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„Allgegenwärtig“ und „allmächtig“… – die Gewalt??

Predigt MCC Köln 30. Okt. 2016
Ines-Paul Baumann

Psalm 88 & Offenbarung 8, 1-12 & 9,1-21 & 11,15-19 & 21,1-4

Die Bibel hat im Lauf ihrer Geschichte nicht nur dazu gedient, Unrecht und Gewalttaten zu rechtfertigen, die in ihrem Namen begangen wurden. Sie versammelt auch Geschichten derjenigen, denen Unrecht und Gewalt angetan wurde. Sie gibt damit Unmengen von Menschen eine Stimme, deren Leiderfahrungen noch dadurch verschlimmert werden, dass sie verschwiegen werden.

Und sie greift die Fragen und Klagen derjenigen auf, die das Leid mit ansehen.

Manche zerbrechen daran.

So manche derjenigen, die angesichts des Leidens in der Welt zerbrechen, haben darüber ihren Glauben verloren – ihren Glauben an „das Gute im Menschen“. Ihren Glauben an „Gott“. (Oder, wie Buddha unter seinem Baum, ihren Glauben an die „wirkliche Welt“.)

Es gibt aber Glaubende, die auch inmitten allen Leids geradezu widerspenstig und trotzig daran festhalten, dass weder ihr Gott noch ihre Glaubensgenossen damit davonkommmen. Zwei Möglichkeiten, das zu tun, möchte ich euch heute näher vorstellen:

Option 1: Psalm 88 (unendlich untröstlich)

Der Beter des Psalms hat nicht nur das Problem nicht enden wollender Leiderfahrungen. Er hat zudem das Problem, an einen Gott zu glauben, der ihm all das beschert. Für ihn ist ganz klar, dass Gott selbst die Quelle all des Leidens ist, das er erfährt.

Und um es auf die Spitze zu treiben, erfährt er das Unrecht aus seiner Sicht auch noch zu Unrecht. Andere würden sich hier vielleicht mit einem Gott retten, der sie „zurecht“ straft – dieser Beter tut das nicht. Er ist schuldlos. Gott ist Täter – ausgerechnet der Gott, den er in Vers 1 als seinen „Heiland“anruft.

Wie passt das zusammen? Er glaubt an den Gott als seinen Heiland, und gleichzeitig erfährt er einen Gott, der ihn über und über mit Leiden quält.

Manch einer würde diesen Gott umgehend aufgeben und alle Glaubensbezüge hinter sich lassen (nachvollziehbar!).
Manch eine würde ihr Gottesbild ändern – und statt dem Heilands-Gott ab nun einen Unheils-Gott verkünden (auch nachvollziehbar).

Dieser Beter hält aber sowohl an seinem Glauben als auch an seinem Heilands-Gott fest (eine Einstellung, die immer wieder bei Leiderfahrungen in der Geschichte des Judentums auftaucht).

Dieser Beter ist nicht gewillt, Gott aufzugeben. Statt ab sofort nur noch über ihn (oder gar nicht mehr von ihm) zu reden, redet er immer noch MIT ihm. Wieder und wieder überzieht er Gott mit seiner Klage über das erfahrene Unrecht. Konfrontiert ihn mit seinen Fragen und seiner Verzweiflung.

Depressive erzählen mir immer wieder, dass sie Gott in Zeiten der Depression nicht spüren können. Dass Gott ganz weit weg ist. Ich weiß nicht, was besser ist – ein Gott, der nicht da ist, oder ein Gott, der das Leid verursacht.

Aber offenbar gibt es Menschen, die auch in solchen Zeiten nicht gewillt sind, ihren Gott aufzugeben.

Die erste Möglichkeit, wie es uns gehen kann mit all dem Leid, kann also auch für Glaubende die sein, ungetröstet und untröstlich zu sein. Die Bibel hält das aus. Ich lade uns ein, das ebenfalls auszuhalten.

Lesung: Psalm 88
1-2 min Musik

Option 2: Johannes-Offenbarung (unendlich getröstet)

Auch die Johannes-Offenbarung ist geschrieben im Angesicht von Leid, Unrecht und Gewalt. Gut möglich, dass auch Johannes selbst Leid, Unrecht und Gewalt erfahren hat (z.B. seitens des Römischen Reiches aufgrund seines nicht-/anti-römischen Glaubens). Sein Blick ist jedenfalls geschärft für Unrecht und Gewalt; und er sieht das überall, wohin er auch blickt. Ob zu der Zeit gerade Krieg herrscht oder gerade Krieg geherrscht hat, ob es gerade einen gewaltigen Vulkan-Ausbruch gegeben hatte oder nicht: Seine Bilder schildern eindrücklich Schreckens-Szenarien, die Menschen auch in den 2000 Jahren danach immer wieder füllen konnten mit den Schrecken ihrer eigenen Zeit.

Auch hier mag es manchmal so wirken, als käme das Leid direkt aus Gottes Hand vom Himmel hinab auf die Erde – aber im Gegensatz zum Psalmisten scheint Johannes in Gott nicht den Auslöser für die Leiden zu sehen. Seine Schreckensbilder erfüllen eine andere Funktion: Die Siegel der Verschwiegenheit werden geöffnet – und das Unheil kommt zur Sprache. Die Posaunen ertönen – und das Unheil wird benannt. Wie nach dem Gong der Nachrichtensendung. Der Gong hat das Unheil nicht verursacht, von dem hernach berichtet wird.

Johannes sieht also hin (statt wegzuschauen). Er benennt das Unrecht (statt es zu verschweigen). Und er beobachtet genau, was um ihn herum geschieht: „Welche Kräfte verhindern Leben? Welche bringen es zum Blühen?“ (**, S. 729)

Er sieht dabei etwas, was ihn um so mehr aufregt: Ausgerechnet seine vermeintlichen Glaubensgenossen fangen angesichts der ausbleibenden Wiederkehr Jesu an, sich mit den Umständen und Zuständen der Welt einzurichten. Sie passen sich an. Sie finden sich ab mit dem, was ist und wie es ist.
Auch dies kann ein Weg sein, mit Leid und Unrecht und Gewalt umzugehen.
Für Johannes ist es das nicht.

Und so schreibt Johannes mit einer doppelten Perspektive: Wer und was bringt das Leid über die Menschen? Und wie gehen diejenigen, die sich als Glaubende betrachten, damit um?

Was Johannes hierzu beobachtet, würde bei manch anderen dazu führen, als allgegenwärtig und allmächtig nur noch die Gewalt anzusehen und nicht mehr ihren Gott.

Und genau für diese Menschen kann die Offenbarung des Johannes wichtig werden.

Dass dieser Text am Ende eine heilvolle Welt schildert, ist nämlich nicht eine Hoffnung, die nur optimistische oder abgehärtete Menschen in sich herstellen können. Der Trost der Johannes-Offenbarung kommt von außen und wird uns zugesprochen. „Die Frohe Botschaft vom Heil will gerade die erreichen, die (…) pessimistisch, depressiv, hoffnungslos und verzweifelt sind, für die diese Welt im Argen liegt und keine Zukunft mehr hat.“ (*, S. 169)
(Das Ganze als quasi nur persönliches Problem von Leuten mit „einer katastrophalen inneren Haltung“ und einer „kranken Psyche“zu sehen, finde ich ziemlich daneben von Herrn Anselm Grün. Aber dieser Ausschnitt seines Satzes ist wirklich gut.)

Ja, sagt Johannes, es bedarf einer neuen Welt – „jenseits der Gewalt, aber nicht jenseits der Natur“ (*, S. 728), und es wird sie geben. Gib also nicht auf.
Hör nicht auf, den Blick auf Gott und das Heil zu richten – und hör nicht auf, deinen Blick auf das zu richten, was in dieser Welt geschieht.

Das ist die zweite Option, die ich heute anbieten möchte: Getröstet sein INMITTEN und ENTGEGEN allen Unrechts, anstatt dass wir unseren Bick davor verschließen oder dabei mitmachen müssen.


Literatur (womit ich nicht sage, dass ich allem in den Büchern Geschriebenen uneingeschränkt zustimme):

  • Hans-Helmar Auel (Hg.): „Der rätselhafte Gott – Gottesdienst zu unbequemen Bibeltexten“
  • * Anselm Grün: „Schwierige Bibelstellen spirituell erschlossen“
  • ** Luise Schottrof und Marie-Theres Wacker (Hg.): „Kompendium Feministische Bibelauslegung“

 

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