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Auswege aus den Löchern, die ich mir selber grabe, und aus den Löchern, in die ich gestoßen wurde.

Predigt MCC Köln 11. Okt. 2015
Daniel Großer

Markus 2, 1-12: „Die Heilung eines Gelähmten“

Dieser Bericht vom Gelähmten, der durch das Dach zu Jesus gelassen wird, steht nicht nur im Markusevangelium, sondern auch im Matthäus- und im Lukasevangelium, und zwar ohne wesentliche Unterschiede. Das verleiht ihr einiges Gewicht im Neuen Testament.

Mir sind an dieser Geschichte zwei Punkte wichtig geworden:

  1. Jesus sieht zuerst den Menschen.
  2. Jesus eröffnet Auswege aus Sackgassen und Einbahnstraßen.

Da ist zunächst einmal der Gelähmte. Ich denke, wir unterscheiden uns nicht allzusehr von den Zeitgenossen Jesu in Bezug darauf, wie wir Menschen mit Behinderung wahrnehmen.

Stellen wir uns eine Szene in der Kölner U-Bahn vor. Ein Mann betritt die U-Bahn. Sein Gesicht ist seltsam verzerrt und sein Kopf stark zu rechten Seite verkrampft. Ein Mundwinkel hängt tief nach unten und auch das darüber liegende Auge blickt trüb und verdreht zur Seite. Auf seiner Wange zeichnet sich vernarbtes, aufgedunsenes und rötliches Gewebe ab, und das rechte Ohr ist verstümmelt. Hinkend bewegt er sich durch das volle Abteil, es ist später Nachmittag.

Betretene Blicke. Er sieht in Gesichter, die angestrengt zu Boden sehen, die ihren Blick abwenden. Zwei junge Mädchen tuschen sich etwas zu. Er bittet eine Frau, ob er sich setzen kann. Sie steht auf, presst ihr Tasche an sich und geht zur Tür am anderen Ende des Wagens. Um ihn herum ist es still, Gespräche ebben ab. Der Mann, der neben ihm sitzt, verschränkt seine Arme und zieht seine Jacke an sich – bloß keine Berührung.
Was mag dem Mann passiert sein? Hat ein Unfall ihn entstellt, wurde er Opfer einer Gewalttat, kam er so auf die Welt? Ob er wohl Schmerzen hat? Ob er wohl psychische Probleme hat?

Ganz verschieden reagieren die Menschen auf den Mann. Viele sind unsicher, wissen nicht, wie sie auf ihn reagieren sollen. Viele ekeln sich vielleicht, wollen ihn nicht ansehen oder berühren. Manche reden über ihn, den “Freak”. Manche sind übervorsichtig, drängen ihm ihre Hilfsbereitschaft auf, ersticken im Mitleid für ihn. Und immer wieder wollen sie ihn lieber nicht sehen, wenden ihre Blicke ab. Fragen sich verhohlen nach den Ursachen.

Nicht viel anders wird es den Menschen in unserer Geschichte gegangen sein. “Da wird er herabgelassen, der Krüppel”, denkt mancher vielleicht, oder “Hoffentlich ist der schnell wieder weg.” Auch der Gedanke, ob der Mann selbst Schuld sein mag an seinem Zustand, ob er von Gott bestraft wird für eine schlimme Sünde, auch dieser Gedanke ist unter ihnen. Wäre er doch bloß woanders, und nicht hier. Müsste man das doch bloß nicht mit ansehen müssen.

Jesus sieht zuerst den Menschen. “Mein Sohn”, so spricht er den Mann an, noch bevor irgendjemand sonst etwas sagt. “Mein Sohn”, ein liebevolles Wort in die peinliche Stille hinein. “Mein Sohn”, das ist ein Willkommen, ein “du bist mir sehr nahe”, ein “du gehörst zu mir”. Wie wohltuend und sanft hört sich das doch an. Jesus sieht zuerst den Menschen. Und er sieht tiefer, als wir aus der Geschichte hier erfahren. Jesus sagt: “Deine Sünden sind dir vergeben.” Wir erfahren nicht, worin der Gelähmte sündig war, er spricht es nicht aus, und es geht uns auch nichts an. “Deine Sünden sind dir vergeben.” – dieser Augenblick ist sehr intim zwischen Jesus und dem Gelähmten. Nur sie beide wissen, was in diesem Moment gedacht wird. Aber Jesus sieht zuerst den Menschen, er sieht das, was wirklich Heilung braucht, und genau da spendet er Heil und Vergebung. Die Lähmung, klar, die ist da auch noch, aber viel wichtiger ist Jesus die Seele dieses Mannes. Jesus sieht zuerst den Menschen.

Wir erfahren nichts von der Befreiung, die der Gelähmte in diesem Moment erfährt, als Jesus ihm die Vergebung seiner Sünden zuspricht. Jeder kann sehen: Dieser Mann ist gelähmt. Aber nur er und Jesus können sehen: Dieser Mann ist erlöst. Ich traue Jesus, dem Freund der Menschen, zu, dass diese Befreiung der wichtigste Moment in dieser Geschichte ist. Lähmung hin, Lähmung her. “Deine Sünden sind dir vergeben”, und fortan ist er nicht mehr der bemitleidenswerte, der niedergeschlagene, der geächtete Mensch, der er vor dieser Begegnung war. Jesus hat für ihn einen Ausweg eröffnet. Er ist nun ein Mensch, dem Gott verziehen hat. Und keiner, der ihm von nun an begegnet, kann ihm noch vorwerfen, dass seine Lähmung eine Strafe Gottes sei. Gott hat ihm verziehen, und ab jetzt können sich die Leute nicht mehr sagen “Ach, der Sünder” und einen Bogen um ihn machen. Nein, ab jetzt werden sie ihn wirklich wahrnehmen müssen, sich mit ihm beschäftigen müssen. Jesus eröffnet ihm einen Ausweg, vielleicht ist es der Ausweg aus der undurchbrechbaren Isolation, der sozialen Enge, der eiskalten Ignoranz, der traurigen Einsamkeit.

Die Pharisäer und Schriftgelehrten brauchen es natürlich noch einmal in aller Deutlichkeit. Doch auch für sie gilt: Jesus sieht zuerst den Menschen, und Jesus schafft Auswege.
In der Geschichte lesen wir, dass Jesus in ihre Herzen sah und wusste, was sie denken. Es ist ihnen nicht recht, dass der Gelähmte, der Sünder, nun frei ist. Es ist ihnen nicht recht, dass sie, die Tugendhaften, sich dem “Krüppel” nun nicht mehr entziehen können. Es ist ihnen nicht recht, dass der Gelähmte nicht mehr selbst Schuld ist an seiner Lage, und dass sie nun keine Antwort auf sein Leid mehr haben. Es ist ihnen nicht recht, ratlos zu sein. Es ist ihnen nicht recht, dem Gelähmten auf Augenhöhe begegnen zu müssen.
Aber Jesus sieht in ihre Herzen und erkennt, wie gefangen sie in diesen Gedanken sind. Er sieht, dass sie nicht frei sind zur Begegnung und Versöhnung, weil sie sich nur um sich selbst drehen. Jesus sieht zuerst den Menschen.
Und Jesus eröffnet Auswege. Ich könnte mir vorstellen, dass Jesus den Gelähmten nicht um seinetwillen, sondern um der Pharisäer willen heilt. Als Jesus den Gelähmten auch noch von seiner Lähmung heilt, da wird für alle und jeden sichtbar, was vorher nur für Jesus und den Gelähmten sichtbar war. Gott hat dem vormals gelähmten Mann wirklich vergeben! Niemand kann es mehr abstreiten. Jeder in diesem Raum muss anerkennen: Wenn Gott einem Menschen vergibt, dann dürfen Menschen das nicht länger in Frage stellen.
Jesus rettet die Pharisäer und Schriftgelehrten damit vor einem Irrweg: Selbstbetrug und Ignoranz sind jetzt nicht mehr möglich für sie, wer jetzt noch abstreitet, macht sich lächerlich. Und Jesus eröffnet ihnen zugleich einen Ausweg aus ihrer Ich-Bezogenheit und ihrem Hang dazu, Gott aus eigener Kraft gefallen zu müssen. Werden die Schriftgelehrten und Pharisäer diesen Ausweg erkennen, indem sie den Gelähmten endlich als Bruder in der großen Familie Gottes erkennen? Werden sie den Ausweg betreten, indem sie mit dem geheilten Mann in Beziehung treten? Werden sie den Ausweg weitergehen, indem sie selbst Vergebung lernen und über ihre Grenzen gehen?

Ich wünsche dir und mir Begegnungen, in denen wir erfahren: Jesus sieht mich, und zwar viel tiefer und farbiger, als es Menschen tun. Jesus sieht mich und nennt mich seinen Sohn, seine Tochter.
Ich wünsche dir und mir Erfahrungen, in denen wir erleben: Jesus gibt mir Auswege aus den Löchern, die ich mir selber grabe, und aus den Löchern, in die ich gestoßen wurde.

 

Fürbitten

Guter Gott, wir bringen vor dich die Bruchstücke dieser Welt, damit du sie wieder zusammenfügst. Von dir, der du die Menschen siehst, erwarten wir Hilfe und Trost.

  • Wir bitten dich für unsere Regierung. Bitte hilf unseren Politikern, nicht an Mauern zu glauben. Schenke ihnen die Sehnsucht und den Einsatz für eine gerechte Welt für alle. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für die Menschen, die aus verschiedenen Gründen in unser Land gekommen sind. Lass sie bei uns Heimat finden und Teil unseres Landes werden, lass sie Freunde, Arbeit und Zukunft finden bei uns. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für die Menschen, die aus verschiedenen Gründen auf dem Weg sind in ferne Länder. Schenke ihnen ein Dach über dem Kopf und Kraft für den Weg, bewahre sie auf ihrer gefährlichen Reise. Schütze besonders die Kinder und Jugendliche. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für die Bürgerkriege und bewaffneten Konflikte dieser Erde. Hilf allen Kämpfenden, zur Besinnung zu kommen, damit sie wieder Mitgefühl lernen können. Hilf ihren Opfern, dass sie sich nicht aufgeben. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich wegen der Hartherzigkeit und Grausamkeit in unserem Land. Hasskommentare im Internet und auf offener Straße greifen um sich: gegen Zugewanderte, gegen Frauen, gegen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle. Mach uns wachsam und widerständig gegen den Hass, öffne unserem Volk die Augen für das, was du in Menschen siehst. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für deine Kirche auf der ganzen Welt. Wo sie Teil ist von korrupten Machtstrukturen, von Unterdrückung und Gewalt, da erhebe sich über sie und brich sie auf. Hilf Christinnen und Christen, sich nicht hinter einem Weltbild zu verstecken, sondern dich mit ganzem Herzen und mit ganzem Verstand zu suchen. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für die Einsamen und Verletzten, die sich nicht heraustrauen aus ihrer Wohnung, aus ihrer Einsamkeit. Sprich ermutigende Worte in die Tiefe ihres Herzens, damit sie neuen Lebensmut fassen. Öffne Wege aus der Einsamkeit zu neuer Gemeinschaft. Christus, erhöre uns.
  • Wir bitten dich für unsere Gemeinde. Sei immer spürbar in allen ihren Arbeiten, schenke uns Vertrauen auf deine Wege mit uns, lass uns heilsame christliche Gemeinschaft gestalten, führe Menschen zu uns, denen du hier begegnen willst. Christus, erhöre uns.
  • Mit gesprochen oder stummen Worten bringen wir unsere eigenen Anliegen und Gebet vor dich.

    Christus, erhöre uns.

Denn du, Herr Jesus, bist der Freund der Menschen, und du siehst uns ins Herz. Deswegen loben und preisen wir dich, mit dem Vater und dem Heiligen Geist.
AMEN.

 

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