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Aus dem Tagebuch eines Vergebungsgeschädigten

Predigt MCC Köln, 14. September 2014
Ines-Paul Baumann

14. September.
Oh Gott, schon wieder eine Predigt über Vergebung.
Naja, zumindest sitzt da vorne ja der fiese Ole mit seinen langen Haaren, der mir in den letzten Wochen so viel Unrecht getan hat.
Vielleicht kapiert er heute endlich, was er mir damit angetan hat.
Wenn er nach dem Gottesdienst auf mich zukommt und mich um Vergebung bittet, werde ich der Erste sein, der sie ihm gewährt.

2 Tage später.
Heute ist Ole tatsächlich auf mich zugekommen. Freundlich lächelnd strich er sich die langen Haare aus dem Gesicht, streckte mir seine Hand hin und sagte: „Ich weiß, es ist nicht gut gelaufen mit uns in letzter Zeit. Aber ich vergebe dir.“
Dieses arrogante hochnäsige selbstgerechte verlogene Arschloch.
Morgen werde ich mir eine neue Gemeinde suchen.

1 Tag später.
Habe mich von meiner Freundin getrennt. Werde mir eine neue suchen.

1 Tag später.
Meine Mutter hat angerufen. Ist nicht gut gelaufen. Werde mir morgen eine neue suchen.

3 Minuten später.
Ich kann mir ja gar keine neue Mutter suchen.

Nächster Sonntag.
Bin mal in eine andere Gemeinde gegangen. Alle sehr nett hier. Auch hier predigen sie Vergebung:

Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.

Mt 18,21-22

Ich bin auch für Vergebung. Aber siebzigmal siebenmal vergeben?? Muss an Ole denken. Solange der nicht auf mich zukommt und um Entschuldigung bittet, bekommt der nicht mal eine einzige Vergebung von mir!
Aber ist ja nun auch egal, ich werde eh nie wieder in meine alte Gemeinde zurückkehren.

3 Monate später.
Alles auch nur scheinheilige Christen hier! Nach vorne alle nett, aber hintenrum auch nicht anders als alle anderen. Seit zwei Monaten engagiere ich mich jetzt schon, und wer dankt’s einem? Dafür kriegt die Heulsuse aus der dritten Reihe immer die ganze Aufmerksamkeit. Sollen die ihren Kram doch alleine machen!
Wie konnte ich das nur so lange mitmachen?! Immer kriege ich nichts auf die Reihe, ich bin echt zu blöd für alles.

6 Monate später.
Habe vor ein paar Tagen meinen alten Pastor angerufen und war heute mal wieder in meiner alten Gemeinde. Die Predigt ging über Vergebung. Habe meinen Pastor gefragt, ob er das mit Absicht gemacht hat. Er behauptet, das sei im Leseplan so dran gewesen. Ich glaube ihm kein Wort. Was habe ich dem denn getan, dass der mich vor der ganzen Gemeinde so bloß stellt! Ole hat natürlich wieder nur triumphierend gelächelt, als er beim Friedensgruß auf mich zukam. Ich hätte ihm am liebsten in seine blöde Fresse gehauen. Aber ich habe mich zusammengerissen. Ich bin schließlich ein guter Christ.

1 Monat später.
Habe heute eine Predigt über Liebe gehört. Habe anschließend in meinem Tagebuch geblättert und wundere mich über mich selbst. Sehr liebevoll geht es darin ja nicht zu. Was für ein unwürdiger Sünder ich doch bin. Ich bin Gottes Liebe einfach nicht wert. Werde ab sofort liebevoller mit meinen Mitmenschen umgehen.

2 Tage später.
Meine Mutter hat angerufen. Sie ist sehr traurig, weil ich mich so zurückgezogen hatte. Habe sie spontan für nächstes Wochenende eingeladen. Halleluja, ich bekomme es tatsächlich hin, allen die Liebe Gottes zu zeigen!

5 Tage später.
Habe mit meiner Mutter zusammen einen Kuchen gebacken und ihn Ole geschenkt. Versöhnung ist toll. Ole hat sich gewundert, warum ich freiwillig wieder Zeit mit meiner Mutter verbringe. Ich war sehr großherzig und habe ihm geduldig und barmherzig erklärt, dass sie doch eigentlich gar nichts Schlimmes getan hat. Sie konnte nun mal nicht anders bei ihrer eigenen Erziehung. Sie hat doch nur das beste für mich gewollt. Da müsse man schon mal Vergebung gewähren. Ole zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe. Was für eine Genugtuung – da kann er mal sehen, zu was ich in der Lage bin! Gottes Kraft ist mächtig!

1 Monat später.
Habe Post vom Gericht bekommen. Mein Bruder hat Anklage gegen meine Mutter erhoben wegen schwerer Misshandlung. Ich habe ihn angerufen und ihm gesagt, dass er die Anklage zurückziehen soll. Was wird ihm das nützen? Es ist doch viel besser, ihr zu vergeben und das alles ein für alle Mal zu vergessen! Das ist Gottes Wille für uns!

2 Monate später.
Habe Alpträume.

1 Woche später.
Habe heute vor Beklemmungen die Wohnung nicht verlassen können.
Sehe überall Gesichter von Ole und von meiner Mutter.

1 Woche später.
War heute in einer Gemeinde, in der mich niemand kennt. Alle waren sehr freundlich zu mir. Und wie offen die waren! Zwei haben mir direkt erzählt, wie sehr ihre Eltern und Partner sie verletzt haben. Ich habe ihnen dann auch direkt viel von mir erzählt. Von meinen Alpträumen und Ängsten. Und von meiner Mutter und von Ole. Sie waren sehr verständnisvoll. Sie haben mir erklärt, dass meine Gefühle ganz natürlich seien – bei dem, was meine Mutter und Ole mir angetan haben! Als Opfer von Gewalt müssen wir zusammenstehen! Wie schön ist es, dass Gott unsere Verletzungen anerkennt.

1 Tag später.
War heute zum Bibelkreis in meiner neuen Gemeinde. Es ging um Jesus. Jesus ist ja selbst Opfer von Gewalt geworden und weiß, wie wir uns fühlen. Ich spüre ganz neu, dass Jesus mich wirklich liebt.

6 Tage später.
Gottesdienst in meiner neuen Gemeinde. Sie haben Recht: Jesus ist gesandt zu den Kranken und Bedürftigen! Zu uns, den Opfern! Ich bin Gott so dankbar, endlich ein zuhause gefunden zu haben, wo ich so sein darf, wie ich wirklich bin.

2 Jahre später.
Die letzten zwei Jahre waren toll. In meiner neuen Gemeinde verstehen sich alle. Heute gab es ein paar Irritationen. Wir hatten eine Gastpredigerin, und sie predigte von Vergebung. Na, da hatte sie sich aber die falsche Gemeinde ausgesucht! Gott würde die Gewalt, die uns angetan wurde, nie so schönreden! Gott wird die Täter zur Rechenschaft ziehen statt sie zu entschuldigen!

1 Tag später.
Nach der Predigt gestern ist uns im Bibelkreis ein toller Plan gekommen. Wenn Gott Gerechtigkeit will, dann können wir ihm doch dabei helfen! Es ist Gottes Wille, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, oder? Irgendwie müssen sie doch einsehen, was sie Schlimmes getan haben. Wie sollen sie Gott und uns sonst um Vergebung bitten können? Wenn sie nur mal zu spüren bekommen, was sie uns angetan haben, würde ihnen das sicher helfen. Dann wüssten sie, wie sich das anfühlt. Wie sollen sie um Vergebung bitten können, solange sie gar nicht verstanden haben, wie tief die Verletzungen sind, mit denen sie unser Leben versaut haben?

4 Tage später.
Auf der Straße bin ich meiner Ex-Freundin begegnet. Wir haben Kaffee getrunken und ich habe ihr von meinem neuen Leben erzählt. Dass ich endlich eine wichtige Aufgabe habe. Dass mein Leben jetzt einen Sinn hat. Dass wir einen Auftrag haben. Im Namen Gottes. Es geht ja nicht nur um die Mütter und Oles dieser Welt. Wir werden gegen alle angehen, die sich der wahren Liebe Gottes in den Weg stellen. Männer mit langen Haaren mochte ich noch nie, und seit Ole bin ich erst recht gewarnt. So Unnormale werden mir mein Gemeindeidyll jedenfalls nicht nochmal kaputt machen. Meine Freundin hat nix verstanden. Sie hat irgendwas von Vergebung und Klischees und Vorurteilen gelabert. Naja, sie wirkte insgesamt eher distanziert. Gut, dass ich sie verlassen habe. Sie weiß echt gar nichts von mir.

3 Monate später.
So langsam werde ich wieder. Bin jetzt schon in der offenen Weiterbehandlung. Hatte einen Nervenzusammenbruch und Wahnvorstellungen. Meine Ärzte sagen, dass ich noch einen langen Weg vor mir habe auf dem Weg zur Heilung. Ich muss wohl endlich lernen, die Verantwortung für mein Leben selbst zu übernehmen. Das ist gar nicht so einfach. Ich muss ganz schön viel neu sortieren. Mich trennen von so manchen lieb gewonnenen Ansichten. Von manchem aus der Vergangenheit, an dem ich immer festgehalten habe, um mein Weltbild stimmig zu halten. Und von meinem alten Selbstbild.
Es ist wie ein Abschied. Fast wie ein Trauerprozess.

Immerhin konnte ich schon mal stehenlassen, was meine Mutter mir angetan hat. Vergeben heißt eben nicht vergessen.

Ich muss auch nicht mehr schönreden, was sie mir angetan hat. Mag sie selber sonstwie geprägt worden sein, mag sie es noch so gut gemeint haben: Sie hat mir Unrecht angetan.

Ich muss auch nicht mehr so tun, als müssten Ole und ich beste Freunde werden. Vergebung ist nicht immer gleichbedeutend mit rosaroter Versöhnung.

Ich kann die beiden loslassen. Sie sitzen nicht mehr jeden Tag in meinem Herzen und belagern mein Inneres. Sie sind schuldig an mir geworden, aber sie tragen nicht die Verantwortung für den Rest meines Lebens.

Umgekehrt ist das auch eine Hilfe: Ich habe ja auch anderen das Leben schwer gemacht. Auch hier sage ich mir dauernd, dass ich damit nicht die Verantwortung für den Rest ihres Lebens trage. Ich habe Fehler gemacht, aber es muss vorangehen können.

Mir selber zu vergeben ist manchmal am schwierigsten. Ich denke immer noch oft, dass ich Gottes Liebe nicht wert bin.

Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern. Was passiert ist, ist passiert. Aber ich kann dafür sorgen, dass es wieder eine Zukunft gibt.

Das ist die Vergebung, die ich jetzt lernen möchte. Schon hier auf der Station kann ich das gut üben. Auch hier habe ich jetzt schon öfter erlebt, dass Leute mir Unrecht getan haben. Aber anders als früher versuche ich, handlungsfähig zu bleiben. Mich auf das zu besinnen, was Gott mir als Weg zum Leben ans Herz gelegt hat. Auf die Aufgaben, die Gott für MICH bereit hält. Auf den Weg, den Gott für MICH öffnet. Warum sollte ich davon abweichen, nur weil andere es nicht gut mit mir meinen oder mich übersehen oder missverstehen? Gott meint es gut mit mir, Gott übersieht mich nicht, Gott missversteht mich nicht.

Trotzdem: Vergebung ist gar nicht so einfach.

Ich versuche jetzt einfach täglich, Jesus nachzufolgen. Er wurde gekreuzigt aufgrund einer Verleumdung und Verhöhnung. Er wurde missverstanden. Es wurden Lügen über ihn erzählt. Es gab Neider. Er wurde schlecht gemacht. Ihm wurde so viel Unrecht getan. Und als sie ihn ganz zerstören wollen, da betete er: „Vater, vergib ihnen.“

Was für ein Gebet: „Gott, vergib DU ihnen!“
Vielleicht hatte selbst Jesus an diesem Punkt Schwierigkeiten, seinen Peinigern zu vergeben.
Aber dieses Gebet war der Anfang des Durchbruchs zu einem neuen Leben.

 

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