Ines-Paul Baumann
Lk 10,1-9: Die Aussendung der Siebzig
Muskel- und waffenstrotzende Männer mit Sonnenbrillen und grimmigem Blick, wahlweise in Anzügen oder Militäroutfit (und mit einer langhaarigen und langbeinigen Vertreterin der Damenwelt im Hintergrund): Die Helden vieler Videotheken-Schaufenster strotzen nicht gerade vor Widerstandskraft gegen Klischees. Aber nicht alle Helden haben ihren Status aufgrund ihrer vermeintlichen Männlichkeit; es gibt ja auch noch die Biene Maja, das Sams, Harry Potter, die Hobbits und ihre Mitspieler in „Der Herr der Ringe“, …
Bei Worten wie „Kirche“ und „Christentum“ denken Menschen eher selten an den Charme, die Fantasie, den Witz und den menschenfreundlichen Umgang der zuletzt genannten.
Dabei klingen die Worte Jesu bei der Aussendung siebzig seiner Anhänger/innen anfangs noch so gar nicht nach angsteinflößenden Machtdemonstrationen:
– „Wenn ihr in ein Haus kommt, sprecht zuerst: Friede sei diesem Hause! (nicht: „Das Kreuz der christlichen Kirche sei in diesem Hause!“, auch nicht: „Anbetung Jesu sei in diesem Hause!“)
– genießt Gastfreundschaft,
– bringt den Kranken und Schwachen Heil und Heilung,
– und verkündet, dass das Gottes Reich nahe herbeigekommen ist
Falls jemand nix davon hören will, zieht einfach weiter, und nehmt euren Frieden mit.
Lassen sich Kirche und Christentum daran messen?
Lassen wir uns als MCC daran messen?
Auf welche Helden stützen wir uns in unserer Arbeit? Welche Mittel und Mächte setzen wir ein, um unsere Ziele zu erreichen?
Manche, die es gut mit der MCC meinen, empfehlen uns, mehr auf Geld und Marketing und Trickkisten zu bauen. Auch im Gottesdienst und im Gemeindeleben könnten wir doch etwas mehr mit Bedrohungsszenarien Gruppendruck arbeiten, äh mit Gruppendynamik wollten wir natürlich sagen. Ein bisschen mehr soziale Kontrolle – und alle, die wir mit unserem tollen Marketing eingefangen haben, werden treue und ergebene Diener der MCC – äh, Diener Gottes wollten wir natürlich sagen….
Dann gibt es die Gegenstimmen: Nein bloß nicht! Marketing, igitt! Je weniger davon, desto besser! Wehe, wir würden an uns arbeiten oder irgendwas verbessern: Je weniger wir hinbekommen, desto mehr kann sich Gottes wunderbares Wirken ausbreiten.
Sind das die beiden Alternativen, vor die Gott uns stellt? Entweder Spielchen mitzumachen oder uns immer von vorneherein möglichst mittellos und irrational zu geben? Ist die Ansage, dass wir wie Lämmer unter die Wölfe gesandt sind, nicht das ausschlaggebende Argument dafür, selber möglichst wenig „im weltlichen Sinne“ gut hinzubekommen?
Wenn mir jemand sagt: „Ich sende dich wie ein Lamm unter Wölfe“, da lautet doch die einzige vernünftige Antwort: „Danke, da bleibe ich lieber zuhause.“ Wir müssen nicht die Bibel kennen, um zu wissen, was mit Lämmern unter Wölfen geschieht: sie werden zerrissen und gefressen.
Warum sagt Gott also so etwas? Warum legt Gott einen Auftrag in die Hände von Lämmern unter Wölfen? SOLL da etwa nix draus werden? Wie heißt das, wenn Menschen etwas absichtlich so angehen, dass da nix draus wird? Hatte Jesus vielleicht auch diese Krankheit?
Die 70, die er losschickt, sollen so gut wie nichts mitnehmen, und von einer langfristigen Vorbereitung mit Schulungen und gutem Training ist auch nichts zu erkennen. Beschränkte Mittel und mangelnde Vorbereitung: SOLL die Sache nicht gelingen?
Warum also schickt Jesus die 70 los wie Lämmer unter die Wölfe? Um das zu verstehen, ist es dann doch hilfreich, ein bisschen mehr aus der Bibel zu kennen:
– Im Alten Testament gibt es die Vision einer Zukunft, in der Wolf und Lamm zusammen weiden, Seite an Seite, friedlich beieinander. (Jes 11,6)
– Im letzten Buch des Neuen Testaments hat das angegriffene Lamm letztenendes überlebt und „ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“ (Offb 5,12)
Die Geschichte mit den Lämmern und den Wölfen kennt also verschiedene Abschnitte. Aktuell und in unserer Erfahrung werden Lämmer von Wölfen angegriffen und gefressen. Aber es wird eine Zeit geben, da wird das anders aussehen: Das Lamm wird sich quasi durchgesetzt haben. Damit ist der Spieß aber nicht einfach umgedreht (= die Lämmer fressen die Wölfe wie die Revolution ihre Kinder), sondern in der Welt des Lammes hat auch der Wolf einen Platz: auch er ist Teil eines friedlichen Miteinanders.
Nichts anderes ist der Kern der christlichen Botschaft: Alle (und alle unsere Anteile) haben Platz in der Liebe Gottes. Alle (und alle unsere Anteile) sind eingeladen in ein Miteinander, wo sich Menschen nicht mehr gegenseitig verletzen und ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzen müssen. Alle und alles, was bisher zerstörerisch gewirkt hat, findet einen Platz MIT den ehemals Angegriffenen, nicht durch ihre Vernichtung.
Nun mag das Szenario von dem gemeinsamen friedlichen Dasein für Lämmer eine frohlockende Aussicht sein – für Wölfe ist es das in ihrem aktuellen Dasein gar nicht.
Die Nachricht von Gottes bedingungsloser Liebe (samt aller Konsequenzen) stößt nicht überall auf Zustimmung, vor allem nicht da, wo Macht und Mächtige sich (zurecht…) bedroht fühlen. Da reagieren sie auch mal mit Attacken (wie Wölfe) und verschlingen die friedlich Gesinnten (die Lämmer).
Menschen, die aus dem Gegeneinander heraus für ein offenes Miteinander einstehen, bekommen solche Attacken denn auch immer wieder zu spüren: Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King, Troy Perry, „die erkennbare Transe“, von Brandanschlägen und Bombendrohungen betroffene MCC-Gemeinden, oder an diesem Wochenende die Menschen beim CSD in Moskau.
Würden wir das Engagement all dieser Menschen als unvernünftig, sinnlos und überflüssig bezeichnen? Manche Menschen tun das tatsächlich. Sie tragen damit genau dazu bei, dass auch noch die letzten sich entmutigt und aufgefressen fühlen. Als hätten sie keine Wahl mehr: „Macht es wie die Wölfe oder seid darauf gefasst, verschlungen und vernichtet zu werden!“
Auch Menschen mit den besten Absichten greifen dann zu „Wolfs“-Mitteln: Sie hoffen auf Vorteile durch Androhungen, Deals, Bestechung, Gewalt, unverdiente Privilegien …Was ist das Ergebnis? Noch mehr Gewalt, noch mehr Verletzungen – eine bessere Welt ist das nicht.
Gibt es für Lämmer also nur die Wahl, sich fressen zu lassen oder zu den Mitteln des Wolfes zu greifen? Ist das die einzige Möglichkeit, mit der Lämmer ihren Wunsch nach Frieden durchsetzen müssen?
„Lammeskraft“ ist nicht „Manneskraft“ im Sinne der Männlichkeit der Videotheken-Helden. Unsere Kraft und unsere Macht als Nachfolgende Jesu sind anders. Bei seiner Festnahme und Kreuzigung ist Jesus nicht weggerannt und hat seine Angreifer nicht zurückgeschlagen, sondern er hat für sie gebetet. Jesu Handeln war geprägt von der Überzeugung: „Meinen Körper könnt ihr zerstören, aber damit könnt ihr mich und meine Botschaft nicht töten.“
Es ist diese Überzeugung, dieser Glaube, wo jene Manneskraft an der Lammeskraft scheitert:
– „NICHTS kann uns von der Liebe Gottes trennen!“ (Röm 8,39)
– „Gott sah an alles was sie gemacht hatte und siehe es war sehr gut.“ (Gen 1,31)
– „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ (Ps 23)
Das ist die Power, die Kraft, die Macht, auf die Jesus baut, wenn er uns aussendet: „Ich sende euch aus, damit ihr einen Unterschied macht. Es wird vorkommen, dass ihr dafür angegriffen werdet, missverstanden – aber ihr seid nicht wehrlos. Haltet euch an das, was IHR für richtig und wichtig erkannt habt. Lasst euch nicht ein auf die Ebene der Wölfe – sinkt nicht auf sie herab, sondern steht auf und geht darüber hinaus.“ Auferstehung: Die Kraft des Lammes, nicht die der Wölfe, bringt Heil und Heilung in unsere Welt.
Bei der Lammeskraft geht es nicht darum, mit Manneskraft ANDERE zu manipulieren und einzuschüchtern – bei der Lammeskraft geht es darum, bei sich selbst anzufangen und die eigenen inneren Dämonen zu besiegen, diese ganze Legion an inneren Stimmen, die uns sagen: „Das schaffst du nicht, das lohnt sich nicht, das darfst du nicht, das brauchst du doch gar nicht, ….“
Bei der Lammeskraft geht es nicht um Militär und Tod und Zerstörung. Paulus beschreibt im Neuen Testament die Waffenausrüstung der Christen und Christinnen, die genau das Gegenteil davon ist: Wahrheit statt manipulativer Lügen. Gerechtigkeit statt Begünstigungen. Frieden statt Drohungen. (Eph 6,14-17)
Die Mittel des Lammes bauen Selbstbewusstsein auf, statt Leute kleinzumachen. Sie heilen innere Wunden, statt weiter sich und andere zu verletzen. Sie wehren sich gegen Privilegien genau so wie gegen Benachteiligungen, anstatt selber Sonderrechte und Begünstigungen für sich in Anspruch zu nehmen. Sie bringen Licht ins Dunkel von Furcht, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Wölfe mögen uns verletzen, aber sie können uns die Menschenwürde nicht nehmen, und erst recht nicht die Liebe Gottes und unsere Widerstandskraft und unseren Auftrag, Frieden auszurufen, Gastfreundschaft zu praktizieren und heilendes Miteinander zu gestalten.
Es gibt viele Wölfe, die uns Angst einjagen und einschüchtern und auffressen: Krankheiten, Wirtschaftsprobleme, dysfunktionale Familien, Betrug, ungerechte Gesetze, Naturkatastrophen, Bigotterie, Ignoranz – alles, was gefährlich ist und eine Zerstörung mit sich bringt.
Aber sie haben erst dann gewonnen, wenn wir nicht mehr aus unseren eigenen Überzeugungen heraus handeln:
– auf dem zu bestehen, was möglich ist,
– an der Vision einer besseren Welt für morgen festzuhalten und daran zu arbeiten,
– und darauf zu bauen, dass es andere Arten und Weisen gibt, in der Welt zu handeln und sich zu engagieren: Nämlich solche, wo wir Mauern einreißen und Hoffnung aufbauen.
Der Atem der Wölfe mag heißer sein, ihre Zähne schärfer, ihre Klauen reißender. Aber sie haben keinen Frieden, der höher ist als unsere Vernunft. Sie haben keine Freude, die uns niemand nehmen kann, denn ihre Quelle liegt in der allgegenwärtigen und ewigen Gott.
Dieser optimistische Blick in die Gegenwart und in die Zukunft mag angesichts unserer Welt sinnlos erscheinen – aber genau das ist die Kraft, die Leben wendet. Die Aggression von Wölfen hat nie Heilung gebracht. Es ist die Lammeskraft, die das tut. Die Kraft des Heilens ist sehr viel mächtiger und nachhaltiger als die Kraft des Zerstörens.
Wölfe können nicht unsere Haltungen und Werte berühren. Das können nur wir selbst. Aber genau das können wir auch!
Ja, wir sind gesandt in eine Welt voller Angst, Ungerechtigkeit, Selbstbezogenheit, Verbitterung, Krankheit und Missbrauch – in eine Welt voller Wölfe.
Aber wir sind nicht dorthinein gesandt, um einer von ihnen zu werden.
Wir sind auch nicht gesandt, um ihr Opfer zu sein.
Wir sind gesandt, um ihnen und uns einen anderen Weg zu zeigen:
Der Weg der Lammeskraft fängt bei uns an, in unserem Inneren, in unseren Haltungen, in unseren Entscheidungen, in unserem Blick auf uns und auf die Welt.
Wenn sich unser Blick auf die Welt ändert, wird sich verändern, wie wir die Welt erleben.
Wenn sich verändert, wie wir die Welt erleben, wird sich auch ändern, wie wir auf die Welt reagieren.
Und wenn sich ändert, wie wir auf die Welt reagieren, dann wird das – wie langsam auch immer – die Welt verändern.
Diese Predigt beruht zum Teil wörtlich auf Gedanken von Rev. Dr. Durrell Watkins: http://sermons.sunshinecathedral.org