Predigtimpuls MCC Köln, 20. Februar 2022
Ines-Paul Baumann
1. Korintherbrief 6,12
Anlässlich des heutigen Welttags der Sozialen Gerechtigkeit (1) möchte ich heute über ein paar Begriffe nachdenken, die oft im Zusammenhang mit linken oder emanzipatorischen Bewegungen genannt werden, aber vermehrt auch von neurechten Ideologien benutzt werden. Mit ein und demselben Wort können ganz unterschiedliche Dinge gemeint sein und ganz unterschiedliche Ziele verfolgt werden.
Zum Beispiel der Begriff der Vielfalt. Vielfalt kann meinen, dass es nicht nur Mann ODER Frau gibt, sondern auch ganz viel dazwischen und darüber hinaus, und dass es z.B. auch unter Männern ganz viele verschiedene Ideen von Mannsein gibt. Übertragen auf Nationalitäten hieße das, dass es eben nicht „DIE Deutschen“ und „DIE Italiener*innen“ gibt. Aber auch rechtsextreme Partien treten für Vielfalt in Europa ein. Vielfalt meint dann genau, DASS es eben „DIE Deutschen“ und „DIE Italiener“ gibt, und dass sich da auch nichts vermengen soll, denn sonst wäre das ja am Ende nicht mehr voneinander zu trennen und die Vielfalt wäre dahin. Diese Auffassung von Vielfalt heißt dann bezogen auf die Geschlechter: Die Vielfalt besteht darin, dass es klar unterscheidbare Geschlechter gibt, nämlich Männer und Frauen, und zwar Männer SO und Frauen SO.
Anderes Beispiel: Selbstbestimmung. Trans* Aktivist*innen und der neue Koalitionsvertrag streben eine geschlechtliche Selbstbestimmung an, die es jeder Person erlaubt, selbst über ihren Geschlechtseintrag bestimmen zu dürfen. Selbstbestimmung ist ein Wort, das zur Zeit oft in der Öffentlichkeit zu hören ist. Mittlerweile ist es aber auch auf den Demos der sogenannten „Querdenker“ zu hören. Hier geht es aber darum, selbst über den eigenen Impfstatus zu bestimmen.
Genau so der Slogan „Mein Körper gehört mir“. Die einen verbinden damit ein Präventionsprogramm gegen sexualisierte Gewalt, andere leiten die Bekanntheit dieses Rufs um, um damit gegen Coronaimpfungen zu demonstrieren.
Auch der Begriff der Freiheit wird auf Corona-Demos oft verwendet. Ich glaube, dass viele wirklich besorgt sind um individuelle Freiheitsrechte, die sie von Staatsmacht oder Internetkonzernen bedroht sehen. (Hoffentlich denken alle immer daran, wie sehr auch völkischer Nationalismus individuelle Freiheiten bedroht.)
Auch Jesus und Paulus haben sich zu Freiheit und Freiheiten geäußert. Das Johannesevangelium lässt Jesus sagen, dass uns „die Wahrheit“ und „der Sohn“ freimachen (Joh 8,32-36). Sowohl der Geist der Wahrheit als auch der „Sohn“ werden in der Auslegungsgeschichte unmittelbar auf Jesus selbst und sein Wirken bezogen. Schon Paulus fasste zusammen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5,1).
Die Freiheit, die Paulus hier meint, hat beide Richtungen: Es ist sowohl eine Freiheit VON als auch eine Freiheit FÜR. Paulus ist davon überzeugt, dass er in Christus frei ist vom Gesetz – und von allen Systemen und Folgen, die auf sündhaften Anteilen bzw. sündhaften Strukturen beruhen. Paulus meint mit dieser Freiheit aber keinen neuen „Zwang zur Freiheit“. Paulus würde eher sagen: Ich bin jetzt dermaßen frei, dass ich sogar rücksichtsvoll handeln kann.
Freiheit kann also sehr viel Unterschiedliches meinen. „Freie Fahrt für freie Bürger“ bringt eine Auffassung davon zum Ausdruck. Freiheit bedeutet hier, auf der Autobahn so schnell zu fahren wie ich will. (2) Das geht nur, solange alle anderen auf die Freiheit verzichten, zu überholen wann sie wollen. Freiheit ist hier nur möglich unter der Einhaltung von Regeln. Weil alle anderen sich einschränken und Rücksicht üben (im wahrsten Sinne des Wortes: per Blick in den Rückspiegel), können ein paar wenige sich „frei“ bewegen. Welche*r sagt: „Ich will selbst bestimmen, wie schnell ich fahre“, muss also mit dazu sagen: „Und somit können alle anderen NICHT selbst darüber bestimmen, wie schnell sie fahren (weil sie ggf. hinter dem langsameren Fahrzeug bleiben müssen, bis ich vorbei bin).“
Bei der Selbstbestimmung über den Geschlechtseintrag ist das anders. „Ich will selbst bestimmen, unter welchen Geschlechtseintrag ich geführt werde“, beruht NICHT darauf, dass andere sich in Bezug auf ihr Geschlechtsverhalten einschränken müssen.
Der Unterschied ist also: In welchem Maße beruhen Freiheiten auf Einschränkungen als Voraussetzung? Alle, die Freiheiten für sich einfordern, sollten zumindest immer mit bedenken und mit benennen, welche Einschränkungen sie dafür bei anderen voraussetzen. Dann kann sich eine Gemeinschaft immer noch dazu entscheiden, das gemeinsam so zu machen oder nicht.
Den Grundgedanken, von dem sich Paulus bei solchen Diskussionen über Freiheiten und Einschränkungen leiten lässt, hat er im ersten Korintherbrief formuliert:
»Alles ist mir erlaubt!« Wer so redet, dem antworte ich: Aber nicht alles, was mir erlaubt ist, ist auch gut für mich und für andere. – »Alles ist mir erlaubt!« Aber es darf nicht dahin kommen, dass ich mich von irgendetwas beherrschen lasse. (1. Kor 6,12 NGÜ)
Wenn also eine Person eine Fahne schwenkt, auf der steht: „n Scheiß muss ich!“, würde Paulus zurückfragen: „Ok, in Bezug auf das, was du gerade meinst: Was daran ist gut für dich? Was daran ist gut für andere? Gibt es vielleicht etwas, was seinerseits dein Denken und Tun gerade beherrscht? Und wie wirkt sich das auf andere aus, wenn du „n Scheiß musst“? Was setzt du dafür bei anderen voraus, damit du das so handhaben kannst? Und inwieweit führt dein (Nicht-)Handeln dazu, dass andere handeln MÜSSEN – oder nicht mehr handeln KÖNNEN?“
Wie gesagt, diese Fragen sind erst mal ergebnisoffen. Sie sollen nur klären helfen, was eine bestimmte Haltung für eine Gemeinschaft bedeutet. Es obliegt der beteiligten und betroffenen Gemeinschaft, gemeinsam einen Umgang damit zu finden (sie zusammen sollen entscheiden, egal ob das 2 oder 3 Menschen sind oder 80 Millionen). Manches wird gehen, anderes nicht. Nur entscheide ich das in einer Gemeinschaft halt nicht alleine. Eine Gemeinschaft kann durchaus zustimmen und sagen: „Stimmt, n Scheiss musst du. Nimm dir frei, bleib zuhause, wir kriegen das schon hin.“ In anderen Fällen kann eine Gemeinschaft aber auch sagen: „Mmmh, nee, geht gerade nicht, wir brauchen dich jetzt.“ Oder die Lösung ist: Mal so, mal so. Oder vorübergehend. Oder nicht alle auf einmal.
Der eben zitierten Grundsatz von Paulus setzt direkt beim Liebesgebet Jesu an („Liebe G*tt, und liebe deine*n Nächsten wie dich selbst“, s. Markusevangelium 12,29-31). Ich könnte mich also auch direkt daran orientieren und fragen:
- Welche Anteile in meiner Haltung rühren daher, dass ich andere gerade über mich selbst stelle?
Was darin ist nützlich für mich und andere? - Welche Anteile in meiner Haltung rühren daher, dass ich mich gerade über andere stelle?
Was darin ist nützlich für mich und andere? - Gibt es vielleicht noch andere Einflüsse außer G*ttes befreienden Zusagen, die mich gerade bestimmen?
- Und wie kann ich das alles jetzt so verschränken, dass meine Haltung im Ergebnis sowohl für mich als auch für andere Respekt zeigt?
In der MCC Köln zum Beispiel haben wir seit den 90er Jahren eine Form von Abendmahl, die immer auch diejenigen mitdenkt, die einen niedrigen Immunstatus haben (damals hat z.B. HIV in dieser Hinsicht noch eine große Rolle gespielt). Seit Corona haben wir die Form des Abendmahls nochmal abgeändert, wieder mit dem Ziel, dass ALLE mitfeiern können, die das möchten.
Auch die Gottesdienste insgesamt sollen allen zugänglich sein trotz Pandemie – dafür haben wir durchgängig auf die Mund-Nasen-Maske gesetzt. Wir haben nie den Impfstatus zur Voraussetzung gemacht; unsere Gottesdienste sind immer offen für Geimpfte UND Ungeimpfte. Und diejenigen, für die das mit der Maske nicht geht, die können online mitfeiern. Auch hier der Gedanke: Wie kann unser Handeln möglichst vielen einen Zugang bieten?
Manche Freiheiten haben wir damit neu geschaffen, andere Einschränkungen hat das zur Voraussetzung. In beidem möge unser Handeln ein Ausdruck der Freiheit sein, zu der Christus uns befreit hat – in Bezug auf uns selbst als Individuum und in Bezug aufeinander als Gemeinschaft.
(1) Zum Welttag der Sozialen Gerechtigkeit:
Heute ist der Welttag der Sozialen Gerechtigkeit. In vielen Bereichen herrscht soziale UNgerechtigkeit – bei der Verteilung von Vermögen, beim Zugang zu Bildung, wer von Armut betroffen ist, wer im Gesundheitssystem (gut oder überhaupt) behandelt wird und wie sich die Coronapandemie auswirkt.
Der Sozialstaatsgedanke des Grundgesetzes in Deutschland beinhaltet, dass „[d]em Bürger (…) eine Mindestsicherheit zur Führung eines selbst bestimmten Lebens in Würde und Selbstachtung gewährleistet sein“ soll. (http://www.kleiner-kalender.de/event/welttag-der-sozialen-gerechtigkeit/99629.html) – Wobei allein schon der Zugang dazu, als Bürger*in in Deutschland anerkannt zu werden, ungleich verteilt ist.
Die Vereinten Nationen haben den Tag ins Leben gerufen, weil soziale Ungerechtigkeit den Frieden und die Sicherheit gefährdet. Umgekehrt könnten soziale Gerechtigkeit nur erreicht werden, wenn Frieden und Sicherheit gewährleistet sind und wenn Menschenrechte und Freiheitsrechte anerkannt werden. (https://www.un.org/en/observances/social-justice-day )
Weitere Infos:
https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/327336/welttag-der-sozialen-gerechtigkeit/
http://www.kleiner-kalender.de/event/welttag-der-sozialen-gerechtigkeit/99629.html
(2) Das Autobahnbeispiel habe ich aus diesem Artikel:
„Schale Freiheit. Nachdenken über einen zerfledderten Sachverhalt“
https://www.deutschlandfunk.de/schale-freiheit-100.html