Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
30. April 2023
In der Begegnung von Jesus und der Samariterin gibt es drei Ebenen von Dialog, die ich auch im Kontext von Gemeindeleben wichtig finde:
- Die Möglichkeit, sich mit Ungesagtem zu schützen.
- Raum für Codes, Schlüsselsätze, Andeutungen.
- Voll und ganz da sein dürfen mit allem, was zum eigenen Leben dazugehört (auch das, was woanders vielleicht moralisiert und bewertet wird). Zur Wahrheit gehört auch, wahrhaftig zu sein – und zum Beten in Jesus Sinne auch.
Hier erstmal der Ausschnitt dazu aus dem Johannesevangelium:
15Die Frau sagte zu ihm: »°Rabbi, gib mir dieses Wasser, damit ich nicht mehr durstig werde und nicht zum Schöpfen hierher kommen muss!« 16Er sagte zu ihr: »Geh, rufe deinen Mann und komm hierher!« 17Die Frau antwortete und sagte ihm: »Ich habe keinen Mann.« Jesus sagte zu ihr: »Du hast ganz richtig gesagt: ›Ich habe keinen Mann.‹ 18Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.« 19Die Frau sagte ihm: »°Rabbi, ich sehe, dass du ein Prophet bist
(…)23Aber es kommt die Zeit – und ist schon jetzt da –, wo die wahren Betenden °Gott als ihre Lebensquelle in °Geistkraft und Wahrheit anbeten werden. Denn °Gott wünscht sich ja Menschen, die so beten.
Johannesevangelium 4,15-19.23
(Bibel in gerechter Sprache)
Die drei Ebenen von Austausch im Einzelnen:
1. Ebene
Diese Ebene ist gänzlich an den „normativen“ Regeln orientiert. In diesem Fall würde ich das als „gesichtswahrend“ deuten, manche würde es vielleicht aber auch als scheinheilig oder oberflächlich empfinden.
Jesus bietet der Samariterin diese Ebene an. Sie könnte einfach wie angeboten weggehen und nach außen hin weiterhin dastehen als ordnungsgemäß verheiratete Frau. Jesus zwingt nicht zu „Offenbarungen“, fordert kein „Zwangs-Outing“.
2. Ebene
Die Frau versteckt die Wahrheit nicht *), breitet sie aber auch nicht aus.
Ihre Antwort ist aber der Schlüsselsatz, der das weitere Gespräch öffnet, wie ein Code – aus diesem Satz lässt sich viel heraushören, aber auch viel überhören.
- Eine Lesbe kann den Satz sagen: „Ich habe keinen Mann“ (… und ungesagt: „sondern eine Frau“).
- Ein Schwuler kann den Satz sagen: „Ich habe keinen Mann“ (… und ungesagt: „suche aber gerade einen“).
- Eine Person in einer Poly-Konstellation kann den Satz sagen: „Ich habe keinen Mann“ (… und ungesagt: „sondern zwei“).
- Eine asexuelle Person kann den Satz sagen: „Ich habe keinen Mann“ (… und ungesagt: „sondern einen sehr nahen Freund“).
- Die Samariterin kann den Satz sagen: „Ich habe keinen Mann“ …
In allen Fällen kann sich daraus immer noch die Norm heraushören lassen. In allen Fällen ist aber auch eine Tür aufgemacht, eine andere Wahrheit zu erschließen. Und genau das tut Jesus:
3. Ebene
Jesus nimmt die Andeutung an und erweist sich als „Versteher“.
Im lesbischen, schwulen, poly oder asexuellen Kontext könnte ich nach diesem Satz vielleicht meine eigene Wahrheit andeuten; wenn ich die Andeutung richtig verstanden habe, ist jetzt der Raum dafür auf.
Wenn ich zu denen gehöre, die mit der Welt dahinter nichts zu tun haben oder diese nicht kennen, werde ich die Andeutung nicht verstehen; ich werde weiterhin in den normativen Strukturen denken.
Die Samariterin hat noch nicht zu viel gesagt. Jesus erweist sich hier allerdings als einer, der genau nicht nur bei dem bleibt, was dem gesellschaftlichen Ansehen entspricht. Jesus wird hier dargestellt als einer, der im Gespräch Interesse daran hat, dass Raum ist für Wahrhaftigkeit.
Diese Wahrhaftigkeit betrifft übrigens beide Seiten: auch Jesus macht sich an diesem Punkt offen und lässt sich ab hier als „Prophet“ lesen.
Wichtig ist, dass es bei dem Wahrnehmen dieser Lebenswahrheiten nicht um ein Moralisieren geht: Jesus beschreibt einfach nur, wie die Frau lebt (ohne sie dafür anzuklagen); und die Frau merkt ihrerseits einfach nur an, dass er ein Prophet ist (ohne ihn dafür anzuhimmeln).
Im weiteren Verlauf wird deutlich, warum das so wichtig ist: Jesus bietet einen Glauben an, bei dem es nicht mehr darum geht, wo Menschen äußerlich beten, sondern mit welcher innerlichen Haltung sie beten – nämlich „in Wahrheit und im Geist“. Das ganze Gespräch ist ein Beispiel für Gottesbegegnung nach Jesu Sinne: eine Begegnung, in der Raum ist für volle Wahrhaftigkeit. Wenn das der Raum ist, der Gottes Sinn von Anbetung entspricht, ist die Frau bereits in diesem Raum.
Zwei Anmerkungen dazu:
- Genau deswegen tue ich mich so schwer mit Theologien, in denen Gott uns nur erträgt, weil Gott so gnädig ist und nicht richtig hinschaut: wo wir reingewaschen sein müssen, wo „unsere Sünde bedeckt ist“ wie unter einem Berg Schnee oder ins Meer geworfen werden muss, etc. Als würde Gott mich so, wie ich bin, NICHT ansehen können. Und als würde alles, was ich mitbringe, erstmal kategorisiert werden müssen in „Sünde“ (= muss unter den Schneeberg) oder „nicht Sünde“ (= muss nicht unter den Schneeberg, darf mitkommen). Alternativ bin ich komplett und gänzlich „Sünder“; das hieße dann also, dass ich insgesamt ins Meer geworfen gehöre. Jesus hat das Gegenteil davon gelebt und gepredigt. (Und dazu brauchte G*tt auch nicht erst den Tod Jesu.)
- Auch den Satz, dass „Christen erlöster aussehen müssten“, um „glaubwürdig“ zu sein, finde ich deswegen so schlimm. Gottesbegegnung in Jesu Sinne findet voll umfänglich im Hier und Jetzt statt, mit allem, was ich mitbringe und bin – und nicht nur für diejenigen, die „erlöst“ sind. Als gäbe es einen klar definierbaren Sprung von „unerlöst“ zu „erlöst“, wie ein Stempel oder sowas. Ich glaube nicht an „Erlösung“ als ein entweder-oder, bei dem sich der Zustand wechseln lässt durch das richtige Glaubensbekenntnis oder was auch immer. „Gott anzunehmen“ heißt für mich: Ich lasse mich auf diese Begegnungen ein, wie Jesus sie gelebt und gepredigt hat. Begegnungen, die nicht mehr dem Raum der Erwartungen gehören, sondern dem Raum von Wahrheit. Begegnungen, in denen mein Glaube mich nicht nur mit G*tt verbindet, sondern auch mit meinen Mitmenschen und mit mir selbst.
*) „das griechische und evangeliumsgemäße Wort für Wahrheit, aletheia, bedeutet wörtlich das ‚Un-Versteckte‘. Wie wir bereits gesehen haben, besteht dieser Wahrheitsprozess nicht aus einer festgesetzten Diktion oder Information, sondern aus einer Interaktivität.“
(Catherine Keller in: „Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie“, Herder 2013, S. 214)