Predigt MCC Köln, 29. Juli 2018
Ines-Paul Baumann
Jeremia 1,4-10
Mit dem klischeehaften Adressaten so mancher Sündenbekenntnisse scheint Jeremia so wenig gemeinsam zu haben wie viele Frauen, HIV-Infizierte, Depressive und Transmenschen auch: Statt zu viel haben sie eher zu wenig Selbstbewusstsein. Sich groß machen, sich was zuzutrauen, sich selbst wichtig zu nehmen? Statt dafür zu Kreuze zu kriechen, wäre es ihnen manchen eher mal zu wünschen! Die Sozialisation, die Menschen zu stolzen und selbstgerechten Klischee-Büßern macht, gilt halt nicht für ALLE Menschen.
Manchen in der MCC geht es vielleicht eher so, dass sie sich Aufgaben nicht gewachsen fühlen, weil ihnen nie eine zugetraut wurde. „Du, ich hab was mit dir vor. Ich geh mit dir, ich helfe dir mit allem, was du brauchst, und wenn du mal nicht weiter weißt, bin ich immer da. Es kann eigentlich nichts schiefgehen. Hast du Lust? Sollen wir?“ Das haben sie vielleicht nie gehört. Jeremia jedenfalls scheint davon überrascht zu sein. Der großen Aufgabe scheint er sich nicht gewachsen zu fühlen.
Ich persönlich habe angesichts von großen Aufgaben auch oft gedacht: „Ich bin zu jung.“ (Seitdem ich auf die 50 Jahre zugehe, ist daraus übrigens übergangslos ein „Ich bin zu alt“ geworden.)
Der Predigtdienst ist überhaupt ein gutes Beispiel. Leute, die das wunderbar machen, stehen vor mir und zweifeln an sich und sagen: „Nee, ich kann das nicht, ich trau mir das nicht zu.“ In Jeremias Worten: „Ich tauge nicht zu predigen, ich bin zu jung.“
Aber vielleicht meinte Jeremia das ja auch genau andersherum. Vielleicht war es für Jeremia gar nicht so, als wäre Predigen eine tolle große wunderbare Aufgabe. Vielleicht fühlte es sich eher an, als würde ich ihn nach dem Gottesdienst fragen, ob er uns nicht eben noch dabei helfen könne, die Kaffeetassen zu spülen. „Ach nee, dafür bin ich nun wirklich noch zu jung!“
So wie Gartenzwerge aufstellen, sich auf eine feste Beziehung einlassen oder Sonntag abends ZDF gucken. „Nee, DAFÜR bin ich zu jung!“
Gott darüber bestimmen lassen, wo ich hingehe, was ich tue und was ich sage? Mich in den Dienst Gottes stellen? „Nee, DAFÜR bin ich echt noch zu jung!“
Ich weiß nicht, wie Jeremia es meinte. Aber so oder so blickt er in dem Moment, wo Gott auf ihn blickt, ebenfalls auf sich. Gott blickt Jeremia an und sieht was in ihm, was dieser bisher nicht in sich sah (oder sich davor gedrückt hat, es zu sehen). Vielleicht ist Prophetsein so ähnlich wie Lesbischsein: Du weißt es eigentlich schon lange, drückst dich aber so lange drumrum, bis es halt nicht mehr anders geht.
So ganz falsch wäre der Vergleich nicht. Propheten waren keine Leute, die sich beliebt machten (außer vielleicht bei denen, die endlich eine Stimme bekommen haben, die das Unrecht, das ihnen geschah, öffentlich aussprach). Propheten legten sich quasi berufsbedingt mit den Mächtigen an, sprachen an und sprachen aus, was schief läuft. Z.B. wo Mächtige und Konzerne schlichtweg lügen, wenn sie so tun, als würden sie für Gerechtigkeit und Frieden sorgen, das aber auf Kosten anderer oder der Umwelt geht. Anders als die AfD und andere, die heute meinen, „das müsse man doch noch sagen dürfen“, verbreiteten die Propheten keine Lügen und Fake-News, sondern sprachen einfach Wahrheiten aus.
Jedenfalls machte sich auch Jeremia damit unbeliebt, wurde verfolgt und ausgegrenzt und machte sich das Leben nur schwerer statt leichter. Auch insofern soll ihm zugestanden sein, dass er seine jungen Jahre vielleicht lieber noch unbelastet genossen hätte. „Ach Gott, ja, ich weiß, ich komme nicht drumrum, aber lass uns noch ein bisschen damit warten, ja? Vielleicht haben wir in 2 Jahren eine Regierung, die Propheten besser anerkennt als jetzt noch.“ (Scherz am Rande. Darauf zu hoffen, dass sich erst die anderen ändern, bevor wir uns trauen, unsere Leben zu leben? Da wird aus einem „Ich bin zu jung“ tatsächlich schnell mal ein „Ich bin zu alt.“)
Zurück zu Jeremia. Gott blickt auf ihn, sieht was in ihm, und Jeremia blickt daraufhin auch erst mal auf sich. Finde ich nicht nur nachvollziehbar, sondern äußerst angemessen. Hier geht es ja nicht um Gott. Es ist ja nicht so, dass Gott zu Jeremia sagt: „Hallo Jeremia. Los geht‘s, jetzt bist DU dran“, Jeremia daraufhin sagt: „Aber Gott! Ich bin zu jung!“, und sich Gott dann mit der Handinnenseite auf die Stirn schlägt und sagt: „Ach stimmt! Jeremia! Das habe ich ja gar nicht gewusst! Danke, dass du mich drauf aufmerksam machst! Du bist ja noch zu jung! Wie konnte ich das nur vergessen!“
Nein, Jeremias Auskunft über sein zu-jung-sein richtet sich nicht an Gott. Es geht hier nur um ihn selbst. „Wo stehe ich? In welcher Situation bin ich gerade? Wer bin ich?“
Es gibt im Alten Testament drei große Propheten: Mose, Jesaja und Jeremia. Alle drei hatten so Momente. Sie fühlten sich nicht bereit, nicht sicher genug, nicht ausgerüstet genug – nicht GUT genug. (2. Mose 4,10; Jesaja 6,5-7)
Vor einem Schritt in die Zukunft steht der Blick in die Gegenwart. Ich fahre ja mittlerweile viel Bahn und habe eine Bahn-App (und eine KVB-App). Die funktionieren beide ähnlich. Es reicht ihnen nicht, dass ich eingebe, wo ich hin will. Die wollen immer auch wissen, wo ich losfahre. Wir können uns nicht auf den Weg machen zu einem Ziel, solange uns nicht klar ist, wo wir gerade sind. (Wobei: Gerade wenn wir mit Gott unterwegs sind, ist das Ziel der Reise oft unbekannt…!)
Wo stehe ich gerade? Was ist meine Ausgangssituation? Das klärt Jeremia hier gerade.
Bei Ausbildungen in der MCC (z.B. zur Ordination, aber auch für andere Möglichkeiten der Fortbildung) machen wir das genau so. Es geht nicht nur darum, was wir am Ende können sollen. Es geht immer auch darum, am Anfang zu klären, wo wir stehen. Und daraus werden dann individuelle Ausbildungsverträge gestrickt.
Aber das gilt auch für ganz andere Themen.
Soll ich die OP machen? Wo stehe ich denn gerade?
Soll ich mich in der Gemeinde outen? Wo stehe ich denn gerade?
Soll ich in Köln bleiben oder umziehen? Wo stehe ich denn gerade?
Soll ich in der MCC eine Aufgabe übernehmen? Wo stehe ich denn gerade?
Es hilft uns auch bei späteren Angriffen anderer, wenn wir uns über unsere eigene Situation klar geworden sind. Wenn Jeremia Prophet wird und dann andere kommen und sagen: „Moment mal, Jeremia: DU? Prophet? HAHA, du bist doch viel zu jung!“ – dann wird Jeremia ganz anders darauf reagieren können, wenn er sich vorher bereits damit auseinandergesetzt hat.
Vielleicht sollten auch wir das bedenken, bevor wir auf andere zeigen und abfällig denken: „Wie – DIE? Die soll im Namen Gottes unterwegs sein? Die ist doch viel zu jung / neu / dick / dünn / alt / depressiv / hässlich / schön / ungeschickt / intelligent / reich / …. Möge denen, die solchen Urteilen ausgesetzt sind, ihre Situation vorher bewusst geworden sein, und ihnen solche Vorwürfe nicht den Boden unter den Füßen wegziehen.
Jeremia schaut freilich nicht nur darauf, wo er gerade steht, sondern der Text verhandelt auch die Frage, woher er kommt. Was ihn geprägt hat. Das tut der Text nun allerdings (typisch-biblisch) etwas verschwurbelter:
„Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“
Mit anderen Worten: Hier geht es darum, wo Jeremia herkommt. Was ihn geprägt hat. Was ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Es steht also nicht nur eine Entscheidung für die ZUKUNFT an, auf die Jeremia mit einem Blick in seine GEGENWART reagiert, sondern auch ein Blick in seine VERGANGENHEIT gehört dazu.
Spannend an diesem Predigttext ist nicht, dass das bei solchen Entscheidungen geschieht. Was mir hierdran gefällt, ist, wie sich diese Blicke auf das eigene Leben verbinden mit der Perspektive des Glaubens:
Die Bibelstelle verwebt das Ineinander und Miteinader von Menschenwirken und Gotteswirken auf ganz besondere Weise. Der Mutterleib und die Mutter an dieser Stelle sind grammatikalisch unklar; sie lassen sich sowohl Gott zuordnen als auch nicht. Die leibliche Mutter Jeremias ist hier nicht zu unterscheiden von Gott als Mutter Jeremias. Mal so ganz nebenbei erhält Gott hier einen Mutterleib. Aus Sicht des Textes lässt sich der Weg, wie Jeremia ins Leben gefunden hat, nicht klar einteilen in menschliches Wirken hier und göttliches Wirken da.
Wir sind nicht nur irgendwie geboren und aufgewachsen und wurden irgendwie geprägt durch Gene, Umfeld und Erziehung.
Manchen reicht das ja, um sich für den Rest des Lebens festgelegt zu fühlen.
Gottesglaube fragt anders: Was kann da noch draus werden? Was habe ich aus der Zeit mitgenommen, was heute und morgen wichtig sein kann? Was hat Gott mir in der Zeit mitgegeben (an Erfahrungen, an Einsichten, an Umgangsweisen), die mich heute begleiten und ausrüsten? Wie kann ich damit Gott, anderen und mir selbst dienen? Habe ich besondere Sensoren entwickelt? Habe ich aushalten gelernt? Habe ich widersprechen gelernt? Habe ich mit-leiden gelernt? Was habe ich mitgenommen? Was steckt in mir? All das kann heute Teil davon werden, dass ich es Gott und anderen und mir zur Verfügung stelle.
Das gilt nicht nur für uns Einzelne, das gilt auch für uns als MCC. Auch wir haben eine Vergangenheit, haben Erfahrungen, haben Prägungen.
MCC hat sich für die „Ehe für alle“ und Inklusive Sprache eingesetzt, traut Paare aller Geschlechter und hat Transmenschen auf ihren Namen getauft, als andere Kirchen noch nicht mal wussten, dass es sowas gibt (auch wenn es zu jedem dieser Bereiche mittlerweile – meist evangelische – Kirchen und Pfarrer in Deutschland gibt, die meinen, es erfunden zu haben).
In den 80er und 90er Jahren war MCC die Kirche mit AIDS.
Beides hat uns geprägt: Wir haben Mut und Widerstand und Stärke und Ausdauer bewiesen, wir kennen aber auch Leid, Verzweiflung und unsere Grenzen. Im Vergleich mit anderen Kirchen denken MCC-Leute durchaus oft: Wir taugen nichts, wir sind so jung. Wir sind so arm. Wir sind so klein. Wir sind so unbekannt. Die Wand vorne im Gottesdienstraum ist so unprätentiös.
Und sagt Gott dann?: „Ach stimmt, danke für die Info, liebe MCC. So jung und arm und klein wie ihr seid, seid ihr raus. Ihr habt ja recht. Eigentlich kann ich nur mit Kirchen arbeiten, die es schon lange gibt, die eine gewachsene feste Struktur haben, die über Finanzen und Kontakte und Gebäude verfügen, von denen ihr nicht mal träumt. Liebe MCC, ich stimme euch zu, das lohnt sich einfach nicht mit euch.“
Nein, das sagt Gott NICHT. Nicht der Gott, der zu und durch Mose, Jesaja und Jeremia gesprochen hat. Diese Gott weiß, wer wir sind, wo wir herkommen, und wo wir stehen – und Gott weiß auch, warum und wofür sie die MCC braucht. Dass wir uns dabei klein und unsicher fühlen und vielleicht nicht immer nur offene Türen einrennen, das ist für Gott kein Hindernis. Genau DAMIT sind wir für Gott so wertvoll.
Und ein Teil dessen, was uns so wertvoll macht, ist heute hier versammelt: Menschen, die mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart willkommen sind in der Gegenwart Gottes – und dieses Willkommensein für andere mitgestalten. Für manche ist es Aufgabe genug, den heutigen Tag zu überstehen. Andere haben hier schon weitreichende Entscheidungen getroffen, die ihr Leben und das anderer für immer verändert haben. Ob wir gerade mit unserer Vergangenheit beschäftigt sind, oder damit, das Heute zu bewältigen, oder sich unsere Gedanken um Entscheidungen drehen, die die Zukunft betreffen: Wo Gott uns einlädt, findet unsere Vergangenheit ein Zuhause, unsere Gegenwart einen Platz und unsere Zukunft einen Weg.