Predigt MCC Köln, 30. März 2014
Ines-Paul Baumann
Joh 9 „Die Heilung eines Blindgeborenen“
Sektenbeauftragte haben immer wieder auch mit Menschen aus christlichen Kreisen zu tun. Dass ein Heilsversprechen viel Unheil angerichtet hat, verbindet sie mit Opfern von Scientology oder von falsch durchgeführten Familienaufstellungen, von allen möglichen „Lichtheilern“ und anderen esoterischen Angeboten.
Auf dem Markt der Heilungen sind leider tatsächlich auch Angebote dabei, die Menschen nur auf den ersten Anschein heilen, sie aber gleichzeitig in ganz ungesunde Strukturen und Abhängigkeiten führen können. Oft ist dann Hilfe nötig: Es geht um die Wiederherstellung von Beziehungen zum familiären, freundschaftlichen und beruflichen Umfeld, es geht um Wiederherstellung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, und oft genug geht es auch um Finanzen und rechtliche Klagen.
Trotzdem reden auch wir hier in der MCC immer wieder davon, dass wir in Gott Heil, Heilung und Heiligung finden können. Ich glaube, der heutige Predigttext kann uns ein paar Hinweise darauf geben, wie wir das in einem heilsamen Rahmen tun können.
Da der Text nicht ganz frei davon ist, manche Gegensätze polemisch übertrieben darzustellen, möchte ich folgende Geschichte an seine Seite stellen:
Es war einmal eine besorgte und aufrichtige Gemeinde. Eines Tages kam ein Mann zu ihnen und behauptete, vorher blind gewesen zu sein. Die Gemeinde hatte schon so manche komische Geschichten gehört. Also erkundigten sie sich erst mal bei seinen Nachbarn, ob er wirklich vorher blind gewesen sei. Manche sagten, ja, das war er, andere waren sich unsicher, ob es wirklich derselbe Mann war.
Als nächstes fragten sie den Mann selbst, was denn passiert sei, dass er sehend geworden ist. Er sagte, ein Mann, den er nicht kenne, habe ihm eine Art Brei auf die Augen gelegt. Als er sich dann im Teich vor der Stadt gewaschen habe, sei er sehend geworden.
Die Gemeinde konnte diese Geschichte kaum glauben. Die einen sagten: „Was für einem Scharlatan ist der denn da aufgesessen? Aus christlicher Sicht können wir das nicht gutheißen. Dieser Heiler handelt nicht im Namen Gottes.“ Andere sagten: „Wieso, wenn er ihn geheilt hat, dann ist doch alles gut. Gott kann doch auch den Heiler benutzt haben, um Gutes zu wirken.“ Und es entstand eine Zwietracht unter ihnen. Also fragten sie den Mann selber, was er von dem halte, der ihn geheilt hatte. Er antwortete: „Er ist ein Prophet.“
In der Gemeinde wurden Zweifel laut, ob der Mann überhaupt jemals blind gewesen war. Also gingen sie zu seinen Eltern. „Ist das euer Sohn? Ist er tatsächlich blind geboren? Wieso ist er nun sehend?“ Die Eltern antworteten: „Ja, er ist es. Aber warum er nun sehend geworden ist, wissen wir nicht. Fragt ihn doch selbst, er ist alt genug!“ Die Eltern sagten das, weil sie ihrerseits Angst hatten vor den Mitgliedern ihrer Gemeinde. Wer sich dort nicht zum richtigen Glauben bekannte, wurde nämlich aus der Gemeinde ausgestoßen.
Also riefen die Gemeindevorsteher nochmal den Blindgeborenen zu sich und sprachen: „OK, du kannst dich jetzt zum richtigen Glauben bekennen und lossagen von dem unchristlichen und falschen Wunderheiler! Bekenne deine Sünden, bitte Gott um Vergebung und lass dich taufen. Sicherheitshalber sollten wir dir auch noch die Hände auflegen und dich reinigen von den Einflüssen des falschen Geistes.“ Er aber antwortete: „Wieso sollte er falsch gewesen sein? Ich weiß nur, dass ich blind war und bin nun sehend.“ Da fragten sie ihn: „Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan? Wie hat er seine Heilung erklärt? Ist seine Methode wissenschaftlich bewiesen? Musstest du irgendwelche Sachen glauben? Hat er sich vielleicht auf östliche Religionen berufen?“ Er aber antwortete und sprach: „Ich habe es euch doch schon gesagt und ihr habt’s nicht gehört! Was wollt ihr’s abermals hören? Wollt ihr euch ihm etwa auch anschließen?“ Da schmähten sie ihn und sagten: „Du bist sein Anhänger, aber wir sind die Anhänger Jesu. Wir wissen dass sich Gott in Jesus offenbart hat. Woher dein Heiler ist, wissen wir nicht.“ Und sie schlossen ihn aus der Gemeinde aus.
Diese Geschichte habe ich natürlich gänzlich frei erfunden. Die Geschichte in Johannes 9 ist offensichtlich ein bisschen anders. Aber ich möchte um ein bisschen Verständnis werben dafür, warum die Heilung des Blindgeborenen für so viel Aufsehen sorgt.
Aus ihrer Sicht machen die Pharisäer nichts anderes als viele christliche Gemeinden heutzutage auch tun: Sie klopfen ab, ob der Weg eines Menschen mit dem vereinbar ist, was sie als Gottes Willen verstehen. Und auch wenn das oft seinerseits wieder „sektenhafte“ Züge annimmt, möchte ich ein gutes Wort einlegen dafür, dass sie nicht einfach weggucken.
Freilich soll auch meine Textauslegung nicht wieder in engführenden festgezurrten „Vorgaben“ enden, deswegen noch eine Vorbemerkung:
Jesus leitet das ganze Geschehen ein als ein Geschehen, in dem sich Gott offenbaren möchte. Dies ist quasi der Schlüssel zu der Geschichte. Wir erkennen hier etwas über Gott. Alle Aussagen über Krankheiten, Menschsein, Sünde, Heilungen und Kontrollstrukturen sind in dieser Geschichte nicht als dogmatisch-grundsätzliche Vorgaben zu verstehen. Das ist nicht ihr Anliegen. Aber sie sagen etwas aus über Gott. Über Gottes Blick auf uns und auf das, was Jesus in unserem Leben tun kann und will.
Auf den ersten Blick könnten wir denken, wir haben hier eine klassische Bekehrungsgeschichte vor uns: Ein Mensch begegnet Jesus; Jesus öffnet ihm die Augen (zuerst körperlich, dann auch geistlich), und der Mensch bekennt sich zu Jesus.
Bei näherem Hinsehen fehlen aber grundlegende Elemente, die einen Menschen traditionellerweise zu einem Christen machen:
- Es gibt kein Sündenbekenntnis.
- Es gibt keine Bitte um Vergebung.
- Der eigene Glaube spielt anfangs gar keine Rolle und bleibt dann erst mal sehr diffus. Das Glaubensbekenntnis steht am Ende der Heilungsgeschichte; es ist nicht ihre Voraussetzung.
Wir erleben hier fast das Gegenteil von einer traditionellen Bekehrung.
Wie oft fangen die Bekehrungsversuche von engagierten Gläubigen damit an, dass die Menschen einsehen müssen, dass sie Sünder/innen sind. Und wie oft wird darüber diskutiert, ob Maria oder Jesus frei von Sünde waren – mit dem Ziel, ihre Einzigartigkeit zu unterstreichen: Alle Menschen sind Sünder, aber Jesus nicht, denn er war Gottes Sohn. Was in all den Debatten über Jesus und Maria nicht erwähnt wird: Im heutigen Predigttext widerspricht Jesus hier mal eben der ach-so-christlichen Grundannahme, dass in Gottes Augen alle Menschen zuvörderst „in Sünde geboren“ sind. Jesus stellt uns hier einen Menschen vor, bei dem „weder er noch seine Eltern gesündigt“ haben.
Wir können nun darüber streiten, ob Jesus das nicht etwas zu blauäugig sieht. Aber selbst wenn der Blindgeborene oder seine Eltern doch gesündigt haben: In den Augen Gottes spielt das überhaupt keine Rolle!
Gott geht es hier gar nicht darum, Sünde und Schuld anzuprangern.
Diejenigen, die in seinem Namen unterwegs sind, sind hingegen regelrecht davon bestimmt:
– Die Jünger Jesu fragen: „Wer hat hier gesündigt, er oder seine Eltern?“ (Ich frage mich, welchen Unterschied das machen soll. Darf Menschen nur Heilung angeboten werden, wenn die Ursache für ihr Leiden das „erlaubt“? Gibt es „verdientes“ Leid, das eine Heilung „nicht rechtfertigt“?)
– Die Vertreter der etablierten Religion sind auch ganz wuselig und verwirrt, weil sie nicht mehr klar definieren können, wer jetzt genau wann und wo gesündigt hat. (Warum ist es so wichtig, darüber die Definitionsmacht zu haben?)
In der Geschichte wird eine große Diskrepanz deutlich:
- Die Menschen aus gläubigen oder religiösen Kreisen sind damit beschäftigt, Schuld und Sünde zuzuordnen.
- Jesus hingegen tritt an den Blindgeborenen heran, ohne dass Sünden- und Schuldfragen eine Rolle spielen. (Sein Anliegen ist es, Gottes Werke zu offenbaren.)
Der Blinde muss also nicht bekennen, dass er ein Sünder ist,
er muss nicht um Vergebung bitten,
er muss nicht voll des Glaubens und der Hoffnung an Jesus herantreten,
und am Ende der Geschichte sind ihm trotzdem körperlich und geistlich die Augen geöffnet.
Was ist hier passiert? Ich würde mal sagen, diese Geschichte demonstriert eine ganz wichtige Ergänzung im Zugang zum Glauben. Hier geht es nicht um eine Bekehrung, hier geht es um eine Erleuchtung.
Das eine ist nicht gegen das andere auszuspielen. Ich glaube, wir brauchen beides:
- Wo ich verstrickt bin und raus muss aus dem, was mich und andere bindet, da gibt es nichts Befreienderes als eine beherzte Bekehrung. Umkehr, auf zu neuen Wegen, mich lossagen und nicht mehr mitmachen! Bekehrung kann ein Leben auf den Kopf stellen! Wir können auf Bekehrung nicht verzichten; manchmal zählt einfach wirklich nur das: raus aus der Sünde, rein ins Heil, in die Heilung, in die Heiligung! Raus aus dem Kreislauf des Todes, rein in den Kreislauf des Lebens! Fort von den falschen Mächten und Mächtigen, fort von den Herrschaften und Beherrschenden, hin zu Jesus, der sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“! Für eine Pflanze, die im falschen Boden Wurzeln geschlagen hat, gibt es an einem gewissen Punkt nichts Besseres, als radikal umgetopft das Leben aus neuen Quellen zu empfangen.
Aber das ist eben nicht alles. Die Geschichte von dem Blindgeborenen zeigt einen weiteren Aspekt auf dem Weg zum Glauben:
- Die Erleuchtung. In der ganzen Geschichte geht es um Blindheit und um Sehen, Erkennen, Wahrnehmen. Die Gläubigen in der Geschichte sind nicht automatisch die Sehenden. Es scheint fast so, als wären in der Geschichte die meisten der Gläubigen eher blind vor Glauben. Mit dem, was ihnen ihr Glaube offenbart, tappen sie im Dunkeln, liegen falsch. Sie sehen in dem Blindgeborenen einen Sünder (VOR seiner Heilung und NACH seiner Heilung). Jesus aber sieht in ihm keinen Sünder. Jesus schenkt ihm eine Erleuchtung, die jene Gläubigen, die auf die Sünde fixiert sind, nicht haben. (Was voll OK wäre! Es wird erst dadurch so schlimm, dass sie behaupten, sie würden bereits alles sehen, was für ihr Glaubensleben von Bedeutung ist…)
Ich nehme aus der Geschichte etwas darüber mit, wer das Recht haben soll, mir in meinem Leben die Augen zu öffnen:
Zur Umkehr rufen können mich alle, die mich darauf hinweisen, wo ich etwas falsch mache. Und ich mache wahrlich genug falsch, um auch nach meiner jugendlich-beherzten Bekehrung mit der Umkehr nie fertig zu sein.
Aber körperliche und geistliche Heilung, körperliches und geistliches Heil, körperliche und geistliche Heiligung im Sinne jener Erleuchtung, die Jesus offenbart und die meinen Blick auf die Welt verändert, da lasse ich mir nicht mehr von allen etwas sagen:
- Ich werde vorsichtig, wenn mir eine an falschen Stellen Schuld einreden möchte.
– Jesus redet dem Blindgeborenen keine Schuld ein, wo gar keine ist. - Ich werde vorsichtig, wenn einer den Erfolg seines Wirkens von meinem Glauben (oder meinem „positiven Denken“) abhängig macht.
– Jesus hat von dem Blindgeborenen keinen Glauben als Voraussetzung für sein Wirken verlangt. - Ich werde vorsichtig, wenn eine von mir verlangt, mich ganz in ihre Hände zu begeben, alles besser weiß für mich und ich nichts mehr mit zu entscheiden habe.
– Jesus bezieht den Blindgeborenen aktiv in den Heilungsprozess ein (er überlässt ihm sogar, ihn ggf. einfach abzubrechen). - Ich werde vorsichtig, wenn mir einer verbietet, auch externe Quellen zu nutzen.
– Jesus bezieht mit dem Teich im wahrsten Sinne des Wortes eine „externe Quelle“ in das Heilungsgeschehen mit ein. - Ich werde vorsichtig, wenn mir jemand nicht etwas Hilfreiches mitgibt (was ich dann aber auch wieder ablegen kann).
– Jesus gibt dem Blindgeborenen mit dem Brei zuerst etwas mit, bindet die Heilswirkung aber genau daran, sich davon auch wieder zu trennen.
Wer an einem dieser Punkte nicht Jesus nachfolgt, aber gleichzeitig behauptet, mir etwas von Gott offenbaren zu wollen – warum sollte ich ihm/ihr Glauben schenken?
Jesus stiftet keinen blinden Glauben.
Jesus öffnet uns die Augen für einen Gott, die auf uns blickt und uns Heil schenkt, ohne in uns nach Voraussetzungen zu suchen, warum sie es uns verwehren sollte.