Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann
Lukas 10,38-42 (Martha und Maria)
„Alternativlos“ scheint ein Lieblingswort unserer Zeit zu sein. Was wird damit nicht alles „begründet“. Statt Wahlfreiheit bestimmt Wählerfrust den Handlungsrahmen. Wer vertritt noch den Glauben an andere Möglichkeiten? Wo sind neue Stimmen, andere Stimmen? Wo sind Widerspruch und Widersprüche gern gesehen oder gar gefördert?
Ein paar davon liefert uns Lukas heute mit seiner Geschichte von Martha und Maria. Darin stellt er seinen Jesus vor, der uns sehr wohl zutraut, gesunde und heilende Alternativen zu leben: „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“
Wie Martha müssen allerdings auch wir oft erst mal an den Punkt kommen, dass wir total genervt sind, bevor wir Alternativlosigkeit nicht mehr als Garant von Glückseligkeit wahrnehmen. Wie oft halten wir das immer wieder aus: den ganzen Stress, die ganzen Sorgen, die ganzen Ansprüche, die ganzen Erwartungen. Bin ich gut genug? Bin ich genug Frau, bin ich genug Mann? Tue ich genug? Tue ich genug für andere? Tue ich genug für mich?
Auch in der christlichen Variante gibt es diesen Fragen: Tue ich genug für mein Glaubensleben? Fühle ich genug, um in diesem Gottesdienst etwas von Gott spüren zu können? Bin ich konzentriert genug, dass meine Gedanken nicht dauernd abschweifen? Bin ich heute fit genug und ausgeglichen genug für einen Gottesdienstbesuch?
Gefühle von Genervtsein, Wut, Frust und Neid können bei solchen Fragen ein Segen sein: Sie zeigen dir, dass etwas so nicht weitergehen kann. Pack sie nicht weg, weil sie doch angeblich nicht zum Frieden passen, der insbesondere in Gemeinden herrschen („…“!) soll. Schieb sie nicht beiseite, nur weil du dich nach Ruhe sehnst: Die Ruhe kehrt nicht dadurch ein, dass du dich verleugnest und deine Gefühle unter den Teppich kehrst.
Vielleicht sehnst du dich nach spirituellem Seelenfrieden und erwartest, nur mit angenehmen Gefühlen erfüllt zu sein. Nur weil wir uns hier zum Gottesdienst treffen, sind wir aber nicht plötzlich alle ausgeglichene Ruhepole des Friedens und der Gelassenheit, unberührt von allen Aufgaben und Erledigungen und Erwartungen.
Genau da, wo Martha spürt, wie genervt sie ist, wendet sie sich damit unverhohlen an Jesus. Warum sollten nicht auch wir in unseren Gottesdiensten unsere Genervtheiten mitbringen und uns damit an Jesus wenden?
Natürlich führt auch das nicht automatisch zu guten Gefühlen. Im Gegenteil, oft fängt das Hadern jetzt erst richtig an. Als Martha merkt, wie gestresst und genervt sie ist, ist sie wütend.
Nun ist sie allerdings nicht wütend auf diejenigen, für die sie sich die ganze Arbeit macht. Sie könnte ja auch zu Jesus gehen und IHN ankeifen: „Lieber Jesus, ich habe die Nase voll davon, dass du mit deinen Gästen hier rumhängst, ich WILL mir keine Arbeit mehr für euch machen!“
Sie könnte auch auf sich wütend sein. Sie könnte zu Jesus gehen und sagen: „Lieber Jesus, ich bin ja so ein Idiot mit meinen Ansprüchen daran, euren und meinen vermeintlichen Erwartungen entsprechen zu wollen. Ich habe die Nase voll. Hilf mir, mehr auf mich zu achten als auf das, was ich an Erwartungen wahrnehme.“
Aber nein, wütend ist sie auf ihre Schwester. Wütend ist sie nicht auf diejenigen, FÜR die sie die ganze Arbeit macht; auch nicht auf sich selbst, DIE sie sich die ganze Arbeit macht. Wütend ist sie auf die, die sich ganz anders verhält. Das ist nämlich Verrat an ihrem eigenen System. „Ja wie, das soll auch gehen: Einfach mal aus den Erwartungen auszubrechen und sich hinsetzen?“
Martha ist ausgerechnet wütend auf diejenige, die ihr vorlebt, dass es auch anders geht. Die nicht so handelt, wie sie selber. Wie oft sind wir genau deswegen auf jemanden wütend, weil es mit uns zu tun hat, was der oder die macht. Da mühen wir uns ab, bringen uns ein, geben uns Mühe, investieren Zeit und Energie – und keine/r dankt’s, keine/r merkt’s, und reichen tut es eh nie. Aber DIE da, DIE steht (OK, sitzt) mittendrin – mittendrin in der Gemeinschaft und ganz nah bei der Hauptperson?!
Auch christliche Gemeinden können dazu neigen, Anlass zu geben für Fleißarbeiten, und bei denjenigen, die sich engagieren, Anlass zu Frusterlebnissen zu geben. „Ausgerechnet von einer christlichen Gemeinde hätte ich ja wohl was anderes erwartet! Ist ja auch nicht so, dass ich nichts anderes zu tun hätte.“
Also geht Martha zu Jesus und beschwert sich – nicht über diejenigen, die vermeintlich diese ganzen Aufgaben verursachen, auch nicht über sich selbst, die sie vermeintlich nicht klar kommt mit all den Erwartungen, die sie wahrnimmt, sondern wirklich genervt ist sie von „der da“. Sie ist ja so enttäuscht von dieser Person. Von der hätte sie wirklich mehr erwartet. Sie fühlt sich allein gelassen und im Stich gelassen.
Wie oft passiert genau das im Gemeindeleben. Freilich auch in anderen Zusammenhängen (Familien…, Teamarbeit…).
Und ich finde, Martha hat Recht mit ihrer Beobachtung! Immer wieder gibt es diejenigen, die sich rausziehen, die wenig bis gar nichts machen, und die damit auch noch durchkommen. Meint es Jesus ernst damit, dass wir alle so handeln sollen wir Maria: einfach nur hinsetzen, mal nix tun außer uns eine Pause gönnen und Impulse sammeln?
Warum geht Jesus nicht zu Maria und sagt: „Du, deine Schwester hat Recht. Pack doch mal kurz ein bisschen mit an, dann könnt ihr euch gleich beide hier dazusetzen.“
Jesus könnte auch die anwesenden Herren mit einbeziehen und mit gutem Beispiel vorangehen: „He Leute, Martha hat Recht, lasst uns mal alle aufstehen! Wenn wir alle mit anpacken, sollte das schnell erledigt sein, und Martha muss nicht als Einzige draußen sein.“
Jesus hätte sogar vorher was sagen können, bevor Martha an den Punkt kommt, wo nix mehr geht: „He Leute, wir müssen mal ein bisschen auf die Martha achten. Die macht immer so viel, ich bin echt in Sorge. Ich finde, sie macht in letzter Zeit keinen guten Eindruck. Vielleicht braucht sie mal mehr Zeit für sich.“
Ich weiß nicht, wie die Leiterin einer Klinik zur Behandlung von Burn-Out diese Geschichte wahrnimmt. Vielleicht wundert sie sich über die Ignoranz im Umfeld von Martha. Wir sollten als Gemeinde sehr aufpassen, ob auch wir nicht so ein Klima fördern. „Oh, der macht so viel. Toll!“ Wobei sich das meistens eher umgekehrt festmacht: „Hm. Die macht ja ein bisschen wenig in letzter Zeit. ist ja nicht so toll. Was stimmt denn da nicht?“
Vielleicht stimmt da gerade alles! Vielleicht nimmt sich da jemand genau das, was er oder sie gerade braucht. Wie gesund kann es sein, Erwartungen zu ent-täuschen!
Das gilt auch für die vermeintlichen Frauenrollen, die Maria und Martha präsentieren. Ist dies die perfekte Geschichte, um im Transfrauen-Seminar korrekte Verhaltensmuster für den perfekten weiblichen Auftritt einzuüben? Entweder immer dienen oder passiv dem Manne zu Füßen sitzen? Wer das darin sieht, liest Rollenerwartungen dort hinein statt dort heraus:
– Wer sagt denn, dass Martha keine selbstbestimmte Frau ist? Wird in der Geschichte irgendjemand erwähnt, der ihr Anweisungen gibt? Irgendein Mann an ihrer Seite, der ihr Vorgaben macht? Sie ist die Hausherrin, und eigentlich setzt sie doch nur um, was viele andere an ihrer Stelle auch von sich erwartet hätten: Gastfreundschaft ist ein hohes Gut. Und als sie merkt, dass es ihr zu viel wird, ergreift sie die Initiative und tut das kund. Gut gemacht, Martha! Wenn alle Frauen (und Männer) dieser Welt den Mund auftun würden, wenn ihnen etwas zu viel ist, sähe es aber ein bisschen anders aus in unseren Gesellschaften! OK, über das Wie und über die Erwartungen von außen und an sich selbst können wir gerne nochmal reden, aber der Anfang ist gemacht!
– Und entspricht Maria dem typischen Bild der Frau, wie sie da zu Füßen des Mannes sitzt, völlig passiv, nix sagt und nix macht? Es kann auch genau umgekehrt sein: Die Hörende ist hier eben nicht die Hörige! Vielleicht wurde damals, als das Lukasevangelium entstanden ist, gerade darüber diskutiert, ob bzw. welche Rollen die Frauen in christlichen Gemeinden einnehmen können / dürfen / sollen. Und da kann es sehr wohl eine Auszeichnung gewesen sein, selbst bei Jesus gesessen und ihm gelauscht zu haben. Sollte irgendjemand behaupten, dass Maria für eine bestimmte Aufgabe nicht in Frage käme, weil sie ja nicht zu den Männern gehört habe, die von Jesus unterrichtet worden seien – dem wäre hiermit ein Strich durch die Rechnung gemacht: Nix da, auch Maria war bei Prof. Dr. Jesus in der Vorlesung am Theologischen Institut Betanien!
Geht es also doch „nur“ darum, dass alle Christen so sein sollen wie Maria: Immer ganz vertieft in Jesu Worte? Ohne Bezug zu den schnöden weltlichen Aufgaben um uns herum?
Erstens dürfen wir nicht vergessen, dass diese Begebenheit direkt im Anschluss an die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt wird. Es ist, als ob das Lukasevangelium nochmal ganz deutlich machen wollte: „Leute (und insbesondere: Frauen!), zieht aus der Geschichte vom barmherzigen Samariter bloß nicht den Schluss, dass es um Selbstaufopferung geht. Kommt bloß nicht auf die Idee, euch jetzt immer und grenzenlos um andere zu kümmern. Glaubt bloß nicht, dass Jesus will, dass ihr jetzt nur noch für andere da seid. Passt auf euch auf! Setzt Grenzen! Gebt auf euch acht!“
Sollten wir etwa letzte Woche zum barmherzigen Samariter so gepredigt haben: „Na, tust du zu wenig? Oder beschäftigst du dich zwar gerne mit den Worten Gottes, übersiehst aber, was du für andere tun könntest in dieser Welt? Also, dann fang mal an mit dem Tun!“
Und sollte unsere Predigt heute plötzlich etwa so lauten: „Na, tust du zu viel? Statt dich mal mit den Worten Gottes zu beschäftigen, bist du völlig vereinnahmt von deinem Einsatz für andere? Also, hör mal auf mit dem Tun!“
Wird schon keiner merken, wie unsinnig das ist – es lag ja eine ganze Wochen zwischen den beiden Predigten??
Nein, genau das soll jede/r merken! Nur das eine wäre genau so falsch wie nur das andere! Keine dieser beiden Abschnitte erlaubt eine Predigt darüber, was Gott angeblich uns allen und immer zu sagen hätte!
Es geht nicht darum, dass wir uns aufopfern müssten im Dienst für andere – auch das Auftanken gehört dazu, Zeiten der Ruhe, Zeiten neuer Impulse. Nicht wieder als gestresstes „oh-jetzt-muss-auftanken“. Es geht nicht um Auszeiten, die immer noch dem Rhythmus des Funktionierens unterworfen sind. Jesus sagt nicht: „Mensch Martha, mach halt mal eine Pause wie Maria, dann wirst du deine Aufgaben danach auch wieder besser bewältigt bekommen.“ So eine Auszeit wäre immer noch den Erwartungen gewidmet. Jesus will uns aber Zeiten schenken, die gänzlich unabhängig von dem sind, wie wir sonst funktionieren wollen oder müssen.
Und umgekehrt dürfen auch solche Momente nicht für sich stehen bleiben. Es geht eben nicht darum, dass wir alle und immer wie Maria sein müssten. Maria zeigt eben nicht auf Martha und sagt: „Mensch Jesus, kann die nicht mal aufhören immer so rumzurennen? Die soll das genau so machen wie ich!“
„Mensch Jesus, kann die nicht mal aufhören, beim Singen immer so dick aufzutragen? Die soll das genau so machen wie ich!“
„Mensch Jesus, kann der nicht mal aufhören, immer so ruhig zu sein, wenn wir singen? Der soll mal so fröhlich und engagiert singen wie ich!“
„Mensch Jesus, kann der beim Beten mal aufhören, immer nix zu sagen? Der soll mal genau so laut beten wie ich!“
„Mensch Jesus, kann unser Gottesdienst nicht mal genau so sein, wie ich es mir vorstelle? Kann Ines-Paul die ganzen Leute hier nicht endlich mal lehren, was ich schon alles weiß und kenne und mag, damit auch sie endlich mal kennenlernen, was wahr und richtig und gut ist?“
Das ist nicht das Zuhören der Maria, die in der Gegenwart Jesu Frieden findet – und sich traut, ihren eigenen Maßstäben entsprechend zu handeln.
Das ist die Stimme der Martha, die eben keinen Frieden mehr hat mit dem, was sich so lange als richtig und gut dargestellt hatte – und ihre eigenen Maßstäbe für andere geltend machen möchte.
Das ist nicht das Zuhören der Maria, die für sich entschieden hat, was sie selbst gerade braucht, unabhängig davon, was andere jetzt von ihr denken.
Das ist die Stimme der Martha, die sich mit anderen vergleicht und alle abwertet, die anders handeln als sie.
Auch das können wichtige Impulse sein, die wir in der Gegenwart Jesu sammeln können. Wichtige Stimmen, die uns aus Erwartungen rausholen – aus den ganzen unausgesprochenen Erwartungen, die wir wahrnehmen in unseren Rollen als Frauen, als Männer, als irgendwas dazwischen oder als irgendwas darüber hinaus. Aus den Erwartungen, die wir mit Christsein verbinden. Aus den Erwartungen, die wir mit Gemeindeleben verbinden.
Wähle DEINEN guten Teil:
Von den Erwartungen anderer an dich:
Was soll von dir weggenommen werden, was soll bleiben?
Von deinen Erwartungen an dich selbst:
Was soll von dir weggenommen werden, was soll bleiben?
Von deinen Erwartungen an andere:
Was soll von dir weggenommen werden, was soll bleiben?
Von deinen Erwartungen an Jesus:
Was soll von dir weggenommen werden, was soll bleiben?