liefern, wie wir Dinge zu sehen haben. Meine Fragen waren ernst gemeint – als Fragen. Wenn ich es nicht geschafft habe, mein Anliegen klarzumachen, dass ihr meine Fragen für euch selbst beantworten sollt, dann habe ich tatsächlich schlecht gepredigt. Aber es ist auch schwer, damit ernst genommen zu werden! Auch in der MCC Köln erlebe ich, dass auf die Predigenden geschaut wird, als hätten sie zu sagen, was alle glauben sollen. (Und dann die predigende Person oder gleich die ganze MCC ablehnen, wenn sie andere Vorstellungen davon haben, was alle glauben sollen…)
Gott schreibt uns Menschen aber nicht immer alles vor. Die Bibelstelle aus der Lesung ist ein gutes Beispiel dafür. Erstens vom Inhalt her und zweitens, wie sie verstanden wird.
Inhaltlich: Auf der Suche nach einem Gegenüber für das Menschenwesen lässt sich Gott viel einfallen. Gott erfindet ein Tier nach dem anderen, bringt es zum Menschenwesen – und beobachtet dann. Gott entscheidet nicht, das Menschenwesen entscheidet. Gott beobachtet nur. (Anscheinend hat das Menschenwesen keine gute christliche Erziehung genossen. Vorschläge von Gott so hartnäckig abzulehnen, solange noch nicht das Richtige dabei ist!)
Angenommen, auch anderes, was an uns herangetragen wird, sind erst mal nur Vorschläge. Versuche. Angebote. Und der Wille Gottes wäre nicht, dass wir einfach alles annehmen, was an uns herangetragen wird. Sondern dass wir selber darüber entscheiden – weil wir selber am besten wissen, ob etwas zu uns passt oder nicht. Dann wäre im Willen Gottes auch enthalten, dass wir öfter mal Nein sagen. Nein zu Meinungen, Nein zu Sichtweisen, Nein zu Menschen, Nein zu Lebensformen, Nein zu Verhaltensweisen, Nein zu Denkweisen, Nein zu Erwartungen, Nein zu Gemeinden, Nein Nein Nein. Was nicht richtig ist, müssen wir nicht annehmen, sondern loslassen (gar nicht mal unbedingt bekämpfen oder vernichten). Den Tieren, die das Menschenwesen nicht als Gegenüber annehmen wollte, scheint es nicht geschadet zu haben, dass sie vom Menschenwesen nicht als Ersatz für ein wahres Gegenüber gehalten wurden.
Ich sage zum Beispiel Nein dazu, dass in der gelesenen Bibelstelle beschrieben ist, dass Menschen als Frau ODER Mann geschaffen sind. Im Gegenteil, dieses erste Menschenwesen zeigt doch die Grunderfahrung, dass im Menschen eben nicht nur EIN Geschlecht angelegt ist. (Binär gedacht müsste das, was als Mann übrig blieb, vorher eine weibliche Seite gehabt haben. Binär gedacht wäre also ein Mann ohne seine eigene weibliche Seite nur ein halber Mensch. Hätte aber das Menschenwesen, das dann als Mann übrig blieb, nur männliche Seiten gehabt, wäre die Frau – binär gedacht – ja aus einer männlichen Seite hervorgegangen, würde also eine komplette männliche Seite in sich herumtragen.) Darüber hinaus sehe ich in diesem Menschenwesen, auf das wir alle angeblich zurückgehen, die erste Erfahrung, dass sich Geschlecht im Lauf der Zeit wandeln kann. Und vor allem zeigt sich schon hier, dass Geschlecht überhaupt erst entsteht durch Zuweisungen, Abgrenzung und Vergleichen. Je mehr ich diese Stelle betrachte, desto lustiger finde ich sie. Und wir reden immer noch von der Stelle, die sonst benutzt wird, um Menschen in klare Geschlechterrollen zu zwängen!
Also, SELBER denken. Wir sollen eben NICHT einfach alles hinnehmen und alles annehmen. Nicht alles, was Gott uns im Leben vorlegt, ist das Richtige für uns. WIR sollen spüren, was passt. WIR sollen benennen, was wir sehen. WIR sollen entscheiden. WIR sollen gestalten.
Das gilt für unser Privatleben – wie willst DU leben? Was (/wer) passt zu dir? Das gilt für unser Leben als Gesellschaft und als Menschheit. Was passt? Was wäre richtig, es zu gestalten? Und es gilt für unser Glaubensleben, als Einzelne und als Gemeinde. Deine Sichtweise ist wichtig. Gott entscheidet nicht alles für dich. DU bist entscheidend. Deine Perspektive. Deine Erfahrungen. Sie können anderen neue Perspektiven eröffnen. Sie können natürlich auch von anderen abgelehnt werden. Weil etwas anderes vielleicht besser passt für sie.
Gemeinde dient dann nicht dazu, Vorgaben zu machen. Gemeinde ist dann ein Ort des Austauschs und des Gestaltens. Ein Ort voller unterschiedlicher Sichtweisen. Ein Ort, wo wir ausprobieren und lernen können, was jeweils passt. Ein Ort, wo andere nicht meine Meinung haben oder annehmen müssen. Sondern wo wir einander begleiten und ermöglichen, das jeweils passende zu finden. Und anderen wiederum anzubieten. Dazu brauchen wir nicht Vorgaben, weder von anderen Menschen noch von Gott. Dafür brauchen wir Austausch..