Ines-Paul Baumann
Lk 2,40-52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel
„Dein Sohn ist völlig verzogen!“ Eigentlich sagte Josef immer „unser Sohn“, wenn er mit Maria über Jesus sprach. Aber wenn er wütend war, war es ganz klar Marias Sohn. „Nun suchen wir deinen Sohn schon seit drei Tagen! Wo kann er nur sein, wo will er denn hin? Manchmal verstehe ich ihn einfach nicht!“ sagte er laut.
Was er nicht laut sagte, sondern nur heimlich dachte: Irgendwie war es ja kein Wunder, dass er Jesus manchmal nicht verstand. Bis heute wusste er nicht, wer Jesu anderer Vater war. So nannte Josef denjenigen, dem er Jesus quasi zu verdanken hatte. Der „andere Vater“ war aus seiner Sicht viel treffender als der „wahre“ Vater. Wer war denn hier der wahre Vater! Schöner „wahrer“ Vater, ein Kind in die Welt zu setzen und dann alles ihm, Josef, zu überlassen! Wer tut so was? Die Träume und Engelserscheinungen vor Jesu Geburt waren längst in weite Ferne gerückt, und in Josefs Inneren tauchten immer öfter solche Fragen auf.
Er, Josef, hatte Jesus jedenfalls nicht gezeugt. Aber Jesu Vater war er so oder so, nachdem er sich entschlossen hatte, bei Maria zu bleiben, obwohl sie nicht von ihm schwanger geworden war. Von Geburt an war Jesus ihm wie sein eigener Sohn gewesen. Trotzdem wüsste er manchmal gerne, wer der andere Vater Jesu war. Insbesondere, wenn Jesus sich so komisch benahm wie gerade. Wo mochte Jesus bloß stecken? Warum hat er ihnen nicht gesagt, was er vorhat? War sein anderer Vater vielleicht auch so ein Hollodrie? Einer, der ab und zu mal abhaut? Der sich nicht darum kümmert, was er den anderen antut? Kümmerte es Jesus denn gar nicht, dass seine Eltern nun schon seit drei Tagen nicht wussen, was mit ihm los war? Ob er überhaupt noch lebte? War das der Anfang der Pubertät? Na, das konnte ja noch heiter werden!
Das Gedränge um Josef und Maria herum nahm zu. So würden sie Jesus nie finden. Erschöpft setzten sie sich vor dem Tempel auf die Stufen und schauten zu, wie die Menschen vor ihnen die Straße entlangzogen. Hinter ihnen saßen drei Männer und unterhielten sich.
„Zu meiner Zeit hätte es so etwas nicht gegeben!“, hörte Josef einen der Männer sagen. Josef warf verstohlen einen Blick nach hinten. Der Mann war älter als er gedacht hatte. Sein langer Vollbart war schon ganz weiß, und beim Reden wackelte das Kinn samt Bart auf und ab. Seine Stimme war noch sehr kräftig. „Als ich zwölf Jahre alt war, da galt noch Disziplin! Ob im Beruf, in der Familie oder im Tempel: Gehorsam und Anpassung, darum ging es! Da wäre keiner auf die Idee gekommen, sich mit den Schriftgelehrten so zu unterhalten wie der Knabe da drin! Unmöglich! Typisch Jugendliche! Sind von sich überzeugt, stellen tausend Fragen und geben dann doch nur selber ihre naseweisen Antworten. So ein Träumer! Der soll erst mal nächstes Jahr seine Religionsmündigkeit erlangen! Bis dahin sollte man ihm so ein Auftreten wirklich verbieten! Seine Eltern sollten den mal zurechtweisen! Wenigstens unsere Religion sollte noch ein Ort sein, an dem Verbote und Gehorsam etwas gelten! Daran hat Gott Gefallen!“
„Aber Joscha“, unterbrach ihn ein anderer aus der Gruppe, „diese Zeiten sind doch zum Glück vorbei. Wir sind doch Menschen und als solche für uns selber verantwortlich. Wir finden heute selber heraus, wer wir sind und wie wir unser Leben erfolgreich gestalten wollen. Was heute zählt, sind nicht Gehorsam und Anpassung, sondern die eigene Leistung und Individualität. Ja, deine Zeit war noch voller Verbote und Verordnungen, aber die brauchen wir heute doch gar nicht mehr. Wer von den Jugendlichen rebelliert denn noch gegen irgendwas? Die wissen schon selber, dass sie es nur mit Lernen und Leistung zu etwas bringen werden. Wir brauchen dafür keinen Gehorsam. Wer das Leistungsprinzip nicht mitmachen will und erfolglos bleibt, ist selber schuld. Das wissen die schon selber. Sei froh, dass unsere Religion ihm einen Ort bietet, an dem es noch Prinzipien wie Leistung und Gerechtigkeit gibt – nenn es Kharma, nenn es Gerechtigkeit Gottes! Ist doch gut, dass der Junge da drinnen so ehrgeizig ist. Früh übt sich, wer ein Meister werden will! Wenn er so weitermacht, wird er irgendwann für seine Leistung belohnt werden.“
„Das glaube ich nicht, Ben“, vernahm Josef eine dritte Stimme hinter ihm. „Jeder ist heutzutage für sich verantwortlich und muss ehrgeizig sein, da gebe ich dir Recht. Das nimmt sogar noch zu. Aber das heißt doch schon lange nicht mehr, dass Leistung auch belohnt wird. Immer mehr Menschen bringen ehrliche Leistung und was haben sie davon? Sie verdienen wenig oder haben gar keinen Job mehr. Was dagegen wird von Erfolg gekönt? Wenn du reich bist, wirst du noch reicher. Wenn du nicht reich bist, kannst du versuchen, berühmt zu werden. Eine Ausbildung und Leistungswille sind jedenfalls keine Garantie mehr. Die Jugendlichen wissen das. Ich habe welche erlebt, die kaum einen Satz zu Ende sprechen konnten, aber als sie nach ihrem Berufsziel gefragt wurden, war die Antwort: Manager! Das haben sie gut beobachtet: Manager bekommen völlig unabhängig von ihrer Leistung Unmengen von Geld. Und wenn sie das Unternehmen an die Wand gefahren haben, bekommen sie trotzdem problemlos ihre Auszahlung und dann auch noch problemlos den nächsten Job. Mit Leistung hat das nix mehr zu tun. Warum tun alle so, als hätte Erfolg noch mit Leistung zu tun? Kein Wunder, dass Menschen dann auch sich selbst die Schuld geben, wenn die von allen so hoch aufgebauten Erwartungen enttäuscht werden. Kein Wunder, dass Depression dann so verbreitet ist wie die Idee, auf Gehirndoping und andere Fitmacher zurückzugreifen. Statt dass sich mal alle zusammentun und sich gegen so ein System wehren, richten sie sogar diesen Kampf nur gegen sich selbst.
Ich habe keine Ahnung, was den Jungen da drin antreibt. Aber ob sein Auftritt da drin von Erfolg gekrönt sein wird, wird nicht einfach von seiner Leistung abhängen. Neugierig hat er mich jedenfalls gemacht. Die Fragen, die er stellt, sind gut. Ob er so konsequent bleiben wird? Wird er sich anpassen, wenn er älter und weiser wird? Oder er hält an seinen Ideen und Ansprüchen fest? Ich würde gerne mitbekommen, was aus dem mal wird! Jedenfalls finde ich es vorbildlich, dass unsere Religion einem Jugendlichen und seinen Fragen und Antworten so viel Raum gibt. Seine Eltern sind bestimmt längst an ihre Grenzen gestoßen.“
Josef war längst klar geworden, dass der Junge da drinnen sein Jesus sein musste. Bisher hatte er sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was aus Jesus mal werden sollte. Er war davon ausgegangen, dass er Zimmermann werden würde, so wie sein Vater. Also so wie er, Josef. Wer weiß, was der andere Vater für einen Beruf hatte? Irgendwas war mit Jesus ja schon von Geburt an so komisch gewesen. Wie hatte der Engel gesagt in dem Traum?
»Seht, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen, und man wird ihm den Namen Immanuel geben.« (Immanuel bedeutet: »Gott ist mit uns«.)
Meine Güte, das durfte doch nicht wahr sein. Endlich hatte Josef diese ganzen Träume vergessen, zwölf Jahre lang schien alles normal zu verlaufen, und jetzt tauchte das alles plötzlich wieder auf. Wütend vor Hilflosigkeit stürzte Josef in den Tempel und zog Jesus heraus. Draußen stellten er und Maria ihn sofort zu Rede:
»Kind«, sagte Maria zu ihm, »wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich verzweifelt gesucht.« Jesus erwiderte: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?«
Josef stockte der Atem. Sollte etwa einer dieser Schriftgelehrten der andere Vater Jesu sein? Einer dieser Frommen? Dass sich so einer nicht zu seiner Vaterschaft bekennen würde, wäre ja klar… Josef fragte sich erneut, warum er diese Gedanken nicht endlich los wurde. Er hatte doch die Botschaft des Engels empfangen!Also dieser Jesus sollte nun „Gott-mit-uns“ sein? Dieser Junge, der mitten unter den Gesetzeslehrern saß, ihnen zuhörte und Fragen stellte? Über dessen Klugheit alle staunten?
Die Männer auf den Stufen hatten ja Recht mit ihren Überlegungen: Was sollte aus diesem Jungen nur mal werden? Josef würde es damit versuchen müssen, Jesus etwas mehr Gehorsam beizubringen. Wenn Jesus dann mit der Zeit älter und weiser würde, würde er schon verstehen, wie es in der Welt zugeht, und sich anpassen. Disziplin, Leistung und Erfolg würden spätestens dann seine Grundprinzipien werden. Sie passten zwar alle nicht zusammen, aber das war egal: Sie bildeten immer noch das passende Repertoire zum Überleben in dieser Welt. Jesus würde begreifen müssen, dass es sich nicht lohnt, den Mächtigen zu widersprechen – seien es die Eltern oder später andere, denen Jesus sich würde unterordnen müssen. Statt so viel zu reden würde Jesus einem ordentlichen Beruf nachgehen und sich mit den richtigen Leuten umgeben. Dann würde auch Jesus ein sicheres und langes Leben führen können.
Trotzdem war Josef in Sorge. Sein anderer Vater hatte sicher auch noch etwas mit ihm vor. Und so wie Josef den bisher mitbekommen hatte, lebte der nicht nur nach Gehorsam, Leistung und Erfolg. Die Erfahrungen im Tempel würden Jesu Interesse an Gesprächen und dem Wort Gottes sicher eher stärken als schwächen.
Josef ahnte, dass Jesus seinen eigenen Weg gehen würde. „Gott sei mit uns!“, seufzte er.
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Auch wir sind nicht nur Kinder unserer leiblichen Eltern, sondern Kinder Gottes. Und auch bei uns mag es Zeiten geben, in denen unser Wachstum als Kinder Gottes auch mal bedeuten mag, dass unsere Schritte uns von unseren leiblichen Eltern vorübergehend trennen. Dass wir uns über andere Prinzipien und Wertgrundlagen austauschen wollen als die Gesellschaft sie vorgibt. Dass wir uns an Orte begeben, in denen wir mit unseren Fragen sicher sind und neue Antworten ausprobieren können. Und dass wir Orte gestalten, an denen wir auch anderen Raum geben für ihre Fragen und ihre Suche nach Antworten.
Die MCC ist so ein Ort. Hier ist Raum für Fragen. Hier ist Raum für Austausch – untereinander, mit Gott und mit uns selbst. Hier ist Raum, um Antworten zu suchen und auszuprobieren. Hier können wir anknüpfen an unsere Erfahrungen. Hier können wir wachsen und reifen. Hier können wir die Einladung Jesu hören und verwirklichen: Die Einladung, uns mit Leib und Seele als Kinder Gottes wahrzunehmen. Eines Gottes, die Pläne mit uns hat, der an uns liegt und die alles dafür tut, dass wir in der Gemeinschaft mit ihr wachsen und reifen können.
Was wusstest du schon über dich, als du 12 Jahre alt warst?
Was davon ist zur Reife gelangt?
Was davon soll mehr Gestalt annehmen?
Wie hast du dich als Kind Gottes erlebt im Jahre 2012?
Was davon ist zur Reife gelangt?
Was davon soll mehr Gestalt annehmen?
Wie können wir Menschen unterstützen, die jetzt in dem Alter sind, in dem Jesus anfing, sich von seinen Eltern zu lösen? Was können wir unsererseits von ihren Fragen und ihrer Suche nach wahrhaftigen Antworten lernen?