Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
22. Sept 2024
1. Korinther 7,1-9 / Rut 1,16b+17 / 2. Samuel 1,26 / Tag der bisexuellen Sichtbarkeit
Gestern waren in Köln ca. 800 Personen unterwegs, um gegen Schwangerschaftsabbrüche zu demonstrieren. Circa 3000 Personen haben dem widersprochen, haben Mythen und Falschbehauptungen richtiggestellt und haben ein lautes und sichtbares Zeichen dafür gesetzt, die Selbstbestimmung und das Leben schwangerer Menschen zu schützen.
An der Verbreitung von Falschbehauptungen beteiligen sich auch sehr viele „christliche“ Stimmen. Zu ihrem Weltbild gehört auch der Mythos, dass nur die cis-heterosexuelle, monogame Ehe „gottgewollt“ und „bibelgemäß“ sei. Dieses Beziehungsmodell ist im 18. Jahrhundert entstanden im Kontext der Kapitalisierung und der Romantik. Aber irgendwie schaffen sie es immer wieder, ein gerade mal 200 Jahre altes Beziehungsmodell in Bibeltexte hineinzulesen, die (zum Teil weit) mehr als 2000 Jahre alt sind.
Das Modell der cis-heterosexuellen, monogamen Ehe zwischen „Mann“ und „Frau“ hat noch nie für alle funktioniert. So fiel durchaus auf, dass es auch andere Formen sexuellen Begehrens und romantischer Gefühle gibt. Als Ergänzung zur „Heterosexualität“ findet sich seit 1869 der Begriff der „Homosexualität“.
Seit vielen Jahrzehnten lässt sich nicht unterdrücken, dass es auch unter christlichen Menschen ein gleichgeschlechtliches Begehren und Mögen gibt. Somit wurde es zunehmend wichtig, auch Homosexualität als „bibelgemäß“ zu begründen. Zwei Personen aus der Bibel werden hierfür besonders oft genannt:
Da ist zum einen das Buch Ruth. Hierin findet sich der bei (heterosexuellen) Eheschließungen beliebte Treueschwur:
Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun – nur der Tod wird mich von dir scheiden.
Rut 1,16b+17
Allerdings wurde dieser Satz gar nicht in einem heterosexuellen Setting gesagt, sondern von einer Frau zu einer Frau.
Das zweite berühmte Beispiel ist die Geschichte von David und Jonathan. Als Jonathan getötet wird, spricht David in seiner Trauer:
Schmerz kommt mich an wegen dir, mein Bruder Jonatan, du warst mir so lieb. Wundersamer war mir deine Liebe als Frauenliebe.
2. Samuel 1,26
(In anderen Übersetzungen heißt es: „wunderbar war mir deine Liebe, mehr als Frauenliebe!“ / „deine Liebe ist mir wundersamer gewesen, als Frauenliebe ist.“ / „Deine Liebe hat mir mehr bedeutet, als die Liebe einer Frau mir je bedeuten kann!“ / … )
Für beide Beispiele gilt aber: Zusätzlich zu den gleichgeschlechtlichen Beziehungen gab es auch gegengeschlechtliche Beziehungen.
Aus heutiger Sicht wären also beide biblischen Beispiele für homosexuelle Kontakte einzuordnen als bisexuelle Kontexte!
Im Umgang mit der Bibel passiert also genau dasselbe, wie es bi+sexuellen Menschen eh dauernd geht: Bi+sexualität wird unsichtbar gemacht.
Diese Unsichtbarkeit ist ein Problem – in fast jeder Auswirkung von Diskriminierung geht es bi+sexuellen Menschen noch schlechter als homosexuellen (psychische Verfassung, medizinische Versorgung, …).
Seit 1999 gibt es deswegen jeden 23. September (also morgen!) den Internationalen Tag der bisexuellen Sichtbarkeit.
Ich möchte das heute zum Anlass nehmen, zu einem Blick auf euch selbst einzuladen.
Von der Bibel her gibt es keine „göttlich gesetzte“ Form von Beziehungsgestaltung. Durch die Jahrtausende durch gibt es darin vielerlei Modelle (außer der beiderseits romantischen, monogamen Zweierbeziehung). Und Paulus war immerhin so pragmatisch, die Vielfalt an (Nicht-)Begehren anzuerkennen – und er war wenigstens so ehrlich zuzugeben, dass seine Meinung zum Thema einfach seiner eigenen Überzeugung entsprang:
(…) Ich wollte zwar lieber, alle Menschen wären, wie ich bin, aber jeder hat seine eigene Gabe von Gott, der eine so, der andere so. (…)
1. Kor 7,1-9 (Lutherbibel)
Alle, die nicht die Finger voneinander lassen wollen, sollen dem laut Paulus ruhig nachgehen, solange es in einem respektvollen Kontext geschieht. Ich verstehe Paulus hier nicht so, dass er unterdrückte Lust als Vollendung christlicher Frömmigkeit versteht. Paulus selbst würden wir mit heutigen Begriffen vielleicht eher als asexuell und/oder aromantisch bezeichnen. (Auch bei David und Ruth könnten sexuelle und romantische Liebe schon unterschiedlich erlebt worden sein!)
Meine Einladung an dich heute:
1) Wirf mal einen Blick auf dein eigenes a-/romantisches und a-/sexuelles Leben. Nimm einfach mal wahr, wie es gerade ist. Bewerte und urteile nicht. Was willst du, was willst du nicht? Was lebst du, was nicht? Machst du mehr, als du möchtest? Machst du weniger, als du dir eigentlich wünschst?
– Stille –
2) Schau nochmal in dich hinein: Wie geht es dir damit, dass ich diese Fragen im Rahmen einer Andacht stelle? Wie fühlt sich das für dich an? Fühlst du dich wohl damit? Ist es eher ungewohnt? Welche Rolle spielen deine a-/romantischen und a-/sexuellen Anteile in deinem Gebetsleben?
– Stille –
3) Schau mal, was in dir auftaucht, wenn du folgende Segenszusprüche direkt auf das beziehst, was du im ersten und zweiten Schritt wahrgenommen hast. Auch hier gilt: Bewerte nicht! Nimm einfach wahr, was sich in dir zeigt.
„Gott stärke, was dich gedeihen lässt.“
Was soll G*tt stärken? Womit gedeihen deine a-/romantischen und a-/sexuellen Anteile?
„Gott schütze, was dich lebendig macht.“
Was soll G*tt schützen? Was macht deine a-/romantischen und a-/sexuellen Anteile lebendig?
„Gott schenke dir, was für dich heilsam ist.“
Was soll G*tt dir schenken? Was ist heilsam für deine a-/romantischen und a-/sexuellen Anteile?
„Gott schaue auf das, was du freigibst.“
Was möchtest du freigeben, was hast du bereits freigegeben in Bezug auf deine a-/romantischen und a-/sexuellen Anteile?
Gott stärke, was dich gedeihen lässt!
Nin schütze, was dich lebendig macht!
Er schenke dir, was für dich heilsam ist!
Sie schaue auf das, was du freigibst!