Predigt MCC Köln, 12. Juni 2016
Ines-Paul Baumann
1. Timotheus 1,12-17: Der „Lästerer und Verfolger und Frevler“, der sich selbst treu blieb
Im Autonomen Zentrum in Köln habe ich gestern ein kleines Wunder erlebt. Statt Religion zu ignorieren oder zu bekämpfen, wurde ein Raum geschaffen für Dialog und Auseinandersetzung, zumindest für diesen einen Abend:
coVen don’t preach – Lezzing my religion
11. Juni 2016+++Lesbians+Inter*+Trans*+Queers+Asexy+Friends+(Non-)Believers GATHER+++
Konzert.Party.Input.Ausstellung.
Unter dem Motto ‘coVen Don’t Preach’ (Lezzing My Religion) wagen wir eine popkulturelle Annäherung an die Frage, wie Religion und FLTIQ*-Themen zusammenpassen.
Wir sind uns dessen bewusst, dass Religion, genau wie Gender und Sexualität, für viele Menschen ein identitäres und damit sensibles Thema ist. Von allen monotheistischen Glaubensrichtungen gibt es homo- und queerfeindliche Auslegungen, aber auch gläubige Queers. Wie immer werden wir versuchen durch Informationsmaterial eine erste Annäherung an das Thema zu bieten, die aber subjektiv und selektiv sein wird – wer etwas beisteuern möchte ist sehr herzlich dazu eingeladen und schreibt uns am besten eine Mail (covencologne@gmail.com).
Darüber hinaus wird es wie immer eine großartige Band und Lieblingskonservenmusik geben, die nichts mit dem Thema zu tun haben. Tanzen, feiern und Feuertonnenpalaver für alle – mit, ohne, für, gegen Religion.
Wir selbst haben eine kritische Haltung gegenüber jeglicher Religion und möchten dennoch einen Raum für Austausch, Akzeptanz und Vielfalt schaffen, eventuelle Vorurteile ausräumen oder teilweise bestätigen und in keinem Fall Menschen “missionieren” – egal in welche Richtung, es sei denn er_sie ist grenzverletzend.
Was für ein bemerkenswerter Schritt! Die Erfahrung mancher Christen mit Religionskritiker_innen gleicht sonst oft eher der Erfahrung früherer Christen mit Saulus, einem kämpferischen „Lästerer und Verfolger und Frevler“, der sie „beschimpft, verfolgt und verhöhnt“ hat (wie er selbst von sich schreibt, bevor er dann als Paulus – genau so kämpferisch – zum Verfechter christlichen Glaubens wurde).
1) Abgrenzung GEGENÜBER dem Glauben
Religions-Gegner bekämpfen etwas, was ihnen falsch und gefährlich erscheint. (Da sind sie genau wie Paulus, bevor er sich dem christlichen Glauben anschloss.)
Die Auseinandersetzung mit Religionskritiker_innen und ihren Argumenten finde ich wichtig. Vieles davon stimmt ja! Oft erkennen sie etwas, was mir hilft, gefährliche Anteile zu erkennen und hoffentlich zu verbessern.
Aus meiner Sicht sollten Kritik, Wachsamkeit und Skepsis ein Teil jeder Glaubensgemeinschaft sein (und zwar nicht nur als Stimmen von Menschen, die eine Gemeinschaft halt irgendwie ertragen muss – sondern voller Anerkennung und Respekt dafür, dass sie ihre Kritk äußern!).
Das ist durchaus biblisch. Die Propheten im Alten Testament sind das beste Beispiel dafür. Schonungslos prangern sie alles an, was falsch läuft – nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb ihrer Glaubensgruppe. Auch in ihre Fußstapfen ist Jesus getreten.
2) Abgrenzung VON SEITEN der Gläubigen
Nun gibt es Abgrenzung ja nicht nur GEGEN Gläubige, sondern auch VON SEITEN von Gläubigen. Auch hiervon ist in der Bibel viel zu finden.
Ich habe mich oft gefragt: Wo kommt diese krasse Abgrenzung her? Warum soll sie ihren Platz haben in einem Glauben, den ich inklusiv gestalten möchte? Wie können wir verkünden, dass Gottes Liebe ALLEN Menschen gilt, und uns gleichzeitig mit einer Bibel beschäftigen, in der Abgrenzung so eine große Rolle spielt?
Letzte Woche hatte ich dazu plötzlich einen Gedankenblitz. Ich sah mir meine eigene Lebensgeschichte an, und dabei fiel mir auf:
Manchmal ist es nur in der Abgrenzung möglich, die eigene Identität zu bewahren.
Als Beispiel möchte ich nochmals das Autonome Zentrum erwähnen. Im Rahmen eines kommerziellen Partybetriebs könnten es dieselben Räume sein und derselbe Ort – aber es wäre eben nicht mehr das AZ. Nur in klarer Abgrenzung von jeglicher Kommerzialisierung kann das AZ seine Identität bewahren. Auch wenn die Not an Geld und Engagierten mal noch so groß sein sollte: Zur „Rettung“ dieses Ortes auf Kommerz und Angestellte zu setzen, wäre inhaltlich das Ende des Projekts. Das Gebäude würde vielleicht noch stehen, es gäbe darin vielleicht auch noch Parties und Konzerte – aber es wäre kein AZ mehr.
Ähnlich geht es mir mit der MCC. Gäbe es (und sei es aus noch so wohlmeinden Gründen) hier irgendwann Manipulation wie Massenwerbung, Gruppendruck, Bekehrungs-Stimuli oder ähnliches, dann wären wir vielleicht noch im selben Raum und am selben Ort – aber es wäre nicht mehr die MCC. Mit einer MCC, die wenig Geld hat und von wenigen gestaltet wird, kann ich besser leben als mit einer MCC, die reich und voll ist, aber ihre Werte verraten hat. Das wäre keine MCC mehr. Nur in klarer Abgrenzung von manchen Dingen bleibt die MCC eine MCC.
Immer wieder stelle sich Einzelne von uns ähnliche Fragen, zum Beispiel auf dem Job oder an der Uni: Wieviel kann ich mitmachen, auf wieviele Prozesse und Inhalte kann ich mich einlassen, ohne dass mein Selbst darin vergiftet und verleugnet wird und ich aufhöre, ich selbst zu sein? Ab wo verdiene ich vielleicht viel Geld, aber es wäre nicht mehr ich? Ab wo bekomme ich vielleicht Anerkennung, aber es wäre nicht mehr ich?
Genau das sind die Fragen in der Geschichte des Judentums wie im Alten Testament. Manchmal hat ihnen nur die Abgrenzung ermöglicht, überhaupt weiter zu existieren.
Auch hier fällt mir wieder Dorothee Sölle sein, die im Falle eines Atomkriegs lieber unter den Getöteten wäre als auf Seite der Tötenden. Kein Argument der Welt würde ihr erlauben, sich von der Abgrenzung zu den Tötenden zu lösen. Ohne diese Abgrenzung wäre sie im Zweifelsfalle vielleicht unter den Überlebenden – aber alles, was ihr Leben ausgemacht hat, wäre vernichtet. Es gäbe sie nicht mehr.
Und so gesehen verstehe ich, dass es auch im Glauben eine Frage nach Abgrnzung geben muss. Wieviel ist integrierbar, bevor es nicht mehr christlicher Glaube ist?
Interessant ist diese Frage vor allem, weil die Grenzen da von Anfang an sehr weit waren. So manche Aneignung kultureller Gewohnheiten wäre heute verpönt, die früher sogar prägend für den christlichen Glauben wurde (insbesondere was die Verbindung zu anderen Glaubenstraditionen angeht). Und umgekehrt gab es früher manche klare Abgrenzung von kulturellen Gewohnheiten, die manchen heute gar nicht mehr wichtig erscheint, z.B. in Bezug auf Geldbeschaffung und Zusammenarbeit mit den Mächtigen der eigenen Zeit).
Es gibt viele Beispiele für die Übernahme von kulturellen Gewohnheiten, die heute sogar als „typisch christlich“ gelten. So manche der Jesus-Bilder in der Bibel und im Christentum, die heute als „spezifisch christlich“ gelten, gehören dazu. Ursprürnglich unterlagen die Jesus-Bilder mehrmaligen Anpassungen an das, was gerade in Gesellschaft & Kultur wichtig war:
Hier ein paar Zusammenfassungen aus „Jesus in Early Christian Art – Wizard Boy to Royal God“:
„In den frühesten Bildern der Kunst sieht Jesus ganz anders aus als heute. Anfänglich sah Jesus kindlich, sanft, mit lockigem Haar. Ganz anders der Jesus 1000 Jahre später: ein leidender Mann, voller Schmerzen und blutüberströmt.
Für den allerersten Jesus stand ein Gott Modell, der sie errettet und mit Hoffnung erfüllt: Apollo, der (heidnische) Sonnengott – jung und mit lockigem Haar.
Die heidnischen Götter konnten gleichzeitig männlich und weiblich sein, und nicht zufällig sah auch der erste Jesus oft weiblich aus. Unter den heidnischen Göttern gab es auch Göttinnen; im Vater-Gott des Christentums fehlte eine weibliche Seite Gottes.
Anfangs hatte Jesus auch keinen Heiligenschein. Auch der wurde erst übernommen von Apollo.
Eine andere Figur wurde ebenfalls sehr wichtig im Christentum; ihr Vorbild: Isis, die heidnische Göttin der Geburt, die oft mit einem Baby auf dem Arm dargestellt wurde. Alle beteten zu ihr, der Quelle allen Lebens. Um ihre fürsorgliche Art zu unterstreichen, wurde Isis oft mit einem Baby im Arm dargestellt. Das Baby ist Horus, der Sohn von Isis und Osiris, dem ägyptischen Gott des Jenseits. Im zweitem Jahrhundert tauchen die ersten Bilder im Christentum auf, die ähnlich aussehen: Maria mit dem Jesuskind!
Nun hatte das Christentum auch einen Platz für weibliche Bilder, und nun wurden die Jesusbilder männlicher. Schon bald sah Jesus aus wie Jupiter, der römische Himmelsgott (bzw. wie Zeus, der griechische Himmelsgott): groß, bärtig, auf dem Thron der Herrlichkeit. Hier entsteht der Jesus, den wir in den Krichen bis heute kennen.“
(Mehr dazu unter https://elpidiovaldes.wordpress.com/2014/01/21/jesus-in-early-christian-art-wizard-boy-to-royal-god/ – wobei auch nicht alles, was dort steht, unhinterfragt übernommen werden sollte.)
Der Antrieb all der „Anpassungen“ der Jesus-Bilder war (wie schon bei Paulus) das Einstehen für den eigenen Gott. Das Anliegen dahinter war, dem zu dienen, was ihnen wichtig und erhaben und grundlegend erschien.
Mit diesem Grundprinzip steckt hinter Anpassungen und Abgrenzungen also manchmal dasselbe Muster. Sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Sie zeigen sich auch auf dem Weg von Saulus zu Paulus:
- Gleich geblieben sind die Grundanliegen und Grundwerte (bei Saulus/Paulus: Gott dienen wollen).
- Komplett verändert hat sich aber, was das konkret bedeutet: mit wem und woran arbeiten wir dafür? (Paulus sah plötzlich in Jesus den besten Weg zur Erfüllung seines Grund-Wunsches.)
Auch in der MCC passiert es immer wieder, dass manche dem Glauben nahe kommen oder gar hier von Gott neu „in den Dienst genommen“ werden (1. Tim 1,12). Genau wie Paulus ändern manche ihre Ausrichtung gegenüber Jesus (von Kritik, Schmähen und Angriffen n zu Anbetung, Hingabe und Solidarität), ohne dass sie dabei ihre Grundanliegen ändern (z.B. Frieden, Vielfalt, Respekt, Gerechtigkeit). Nur erscheint ihnen der Weg MIT/FÜR Jesus dafür nun angemessener als GEGEN Jesus.
Aus einer Abgrenzung gegen Jesus wird dann eine Abgrenzung gegen alles, was diesen Jesus vereinnahmt und verrät. Was das für uns als Einzelne bedeutet, kann (insbesondere zu unterschiedlichen Zeiten in unserem Leben) unterschiedlich aussehen.
- Was könnte einer Glaubens-Enwicklung fehlen, wenn alle kritischen Stimmen ausgesperrt werden? Wie kannst du kritische Stimmen innerhalb und außerhalb von Gemeinden besser schätzen und würdigen?
- Wo ist gerade mehr Abgrenzung angesagt, um deine eigene Identität nicht zu verlieren (oder um sie zurückzugewinnen) – in Bezug zu anderen, zu Gott, zu dir selbst?
- An welchen Stellen würde dein Glauben Veränderung erfahren,
1) indem du dich für neue Einflüsse öffnest?
2) indem du dich von manchen Einflüssen distanzierst?
- Vielleicht gehörst du zu denen, die Gott heute neu in den Dienst nehmen möchte. Mit deiner Vergangenheit und Gegenwart bist auch du ein „ermutigendes Beispiel“! (1. Tim 1,16) Welche Einflüsse und welche Abgrenzungen sind für dich jetzt dran, um dich und deinen Glauben zu stärken für diesen Dienst?
- Wie kannst du anderen dabei helfen, die oben genannten Fragen für sich zu beantworten?