Predigt-Meditation MCC Köln, 23. August 2015
Ines-Paul Baumann
Joh 11, 32-44: Die Auferweckung des Lazarus
„Er stinkt schon!“ Maria möchte Jesus vor dem Gestank bewahren.
Muss für Gott immer alles schön sein?
Darf Gott nur da sein, wo nichts Belästigendes ist?
Erwarten wir Gott nur da, wo uns nichts und niemand stört?
Finden wir uns lieber damit ab, manche Menschen abzuschreiben und vom Leben fernzuhalten, bevor wir uns mit der Last ihres Lebens herumschlagen müssen? Mit so manchem Mist, der bis zum Himmel stinkt?
Jesus hat keine Angst, mit dem Leiden und dem Gestank in Berührung zu kommen. Er richtet sich nicht ein im Land der Lebendigen, das ihn schützen will vor dem all zu Menschlichen.
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Jesus sieht den Einen, der in seiner Höhle sitzt, im Dunklen, in der Einsamkeit, in den Folgen seiner Krankheit. Er geht zu ihm und sagt: Komm heraus!
Und als sich Lazarus zeigt, wird sichtbar, dass er gebunden ist an Händen und Füßen und nicht mal Gesicht zeigen kann.
Da wendet sich Jesus an die Umstehenden und sagt:
‚Löst die Binden und lasst ihn gehen!‘
Die Binden halten Lazarus davon ab, sich frei bewegen zu können. Sie halten ihn davon ab, am Leben teilzuhaben. Sie zeichnen ihn als den, den sie begraben hatten. Abgehakt. Aufgegeben.
Nun ruft Jesus ihn zurück ins Leben. Die Umstehenden müssen dabei helfen. Die Binden zu lösen, das ist Arbeit. Sind seine bisherigen Freunde und Bekannten bereit dazu? Sind sie bereit, mit ihm zu gehen in ein neues Leben? Sind sie bereit, mit ihm zusammen daran zu arbeiten? Sind sie bereit, ihn zu entbinden?
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„Entbindung“ bedeutet auch: Geborenwerden. Wie Lazaraus aus dem Dunkel des Grabes ins Licht der Welt tritt, treten Babys bei der Geburt aus dem Leib der Mutter. Dort hatten sie Zeit zu wachsen. Zu reifen. Sie waren geschützt. Sie brauchten diesen Schutz und diese Zeit.
Aber irgendwann ist die Zeit reif zur Entbindung. Selbst ins Leben zu treten. Selbst zu atmen. Sichtbar zu werden. Und sich zu lösen. Ein eigener Mensch werden. Ich selbst werden. So schrumpelig und unfertig ich bei der Entbindung auch noch sein mag, die Zeit ist reif. Auch Lazarus war noch gezeichnet von der Zeit in seinen Binden.
Wenn Menschen aus ihren Bindungen heraustreten, sind sie meistens noch davon gezeichnet. Vielleicht ist es nicht immer ein schöner Anblick, was wir zu Gesicht bekommen, wenn Menschen sich neu herauswagen ins Leben. Vieles ist unfertig. Vieles wirkt (und ist) hilflos. Aber der Schritt ist trotzdem richtig.
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„Der bisherige stellvertretende Inspektionsleiter wurde von seinen Dienstpflichten entbunden.“, stand in der Zeitung. Entlassen. Nicht gut genug. Fehler gemacht.
Auszubildene werden ins Leben entlassen.
Entlassung – Entlastung – frei für Neues. Entbindet ihn, von seinen alten Aufgaben, von seinen Fehlern, von seiner Schuld. Setzt ihn frei. Gebt ihm einen neuen Platz in eurem Miteinander. Einen Platz, der besser passt als der bisherige. Einen Platz, der stimmt. Der ihn nicht krank macht. Einen Platz, der stimmig ist. Vielleicht einen Platz, der nicht unseren alten Erwartungen entspricht. Wo wir auch mal jemanden gehen lassen müssen. „Löst die Binden und lasst ihn gehen.“
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- Brauche ich noch den Schutz vor der Entbindung? Habe ich die Bedingungen, die ich brauche, um weiter zu wachsen und zu reifen?
- Ist es Zeit für mich, den Schritt zu wagen? Mich zu zeigen? Auch wenn ich noch unfertig bin und die Hilfe der anderen brauche, um die Binden und Bindungen wirklich abzulegen?
- Kann ich mich und andere ins Leben entlassen? Entbinden von Aufgaben und Erwartungen, die zu Fehlern führen und krank machen?
- Und ist mein Umfeld, meine Gemeinde, meine Kirche ein guter Wegbegleiter dabei? Lösen sie gemeinsam ihre einengenden Binden und lähmenden Bindungen? Oder legen sie mehr Wert darauf, ihren Gott vor dem all zu Menschlichen zu schützen?
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