Predigt MCC Köln 8. Nov. 2015
Ines-Paul Baumann
Mk 12,38-44 „Das Scherflein der Witwe“
Die Frau im Tempel war kein arme Witwe – sie war arm, weil sie eine Witwe war. Und weil sie in einem religiösen System lebte, das Teil des Problems war, nicht Teil der Lösung.
Dieser Text ist ein Anklage. Warum trägt ausgerechnet die Religion zur Armut bei, anstatt sie zu verhindern? Warum gibt die Witwe ihr letztes Geld, anstatt welches zu bekommen? Wie kann es sein, fragt der Jesus des Markus-Evangeliums, dass ausgerechnet der Tempel dafür steht, den Armen auch noch das Letzte zu nehmen anstatt sie zu unterstützen? Warum sieht niemand im Tempel, dass vor ihren Augen jemand kurz vor dem Verhungern steht und keine Unterstützung bekommt? Und: Warum hält die Witwe trotzdem daran fest, mit diesem Tempelsystem ihre letzte Habe zu teilen?
Was ist da passiert, in den Köpfen der Religionsvertreter – und im Kopf der Witwe?
Das Markus-Evangelium zeigt hier eine Religion, die Gläubige ausbeutet und unterdrückt – und das Ganze auch noch so geschickt tut, dass die Ausgebeuteten dieses System auch noch unterstützen.
„Darum erwartet sie ein besonders hartes Urteil“, schreibt das Markus-Evangelium. Und genau dieses Urteil liefert es gleich mit.
Dieser Text ist bis ins Detail eine unbequeme Analyse:
- Die Religionsvertreter tun alles, um gesehen zu werden – aber die Witwe und ihre Not sehen sie nicht.
In der Öffentlichkeit wahrgenommmen zu werden ist ihnen wichtiger als diejenigen wahrzunehmen, die in der Öffentlichkeit nichts zählen.Auffällige Gewänder tragen, sich auf der Straße grüßen lassen, die vordersten Sitze und Ehrenplätze beanspruchen: so beschreibt der Text die Religionsvertreter. Ganz anders Jesus, der der Schatzkammer GEGENÜBER sitzt (= in Opposition dazu? *): Jesus schaut hin, und dabei sieht er die Witwe.
- Die Wertmaßstäbe richten sich nach denen, die die Macht und das Sagen haben, anstatt mit den eigenen religiösen Werten diese Macht und diese Stimmen zu hinterfragen und zu durchbrechen.
Es ist ein kleines Detail, das in den meisten Übersetzungen des Bibeltextes leider verloren geht: Das Markus-Evangelium rechnet das „Scherflein der Witwe“ in die Währung des Römischen Reiches um. Die Zürcher Bibel erwähnt es: „Da kam eine arme Witwe und warf zwei Lepta ein, das ist ein Quadrant.“ Quadrans, das sind die Münzen der römischen Imperialisten. SIE bestimmen die Wertigkeiten und Werte, sogar den Wert der Gaben im jüdischen Tempel.
- Anstatt die eigenen Mittel an die Ausgebeuteten weiterzuleiten (z.B. um ihnen eine Existenz oder gar Teilhabe und Gerechtigkeit zu ermöglichen), dient das religiöse System der Weiterleitung der Mittel der Ausgebeuteten an die Ausbeuter.
„Letztlich kommt der Betrag dem römischen Markt zugute, entweder nach kurzer Zeit, weil der Jerusalemer Tempel ohnehin integraler integraler Bestandteil der Wirtschaft des Imperiums war, oder spätestens mit der Plünderung des Jahres 70“. *)
Diese Beobachtungen und Anklagen teilen viele Religionskritiker_innen heute.
Religionskritische Menschen erleben in der Öffentlichkeit Christen, die viel dafür tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Christen sind im Fernsehen vertreten (oder können gar selber Fernsehkanäle betreiben). Religionsvertreter laufen in langen Gewändern herum, die ihre Wichtigkeit unterstreichen (ich erlebe selbst, wie toll und wichtig es manche finden, wenn ich als Ältester mein „langes Gewand“ anziehe). Christen haben genügend Mittel und Kontakte, um in den Medien und in der Politik ihre Stimme geltend zu machen. (Beim Bildungsplan in Baden-Württemberg wunderten sich selbst Politiker, wo die religiösen Verfechter ihre Kontaktdaten herhatten.)
Religionskritische Menschen erleben Gemeinden, in denen diejenigen, die viel zu geben haben (sei es Geld, Zeit, Engagement, Kontakte, …), gesehen werden und Anerkennung erfahren – und diejenigen, die weniger geben und weniger einbringen, auch weniger wichtig sind. (Manchmal werden diejenigen mit weniger Einsatz sogar so behandelt, als seien sie auch „weniger“ gläubig: Wer einen großen Einsatz zeigt, hat einen großen Glauben. Wer wenig Einsatz zeigt, hat wenig Glauben.)
Religionskritische Menschen erleben Gemeinden, die nicht mitbekommen, wie in ihrer Mitte Menschen leiden und zugrunde gehen – Menschen, deren Nöte nicht wahrgenoommen und nicht adressiert werden. Manche der Betroffenen geben genau wie die Witwe auch noch ihr Bestes für das Wohl der Gemeinde. Ihr eigenes Wohl interessiert aber niemanden. Und wie oft glauben sie auch noch, das wäre in Ordnung so! Wie viele von ihnen haben verinnerlicht, dass sie kein Recht haben, mit ihren Nöten gesehen zu werden oder gar Unterstützung zu erfahren. Insbesondere innere Nöte haben oft keinen Raum (oder werden ausgenutzt): Depressionen, Selbstverleugnung, Selbstverachtung, … Wie viele Nöte erfahren Menschen inmitten von Gemeinden!
Genau so drastisch, wie der Text seine Analyse liefert, liefert er aber auch das Gegenmittel: Es ist tatsächlich die Witwe. Nicht, weil ihre Armut so vorbildlich ist. Sondern weil sie nicht aufhört, ihren Beitrag leisten zu wollen für eine bessere Welt. Wenn alle anderen es ihr nachtun würden, sähe die Welt anders aus. (Für die USA gibt es eine Berechnung: Wenn alle Bürger_innen 5% ihres Einkommens und 5 Stunden pro Woche für Wohlfahrtsorganisationen zur Verfügung stellen würden, gäbe es keine Nöte mehr, die nicht gestillt werden könnten.)
Die Witwe im Markusevangelium ist der Stachel im Fleisch der Sachzwänge und Alternativosigkeiten. Mit der Witwe sagt das Markusevangelium: „Halte fest an dem, was du für richtig hälst. Handle weiterhin in der Hoffnung, dass es ein Miteinander geben kann, in dem alle Mittel dem Wohle aller dienen.“
Damit, dass die Witwe diese ihre Mittel immer noch ausgerechnet dem religiösen System anvertraut, erinnert es dieses System an seine Verantwortung. Ohne sie geht es nicht: Religion, Staat und Wirtschaftsysteme müssen ihren Beitrag dazu leisten, dass die Mittel gerecht verteilt werden. Aber auch da, wo Religion und Staat und Wirtschaft Verrat begehen, begeht die Witwe nicht auch noch Verrat.
In vielen Kirchen und Gemeinden gibt es solche Menschen. Sie halten fest an dem, was sie für richtig halten, auch wenn sie dafür keine Unterstützung bekommen und in Nöte geraten (in innere und in äußere Nöte, in soziale und materielle Nöte). Auch die MCC wurde von so einem Menschen gegründet. Viele wollten ihn warnen: Das sei naiv. Das sei gefährlich. Aber Troy Perry hielt an dem fest, was er für richtig hielt.
Die Antwort auf das Versagen religiöser Systeme liegt für uns nicht darin, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir halten daran fest, dass Kirchen und Gemeinden Orte sein können (müssen!), in denen Menschen in Not Unterstützung finden. Dass wir als Kirche eine Stimme sein können (müssen!), die Unrecht anklagt. Dass wir als Kirche Not wahrnehmen, benennen und bekämpfen müssen.
Und alle hier, die trotz allen Unrechts und trotz aller Not, die sie schon erlebt und beobachtet haben, an ihren Werten festhalten und danach handeln, sind genau so wie die Witwe: Überall, wo sie sind, ruft Jesus seine Anhänger_innen zusammen, um auf sie zu zeigen und zu sagen: „Seht her, so geht es auch! Glaubt nicht, dass ihr euch anpassen und unterkriegen lassen müsst!“
Als Kirche und als Glaubende in der Nachfolge Jesu kann es für uns nicht nur darum gehen, von wem wir gesehen werden. Es geht vor allem darum, wen wir sehen.
- Womit wirst du übersehen?
- Welche Nöte in dir haben keine Stimme und kein Recht – oder werden sogar auch noch ausgenutzt?
- Wo hälst du daran fest, dich einzubringen und damit zu einer Welt beizutragen, wie du sie dir vorstellst?
- Welchen Unterschied macht es für dich, dass Jesus deinen Einsatz (sei er äußerlich gemessen „noch so gering“ oder mit deinem ganzen Leben) sieht und wertschätzt?
* Andreas Bedenbender: „Frohe Botschaft am Abgrund. Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg“ (Leipzig 2013)
** Quadrans: https://de.wikipedia.org/wiki/Quadrans
Danke an Rev. Elder Dr. Mona West und Rev. Dr. Durrell Watkins für grundlegende Impulse.