Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
24. September 2023
Hebräerbrief 10,32-39
Achtung, der Hebräerbrief, der den heutigen Predigttext enthält, kann auf den ersten Blick schwer zu ertragen sein (auf den zweiten und dritten Blick auch). Oft zeigt sich darin ein Entweder-Oder, eine sehr binäre Trennung von Gut und Böse, drinnen oder draußen, gerettet oder verloren.
Zum aktuellen Wochenende gehört auch Yom Kippur. „Yom Kippur ist allgemein ein Tag, an dem wir sehr verletzlich sind. Wir fasten, wir reflektieren und versuchen alles Oberflächliche abzulegen. Daher braucht es ein offenes Umfeld, in dem wir uns als queere jüdische Personen sicher fühlen.“ (https://www.instagram.com/p/CxfvGAVsNwD/?utm_source=ig_web_copy_link&igshid=MzRlODBiNWFlZA==)
Außerdem war gestern am 23.9. der Tag der bisexuellen Sichtbarkeit (https://www.regenbogenportal.de/aktuelles/welttage-kalender/23-09-tag-der-bisexuellen-sichtbarkeit).
Tatsächlich lassen sich zu beiden Anlässen Bezüge zum heutigen Bibeltext verbinden: Was uns als Sünde vorgehalten werden mag, soll im Leben als Gläubige nicht wieder und nicht weiter die Oberhand haben. Anpassung und Unterwerfung sind nun abgelöst von Freiheit und Widerstandskraft.
Kurz zur Situation des Hebräerbriefs:
- Der Hebräerbrief entstand wohl noch vor dem „Jüdischen Krieg“ in den Jahren 66-70 n. Chr. gegen die staatliche und religiöse Unterdrückung durch das Römische Reich. Personen und Gemeinden, die sich am Leben und Wirken Jesu Christi orientierten, konnten sich zu diesem Zeitpunkt bereits der Verfolgung und Gefangennahme ausgesetzt sehen.
- Der Hebräerbrief enthält viele Zitate aus der Hebräischen Bibel (Altes Testament). Die Zitate wurden der eigenen Situation entsprechend gelesen und verstanden. Das beinhaltete auch, dass sie durchaus mal neu gedeutet wurden.
- Der Hebräerbrief enthält auch eine Deutung der Kreuzigung Jesu. Von Heb. 6,4-8 her wird der Tod Jesu als Widerstand gegen jegliche Anpassung an das Römische Reich verstanden. Es geht in der aktuellen Situation darum, nicht hinter das im Glauben bereits Erlebte und Erwartete zurückzufallen. Das Bekenntnis, dass das Reich G*ttes anders ist als das gegenwärtig so übermächtig erscheinende Römische Reich, darf nicht aufgegeben werden. Anpassung und Unterwerfung unter das Römische Reich kämen einer erneuten Kreuzigung Jesu gleich.
Zu den beiden Bezügen des aktuellen Wochenendes:
(1) Auf die heutige Bibelstelle folgt direkt in Heb 11 eine Auflistung von Menschen, die im Glauben vorangegangen waren. Eine Auflage des Neuen Testaments mit jüdischen Erklärungen („The Jewish Annotated New Testament“) enthält einen Kommentar zur Liste dieser „Heroes of the Faith“ („Glaubenshelden“) und stellt dazu fest: Es gibt darin nur wenig bekannte Namen, die zu erwarten gewesen wären. Was aber alle Genannten eint: Sie waren Außenseiter. Sie waren gesellschaftlich nicht ganz dazugehörend. Genau das machte sie aus Sicht des Hebräerbriefs zu Vorbildern: Anstatt sich gegenwärtigen Mächten anzupassen oder zu unterwerfen, hatten sie festgehalten an ihren eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt aussehen könnte und sollte. Sie standen zu sich selbst, einschließlich ihres Glaubens an eine Welt mit gerechtem und friedlichem Miteinander.
Die „Glaubenshelden“ des Hebräerbriefs stehen also für eine Glaubenstradition, in der ein Rückfall in die Anpassung als Rückfall in die Sünde zu verstehen sei – und genau das wird ja am Versöhnungstag gefeiert: dass die Sünde überwunden ist. Bemerkenswert an dieser Liste der „Heroes of the Faith“ ist, dass sie auch Nicht-Israeliten enthält. Sogar eine Weltsicht, die in vielem so vermeintlich binär argumentiert wie der Hebräerbrief, hatte also Raum für die Aufhebung von religiösen Eindeutigkeiten.
(2) Thomas Hanks („The Queer Bible Commentary“) liest den Hebräerbrief insgesamt aus der Sicht von bzw. im Blick auf sexuelle Minderheiten. Damit setzt er quasi fort, was der Hebräerbrief selbst vormacht: Texte aus der Bibel aufzugreifen und in Bezug zur eigenen Situation zu deuten.
Mit Hanks gelesen ermutigt der heutige Predigttext dazu, dass auch sexuelle Minderheiten nicht hinter das zurückzufallen sollten, was sie doch schon erlebt und erwartet haben nach ihrem inneren Outing (s. „Erleuchtung“ in Vers 32) und den Risiken des äußeren Outings (s. „Leidenskampf“, „Beschimpfungen“, „Schikanen“ in Vers 32 und 33).
Im Sinne von Hanks würde das sowohl für diejenigen gelten, die sexuellen Minderheiten selbst angehören, als auch für alle, die diese als Allys begleiten und unterstützen, z.B. in Heb 10,33 („als Mitmenschen vom Schicksal derer betroffen gewesen, denen es so erging“). Auch für sexuelle Minderheiten und deren Allys wären Anpassung und Unterwerfung an gängige Mächte eine Wiederholung der Kreuzigung Jesu.
Zu dieser Unterstützung kann damals auch ganz konkret materielle Unterstützung gehört haben. Der Verlust materieller Güter (V. 34) wäre für diejenigen, die damals im Sinne Gottes unterwegs waren, nämlich so oder so Teil ihrer Erfahrung: entweder, weil sie sich mit den Gefangenen solidarisch zeigen, oder weil ihr Besitz ans Römische Reich fallen würde. Und dann wären die Unterdrückten und Unangepassten ja wohl bessere Empfänger*innen, um als Glaubende den Verlust mit Freude hinzunehmen (s. Vers 34).
Von beiden Kommentaren her ließe sich die heutige Bibelstelle also so lesen, dass Zuversicht und Dranbleiben an den eigenen Überzeugungen, Hoffnungen und Widerstandshandlungen in ihrem Zentrum stehen, um gegen Rückfälle an eine erneute Anpassung an Unterdrückungszusammenhänge gefeit zu sein:
32 Erinnert euch auch an die früheren Tage, an denen ihr, nachdem ihr erleuchtet worden seid, einen großen Leidenskampf ertragen habt: 33 Zum Teil seid ihr durch Beschimpfungen und Schikanen zum Schauspiel geworden, zum Teil als Mitmenschen vom Schicksal derer betroffen gewesen, denen es so erging. 34 Und ihr habt doch mit den Gefangenen mitempfunden und den Raub eures Vermögens mit Freude hingenommen, weil ihr wusstet, dass ihr einen besseren, bleibenden Besitz habt.
35 Werft nun eure Zuversicht nicht weg. Sie bringt großen Lohn mit sich. 36 Was ihr nötig habt, ist Standhaftigkeit, damit ihr den Willen Gottes tut und so das, was Gott versprochen hat, erhalten könnt. 37 »Es dauert nur noch eine kleine Weile, bis der Kommende kommt. Er wird nicht zögern. 38 Alle meine °Gerechten werden durch °Gottvertrauen leben. Wenn sie aber zurückweichen, habe ich keinen Gefallen an ihnen.« 39 Wir sind nicht solche Menschen, die ängstlich ins Verderben zurückweichen, sondern solche, die durch Gottvertrauen das Leben gewinnen.Hebräerbrief 10,32-39
(Bibel in gerechter Sprache)
Literatur:
- Amy-Jill Levine and Marc Zvi Brettler (Editors): „The Jewish Annotated New Testament: New Revised Standard Version“, Oxford University Press 2011
- Thomas Hanks in: „The Queer Bible Commentary“, hrsg. Robert E. Goss, Deryn Guest, Mona West, Thomas Bohache, SCM Press 2006