Ines-Paul Baumann
Das Bild links ist vom Mauerfall in Berlin 1989. Ich bin aufgewachsen mit der Mauer. Mein Vater kommt aus Erfurt, wir haben Familie und Freunde in Berlin, und ich erinnere mich noch gut an das unheimliche Gefühl bei den Grenzkontrollen. Das lange Warten, die Ohnmacht, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Und das alles in dem Wissen: Das ist halt so, und das wird immer so bleiben. Damit müssen wir eben leben. Das müssen wir hinnehmen, damit müssen wir uns arrangieren.
Das andere Bild ist von der Rettung der in Chile verschütteten Bergleute letztes Jahr. 10 Wochen lang haben Medien berichtet, 10 Wochen lang haben 33 Bergleute überlebt da unten, eingeschlossen in der Grube, leiblich versorgt durch eine Kapsel, die ihnen Medikamente und Nahrungsmittel nach unten transportierte, und innerlich gestätkt durch ihren Glauben an Gott. Sogar einen Schrein hatten sie in der Grube eingerichtet. Nach zehn Wochen wurden sie alle herausgeholt, einer nach dem anderen.
Vielleicht findet ihr die Bilder für einen Gottesdienst, für einen Kirchenraum, für eine spirituelle Inspiration ein bisschen zu ungeistlich, nicht kirchlich / spirituell genug. Zu real, zu politisch, zu real-politisch. Was hat das mit unserem Glauben zu tun? Wo ist da Gott? Auf den Bildern ist klar zu sehen, dass es Menschen sind, die anderen Menschen helfen. Manche davon sind Christen, andere nicht – wenn es darum geht, dass Menschen einander helfen, sollte diese Frage gar keine Rolle spielen.
Ich habe diese Bilder aus einem bestimmten Grund ausgesucht. Diese Bilder zeigen etwas, von dem ich derzeit nicht genau weiß, wie Gottesdiensträume das zum Ausdruck bringen können.
Früher, als viele großartige Kirchengebäude, die wir heute kennen, gebaut wurden, hatten die Räume eine klare Sprache. Ihre Architekten hatten ein klares Anliegen, und das haben sie in die Sprache der Räume umgesetzt. Damals lebten viele Menschen in einfachen Bauernhäusern, das Leben darin war muffig und dunkel und eng und oft roch es nicht gut. Das viele Gold und das Licht und die Schönheit und der Weihrauch und der große Raum der Kirchen ließ diese Menschen etwas erleben, was weit über ihren Alltag hinausging. Sie konnten leibhaftig spüren und sehen und riechen, welchen Unterschied Gottes Gegenwart in unserem Leben ausmachen kann. Dieser Gott war ein Gott, der der Enge und Dunkelheit ihres Daseins eine Weite voller Licht und Schönheit und Pracht entgegensetzte. In diesen Gottesdiensten erlebten sie eine Offenbarung Gottes.
Heute leben wir nicht mehr in dunklen muffigen Häusern.
Unsere Klamotten sind frisch gewaschen,
wir müssen nur einen Schalter umlegen, schon geht das Licht an,
wir können verreisen an sonnige Orte und zu tollen Sehenswürdigkeiten,
auf jedem Straßenfest findet sich eine Bühne, die mit Sound und Licht unsere Sinne versorgt;
Filme lassen uns Sachen sehen und hören, die das Reich der Phantasie weit ausloten;
jeder Kinofilm ist prächtiger ausgestattet als die wertvollsten Priestergewänder.
Manche Gottesdienste versuchen trotzdem noch, da mitzuhalten, und sehen im Einsatz von Licht und Ton und Zeremonie eine angemessene Möglichkeit, in unserer Welt etwas von Gott zu zeigen, etwas von Gottes wunderbarem Sein in dieser Welt zur Geltung zu bringen.
Ich glaube, die Enge unseres Daseins besteht nicht mehr in einer Enge des Raumes oder unserer Gedanken.
Und ich glaube, die hier dargestellten Ereignisse zeigen etwas von einer Weite im Leben, die wir in vielen religiösen Zusammenhängen NICHT erleben.
Was ist es also heute, das uns etwas von Gott vermitteln und zeigen kann, was unser Dasein wirklich berührt und verändert? Was Gott gegenwärtig macht in unerer Welt? Sind es Gottesdienste mit Event-Charakter, sind es perfekte Abläufe von Liturgie und Gestik, gute Rhetorik und das professionelle Layout der Liederbücher? Das kann jede Firma heute mindestens genau so gut produzieren.
Ist es der Gott der Stärke, der Pracht, des Reichtums, den diese Welt kennenlernen soll, die mit ihrem Streben nach Stärke, Pracht und Reichtum für Ungerechtigkeit und Armut sorgt und erstickt in dem, was sie dafür tut und was sie damit erreicht?
Ist das der Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat?
Ist Jesus in einem goldenen Palast geboren,
hat Jesus sich hinter die Mauern religiöser Orte zurückgezogen und das Volk eingeladen, in seine perfekt vorbereiteten und gekonnt durchgeführten Darbietungen kommen? „Hier, besuch mal den Gotesdienst, in dem Jesus predigt, der hat echt eine tolle Zeremonie drauf, da stimmt einfach alles!“
Jesus wurde in einem Stall geboren.
Jesus hat war unterwegs.
Jesus ließ sich auf Gespräche ein. Manchmal war er selber überrascht von dem, was in diesen Begegnungen passierte (Heilung der Frau, die ihn berührte) oder musste er sich sogar korrigieren lassen (Krumen, die vom Tisch fallen).
Nach seinem Tod und seiner Auferstehung begegnete er Männern und Frauen am Grab, auf der Straße und in ihrer Wohnung – nichts davon ein Ort der Religiösität!
In Jesus offenbarte sich ein Gott,
der sich nicht hinter Mauern verbarg,
der nicht Mauern zwischen Menschen hochzog
oder wartete, bis die Menschen aus ihrem Dunkel ins Licht fanden und aus ihren Gruben in die Freiheit.
In Jesus offenbarte sich ein Gott,
der sich von sich aus auf den Weg macht, um Grenzen zu überwinden.
Die Grenzen zwischen Schöpfergott und Schöpfung,
die Grenzen zwischen Gott und Mensch,
die Grenzen zwischen den Frommen und den Sündern,
die Grenzen zwischen Menschen unterschiedlicher Geschlechter, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher gesellschaftlicher Stellungen.
Die ersten Gemeinden nahmen das auf. Hier trafen sich Arme und Reiche, Frauen und Männer, Fromme und Unfromme, Gebildete und Arbeitende.
Jesus und die ersten Gemeinden stellten der Welt einen Gott vor, der Grenzen überwindet.
Der nicht Sicherheit sucht, sondern die Unsicheren.
Der nicht die zu sich einlädt, die sich ihrer Sache schon sicher sind, sondern diejenigen, die Fragen haben, die was suchen, die manches falsch machen.
Der nicht auf die Bestätigung der gesellschaftlichen Mitte aus ist, sondern selber am Rand lebt und am Rand der Gesellschaft neue Räume öffnet.
Als MCC-Gemeinde versuchen wir, viel davon aufzugreifen und umzusetzen.
Wir haben gute Voraussetzungen dafür. Wir sitzen hier nicht als Menschen, die trotz ihrer Erfahrungen von Gott angenommen und geliebt und begleitet sind – sondern wegen und mit ihren Erfahrungen. Mit unseren guten und mit unseren schlechten Erfahrungen! Ob homo oder hetero oder bi oder wechselnd, ob Mann oder Frau oder was dazwischen oder wechselnd, wir haben Erfahrungen im Überwinden von Grenzen. Grenzen zwischen den Geschlechtern, Grenzen zwischen Konfessionen und Frömmigkeits-Kulturen, Grenzen von unterschiedlichen Abendmahls-Verständnissen, Grenzen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Liebes- und Lebensweisen.
Trotzdem befällt auch uns ab und an ein seltsames Streben, was typisch ist für Menschen, die für sich einstehen müssen – das Streben nach der Anerkennung anderer, aber nicht irgendwelcher anderer, sondern das Streben nach der Anerkennung von denen aus der Mitte der Gesellschaft. Da, wo wir uns als anders erleben, werden wir unsicher und hätten gerne das, was die Mehrheit hat. Wie viel Arbeit der Homo- und Trans-Bewegung in den letzten Jahrzehnten und Jahren hatte genau dies zum Inhalt: Bitte akzeptiert uns, wie sind doch gar nicht anders als ihr, wir sind doch ganz normal, bitte lasst uns heiraten und Karriere machen. Für Christen und Christinnen kommt noch dazu: Bitte lasst uns in euren Kirchen dabeisein.
Und diejenigen, die dabei nicht mitmachen – diejenigen, die trotzdem in Leder rumlaufen oder sonst irgendwie auffällig und „anders“ sind – die sind das eigentlich Problem: So, wie DIE sind, ist es kein Wunder, dass sich die normale Gesellschaft so schwer mit ihnen tut. Wie ärgerlich, das auch auch auf uns abfällt, die guten Schwulen, die guten Lesben, die guten Transen, die guten Heteros, die guten Therapie-Patienten, die guten Kirchengänger.
Ich glaube, wenn wir nur so sein wollen, wie andere uns gerne haben wollen, geht uns viel verloren – als Menschen in unseren Familien, als Menschen, die Freunde suchen, und als Menschen, die spirituell sind.
Jesus hatte keine Angst davor, anders zu sein. Die Anerkennung, die Jesus wichtig war, war nicht der Wille von den Mächtigen und der Mehrheit der Gesellschaft. Was Jesus wichtig war, war der Wille Gottes.
Es ist wichtig, dass uns klar ist, von dem wir Anerkennung suchen.
So wie Pflanzen sich nach der Sonne ausrichten und MIT und IN der Sonne wachsen,
so richten auch wir uns aus nach dem, wo wir Anerkennung suchen.
Was lässt dich und mich wachsen und gedeihen?
Was soll dein Auftreten aussagen?
Wem möchtest du gefallen?
Wonach richtest du dich aus?
Was ist die Sonne deines Lebens, die dir Wärme, Licht und Power gibt?
Unser Leben wird davon zeugen. Unsere Worte und Taten und Klamotten und Handys und Wohnungen bringen unsere Haltung zum Ausdruck, wir biegen uns zu dem hin, was wir als Sonne verstehen (manchmal verbiegen wir uns dafür auch ganz schön…).
Wovon spricht dein Leben?
Und wovon spricht unser Leben als Gemeinde?
Unser Gottesdienstraum?
Unsere Überlegungen, was wir als MCC Köln machen,
wie wir es machen,
wo wir es machen,
mit wem wir es machen?
Für wen und auf welche Weise wollen wir als MCC Köln Gott vergegenwärtigen?
Welcher Gott spricht aus unserem Leben und unseren Räumen?
Die MCC weltweit hat sich einem zentralen Anliegen verschrieben. Die meisten, die mit MCC in Berührung kommen, spüren das und nehmen es auf und tragen es weiter – die meisten, ohne es zu bewusst zu kennen. Das Motto, das uns als MCC-Gemeinden in all unserer Vielfalt und Unterschiedlichkeit eint, heißt: „Tearing down walls, building up hope.“ – Mauern einreißen, Hoffnung aufbauen.
Wir sind bestens dafür ausgestattet.
Lasst uns alles dafür tun, dass auch unsere Gottesdienste und unser Leben dazu beitragen, Mauern einzureißen – Mauern zwischen Frommen und Unfrommen, zwischen Religiösen und Skeptischen, zwischen Kirchlichen und Unkirchlichen. Lasst uns Jesus folgen auf dem Weg zu den „Kranken und Sündern“ – zu denen, die rausfallen aus dem Raster vom Funktionieren in der Leistungswelt von Kapitalismus und Esoterik, die rausfallen aus dem Normalsein von Arbeitswelt und Kirchenwelt.
Lasst uns den Gott der Freiheit, des Lebens und des miteinander unterwegsseins OFFENBAREN.
Lasst uns dazu beitragen, dass Menschen Mauern einreißen und aus ihren Gruben herausfinden.