Ines-Paul Baumann
Viele verlassen sich auf ihre schnellen Pferde und die starken Muskeln ihrer Krieger; sie alle sind dem HERRN zuwider.
Doch seine Freude hat er an Menschen, die ihn ehren und ihm gehorchen und die mit seiner Güte rechnen.
Psalm 147,10+11
„Was Ines-Paul wohl heute predigt?“ Simone saß entspannt in ihrem Stuhl, mit offenen Ohren und offenem Herzen. Irgendwie hatte sie zu dieser kleinen Gemeinde mittlerweile Vertrauen gefasst. Die Gottesdienste taten ihr gut, ihre Reise mit Gott hatte wieder Fahrt aufgenommen, ihr Leben hatte neue Freiheiten, neue Perspektiven und neue Bedeutung bekommen. Natürlich war auch in dieser kleinen Gemeinde nicht alles perfekt. Manche Leuten nervten sie einfach manchmal, und manche Ansichten fand sie reichlich seltsam. Aber alles in allem hatte sie das Gefühl, in dieser Gemeinde auf eine gesunde, heilsame Form von Christentum gestoßen zu sein.
Eigentlich sollten das viel mehr Leute kennenlernen. Könnte diese kleine Gemeinde nicht noch viel mehr erreichen? Naja, das Geld war knapp, die Räume waren klein, es waren wirklich wenige Leute, und diejenigen, die da waren, gehörten auch nicht nur zu den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. Seit langem wurde jemand gesucht, der sich im Amt des Kassenwarts wohlfühlen würde. Bald würde im Vorstand wieder jemand vonnöten sein für das Sekretariat. Die Homepage war OK, aber die Vorkommen im Internet insgesamt müssten längst mal überarbeitet werden. Mit Musiker/innen war es auch noch knapp bestellt. Das Gottesdienst-Team wäre auch erweiterbar.
Simone war immer froh, wenn ein neues Gesicht im Gottesdienst auftauchte, das halbwegs so aussah, als könnte er oder sie eine Unterstützung für die Gemeinde sein. Leute mit Problemen gab es ja genug. Leute mit körperlichen und seelischen Krankheiten, Leute mit wenig Geld, ach, man konnte es den meisten halt doch ansehen. Wie froh war Simone, wenn Leute auftauchten, die gesund, fit und materiell abgesichert aussahen. Nicht nur, weil sie für sich auf weitere interessante Gesprächspartner oder nette Freundschaften hoffte. Sie dachte dabei natürlich auch an die Gemeinde: Vielleicht würde ja eine von ihnen ein Instrument spielen. Oder sich mit Computern auskennen. Oder mit Zahlen, Finanzen und Statisitken gut umgehen können. Oder die Gemeinde mit etwas mehr Geld unterstützen können. Oder mit Kontakten zu Medien oder zu wichtigen Menschen, die sich für die MCC Köln einsetzen könnten, damit sie noch bekannter wird. Simone fand es selbstverständlich, zu solchen Neuen dann besonders nett zu sein. Sie bot ihnen Kaffee an und einen guten Sitzplatz. Das war ja wohl das Mindeste.
Wie kommt es, dass die Penner und die Leute ohne Kohle bei euch nichts zählen? Wer macht euch denn eigentlich Probleme? Sind das nicht die Menschen, die eh viel Geld haben? Das sind doch die Leute, die euch verklagen und vor Gericht zerren! Gerade das sind doch die Leute, die sich über Jesus lustig machen. Sie lästern über denjenigen, zu dem ihr gehört. Wenn ihr allerdings das wichtigste Gesetz von Gott ernst nehmen würdet, dann wäre das eine gute Entscheidung. „Liebe die Menschen, mit denen du zu tun hast, so sehr, wie du dich selber liebst.“ Wenn ihr einen Menschen danach beurteilt, wie wichtig und toll er ist, dann steht das zwischen euch und ihm.
(Jakobus 2,1-9)
Simone erschrak ein bisschen über sich selbst. Es stimmte: Sie hatte angefangen. Menschen danach zu beurteilen, wie wichtig und toll sie sind. Ganz unbewusst teilte sie Menschen ständig ein:
– in die Nützlichen und die Störenden
– in diejenigen mit gutem Auftreten und die, deren Äußeres eher vernachläsigt war
– die intellektuell Herausfordernden und die Einfältigen
– diejenigen, die oft in den Gottesdienst kamen, und diejenigen, die nur selten und unregelmäßig da waren
– die Katholischen und die Freikirchler
– die Stabilen und die Problematischen
– …
Simone war klar, dass das Wahrnehmen der Unterschiede an sich nicht das Problem war. Die Unterschiede waren real und hatten reale Konsequenzen. Aber sie konnte sich kaum dagegen wehren, dass sie damit auch Unterschiede machte, was ihren Respekt und ihre Achtung den Menschen gegenüber betraf. Und da standen ihre Einteilungen durchaus oft zwischen ihr und den anderen.
Und das betraf ja auch nicht nur die Menschen IN der Gemeinde. Das Vokabular ihrer früheren Gemeinden hatte seine Spuren hinterlassen auch in Bezug auch auf die Menschen, die NICHT Teil der Gemeinde waren: *)
Insgesamt wurden Menschen danach beurteilt, wie „nah oder fern sie Jesus stehen“.
Wurden danach eingeteilt, ob sie „schon“ oder „noch nicht“ Christen sind (etwas anderes gab es gar nicht).
Die „Verlorenen“ mussten „für Jesus gewonnen“ werden, zum Beispiel durch „Kennenlern-Nachmittage“ mit Grillen für die Nachbarschaft.
Messbar wurde der Erfolg durch die „Bekehrungen“, und das schlug sich natürlich nieder in den „Statistiken über das Gemeindewachstum“. (Dass Leute umzogen oder krank wurden oder andere Gemeinden fanden oder in alte Gemeinden zurückkehrten oder sich mal anderen Aufgaben widmen mussten, war in solchen Statistiken nicht vorgesehen.)
Simone wurde schlagartig bewusst, wie sehr schon die Worte zeigten, dass es hier in erster Linie um Projekte und Strategien ging, nicht mehr um Menschen.
Von Menschen, „die Gott noch ferne sind“, war sie längst nicht mehr in der Lage, sich einfach mal deren Perspektive anzuhören.
Alle die Menschen, die „noch nicht Christen“ waren, waren doch trotzdem Menschen mit Namen, nicht eine Kategorie.
Statt dass sie selbst „Menschen für Jesus gewinnen“ musste, könnte sie Jesus auch mal bitten, dass sie alle Menschen lieben könnte, auch die, die sich nie ansatzweise für Jesus interessieren.
Statt „Grillparties zum Kontakten der Verlorenen“ zu veranstalten, könnten sie die Nöte in der Nachbarschaft wahrnehmen, helfen und es nicht an die große Glocke hängen. Warum musste es immer um „Strategien und Projekte“ gehen – reichte es denn nicht, einfach da sein für und mit anderen?Und statt „ein Mal im Jahr Bedürftigen etwas Gutes tun“, könnte sie auch mit ihnen zusammen essen und ihren Geschichten zuhören.
Und bei den „Berichten über Gemeindewachstum“ wäre es doch auch mal möglich, nicht auf die Statistiken über die Mitgliederzahlen zu achten, sondern auf Zeugnisse von Menschen, deren Leben sich verändert hat.
Die Frage nach einem Gottesdienst müsste dann auch nicht sein: „Kommen die wieder? Wann treten sie bei?“ Sondern: „Hat der Gottesdienst ihnen geholfen, mit der Güte Gottes zu rechnen?“
Simone versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Wahl der Mittel sollte nicht zur „Tauglichkeits-Beurteiltung“ von Menschen führen – das wäre auch immer eine Abwertung der Möglichkeiten Gottes. Unterschiede sollten nicht zu Trennungen führen. Jede gesellschaftliche Bewegung, die in den letzten Jahren was verändert hatte – ob es um Rechte für Frauen ging oder für Homosexuelle oder für Transgender – , hatte immer beides: eine breite Solidarität unter den Menschen auf der Straße UND Zugänge zu den Schaltstellen der Macht und Mittel. Es ging also nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Die Alternative dazu, sich nicht auf die eigenen Mittel zu verlassen, war nicht die, sie ganz weg zu lassen. Natürlich konnten Flyer und Anzeigen sinnvoll sein. Natürlich waren Geld, Werbung, engagierte Mitarbeitende, ein angemessener Raum wichtig. Natürlich waren Armut und Not nicht an sich besser. Aber aus eigener Erfahrung wusste Simone, dass wir Gottes Wirken manchmal erst dann wahrnehmen, wenn wir mit unserem Wirken an unsere Grenzen kommen.
Gideon schickte alle zurück, nur die 300 Ausgewählten behielt er bei sich.
(Richter 7,1-8)
Na, das war ja mal ein Auswahlverfahren! Was hat die Art, wie jemand Wasser aus einem Fluss trinkt, bitte schön damit zu tun, ob er für eine Aufgabe geeignet ist? Simones Fantasie sponn den Faden direkt weiter: Vorstandswahlen in der MCC Köln. Ein Blick in die Runde. Diejenigen, die die Beine übereinander geschlagen haben, kommen in die engere Auswahl. Alle anderen sind von der Kandidatur ausgeschlossen. Das wäre ja mal lustig. Von wegen Leistungsfähigkeit und Geistesgaben und Stabilität. Ines-Paul würde sich ganz schön was anhören müssen! Simone fiel eine ähnliche Szene aus dem Neuen Testament ein. Wo die jemanden für eine bestimmte Aufgabe gesucht hatten und dann ein Los warfen. Damit sollte eine Gemeinde heute mal kommen. Heidnische Sitten! Obwohl, der MCC würde sie selbst sowas zutrauen, dachte sie amüsiert.
Vielleicht war Simone aber auch einfach deswegen gerade so gut aufgelegt und so befreit, weil in dem eben gelesenen Text alle diejenigen nach Hause gedurft hatten, die Angst gehabt hatten. Kein Druck, die Angst überwinden zu müssen. Kein Druck, mit der Angst umgehen zu müssen. KeinDruck, aus der Angst lernen zu müssen. Nix davon. Wer Angst hat, darf gehen, Punkt. Wie oft hatte Simone das anders erlebt – gerade in christlichen Kreisen. „Mit Gott bist du stark!“, hieß es dann. „Du hast wohl keinen Glauben! Du hast wohl kein Vertrauen!“
Dabei wären diejenigen mit Angst doch tatsächlich am ehesten offen gewesen für das, was Gott hier erreichen wollte: Dass nämlich der Dank an Gott geht und sich die Leute nicht selber auf die Schulter klopfen. Gerade diejenigen mit Angst wären doch die ersten gewesen, die dafür offen gewesen wären. Die gewusst hätten, dass sie trotz ihrer Angst und nicht wegen ihrer Stärke was erreicht hätten. Die erstaunt und dankbar und lobend zur Kenntnis genommen hätten, wie wunderbar Gottes Möglichkeiten sind ganz unabhängig von den eigenen Stärken und Schwächen.
Aber nein, Gott zwingt die Ängstlichen zu nix, sondern erlaubt ihnen, sich aus der Sache rauszuhalten. Du hast deine Grenzen? Ist OK, mach dir keinen Stress. Achte auf dein Gefühl. Wir schaffen das. Gerade in kleinen Gemeinden ist das so schwer! Wenn die Not so groß erscheint und die Mittel und Möglichkeiten so gering, wie schnell übernehmen wir dann etwas, was uns eigentlich zu viel ist. Gesund ist das nicht. Und Gott ehren tun wir damit auch nicht. Wenn wir etwas stemmen, weil wir uns übernommen haben, werden wir hinterher nur froh sein, wenn es vorbei ist – Dankbarkeit und Gotteslob gelten dann nicht dem Erreichten und dem, was damit in Folge möglich ist, sondern nur der Möglichkeit, dass wir uns endich wieder zurückziehen können.
Hat das noch damit zu tun, mit der Güte Gottes zu rechnen?
Simone hoffte, Gott würde ihr dabei helfen, sie und diese kleine Gemeinde weiterhin reich beschenken zu können, ohne dass ihr Blick auf Gott dann nachlassen würde. Wenn sie jetzt dranblieben, nicht bloß mit ihren eigenen Möglichkeiten zu rechnen, sondern stets und immer und in jeder Situation mit Gottes Güte, dann würden auch Reichtum und Überfluss sie kaum von der Güte Gottes trennen können. Wo ihr Bezug zu Gott nicht mehr von den Umständen abhängig ist, da hat Gott mit den Umständen in ihrem Leben freie Hand. Und Simone hätte dann endlich einen freien Blick auf ihre Mitmenschen und DEREN Anliegen, nicht nur auf deren Mittel für Simones Anliegen!
Er hat euch aus Ägypten, wo ihr Sklaven gewesen seid, herausgeführt.Er hat euch durch die große und gefährliche Wüste geführt, wo giftige Schlangen und Skorpione hausen, wo alles ausgedörrt ist und es nirgends einen Tropfen Wasser gibt. Aber dann ließ er aus dem härtesten Felsen Wasser für euch hervorquellen, und er gab euch mitten in der Wüste Manna zu essen, von dem eure Vorfahren noch nichts wussten. Durch Gefahr und Mangel wollte er euch vor Augen führen, dass ihr ganz auf ihn angewiesen seid; er wollte euch auf die Probe stellen, um euch am Ende mit Wohltaten zu überhäufen.
Vergesst das nicht und lasst euch nicht einfallen zu sagen: „Das alles haben wir uns selbst zu verdanken. Mit unserer Hände Arbeit haben wir uns diesen Wohlstand geschaffen.“ Seid euch vielmehr bewusst, dass der HERR, euer Gott, euch die Kraft gab, mit der ihr dies alles erreicht habt. Und er hat es getan, weil er zu den Zusagen steht, die er euren Vorfahren gegeben hat, wie ihr das heute sehen könnt.
(5. Mose 8,7-18)
*) s.a. http://www.churchleaders.com/smallgroups/small-group-articles/149920-9-ways-to-emphasize-people-not-projects.html