Zum Inhalt springen
Home | Widersprüchliche Zuweisungen – hurra! Widerspruch gegen Zuweisungen – hurra! #TDOV

Widersprüchliche Zuweisungen – hurra! Widerspruch gegen Zuweisungen – hurra! #TDOV

Predigtimpuls MCC Köln, 3. April 2022
Ines-Paul Baumann

Jesaja 43,18-19

Widersprüchlich, beeinflusst, angepasst: Was für Erklärungen zu Geschlechtsidentitäten gilt, gilt auch für Erklärungen zur Identität Jesu.

Begrüßung

(von S.)

Guten Morgen! Schön, dass ihr heute da seid. Wir treffen uns heute an verschiedenen Orten, auf verschiedenen Stationen unserer Glaubens- und Lebensreisen. Da am Donnerstag Trans* Day of Visbility, also Tag der Trans*-Sichtbarkeit war, geht es heute im G*ttesdienst um verschiedene Erfahrungen – aber auch Diskussionen, die im Zusammenhang mit geschlechtlicher Vielfalt erlebt und geführt werden – insbesondere um Zuschreibungen von außen.

Wenn das heute ein Thema ist, dass dir nicht gut tut, dann achte bitte auf dich: lehn dich zurück und hör nicht zu, schalte den Laptop ab, geh eine Runde spazieren oder mach stattdessen etwas anderes, was für dich heute stimmig ist. Es gibt viele Möglichkeiten, heute G*ttesdienst zu feiern und Teil unserer G*ttesdienstgemeinschaft zu sein. Du musst dafür nicht körperlich oder mental anwesend sein.

Deswegen entzünden wir heute zuerst die Gemeindekerze. Sie verbindet uns mit allen, die heute Teil unserer Gemeinschaft sein möchten. Du bist in unserer Mitte, auch wenn du dich entschließt, jetzt zu gehen. G*ttes bedingungslose Liebe vereint uns – in Solidarität mit allen Menschen und Religionen. [Kerze anzünden]

Wir sind heute hier versammelt im Namen G*ttes, die uns in Vielfalt und Wandelbarkeit erschaffen hat und sich daran erfreut, uns auf unseren fortwährenden, manchmal widersprüchlichen Reisen zu begleiten. [Kerze anzünden]

Wir sind versammelt im Namen Jesu, dessen Körper und Identität als G*tt und Mensch zugleich Objekt vieler Zuschreibungen und Diskussionen war. Er hat an seiner Wahrheit festgehalten. Seine Wahrheit hat dazu geführt, dass er angezweifelt und verfolgt wurde, aber sie hat ihm auch Freund*innen und Gefährt*innen geschenkt, die ihn genau dafür gesehen, geliebt und begleitet
haben. [Kerze anzünden]

Und wir sind hier versammelt im Namen des Heiligen Geist, der Ruach, die uns zu unseren eigenen Wahrheiten führt, die befreien. [Kerze anzünden]

Lesung

9 Und es begab sich zu der Zeit, dass Jesus aus Nazareth in Galiläa kam und ließ sich taufen von Johannes im Jordan.
10 Und alsbald, als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass sich der Himmel auftat und der Geist wie eine Taube herabkam auf ihn.
11 Und da geschah eine Stimme vom Himmel: Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.

Markusevangelium 1.9-11 (Lutherbibel 2017)

1 Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
2 Dasselbe war im Anfang bei Gott.
14 Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Johannesevangelium 1,1+2.14 (Lutherbibel 2017)

Predigtimpuls

(von Ines-Paul)

Welche Geschlechtsidentität hast du (heute)?
Seit wann?
Wurde dir dein Geschlecht zugewiesen?
Hast du es von Geburt an?
War es schon vor deiner Geburt festgelegt?
Ist es ein Konstrukt, das in unterschiedlichen Kontexten sich unterschiedlich gestaltet?
Ändert es sich manchmal?

  • Es gibt die unterschiedlichsten Erklärungen für Geschlechtsidentitäten. Sie widersprechen sich. Sie sind beeinflusst von gesellschaftlichen Sichtweisen. Sie passen sich diesen an und gestalten sie wiederum mit.
  • Eine bestimmte Sichtweise macht vielleicht nicht für alle Sinn. Aber das heißt nicht, dass sie für alle unsinnig ist. Ein Erklärungsmuster, das mich befremdet, mag für eine andere Person schlüssig, befreiend und der Durchbruch gewesen sein. Was nicht meins ist, kann für andere durchaus existenziell wichtig sein. Lebensverändernd. Hilfreich. Wahrhaftig.

Was sich für Geschlechtsidentitäten beobachten lässt, lässt sich auch für die Identität(en) Jesu beobachten. Die Fragen sind vergleichbar:

Welche Identität hat Jesus (heute)?
Ist Jesus „der Menschensohn“?
Ist Jesus Gottes Sohn?
Seit wann?
Seit seiner Auferstehung? (Römerbrief 1,4)
Durch Zuweisung bei seiner Taufe? (Markusevangelium1,11)
Von Geburt an? (Lukasevangelium 1)
Schon VOR seiner Geburt, präexistent? (Johannesevangelium 1)
Sind Verständnisse von Jesu Identität eingebettet in gesellschaftliche Kontexte?
Ändert sich das Verständnis von Jesu Identität manchmal?

  • Es gibt die unterschiedlichsten Erklärungen für die Identität Jesu. Sie widersprechen sich. Sie sind beeinflusst von gesellschaftlichen Sichtweisen. Sie passen sich diesen an und gestalten sie wiederum mit.
  • Eine bestimmte Sichtweise macht vielleicht nicht für alle Sinn. Aber das heißt nicht, dass sie für alle unsinnig ist. Ein Erklärungsmuster, das mich befremdet, mag für eine andere Person schlüssig, befreiend und der Durchbruch gewesen sein. Was nicht meins ist, kann für andere durchaus existenziell wichtig sein. Lebensverändernd. Hilfreich. Wahrhaftig.

Schon in der kurzen Zeitspanne, die in der Bibel schockgefroren ist, ist diese Entwicklung zu beobachten: Die Deutung von Jesu Identität ist Veränderungen unterworfen. Je weiter der zeitliche Abstand zum Leben und Sterben Jesu, desto weiter wird nach vorne gelegt, dass er Gottes Sohn ist. Und natürlich war dieser Begriff gewählt in Anlehnung an eine Umwelt, in der es Gottessöhne schon gab. Wo dieser Begriff eine Bedeutung hatte, etwas aussagte. Aber eben auch verändert wurde durch die Deutung auf Jesus.

Manche verzweifeln an diesen Widersprüchen und gesellschaftlichen Bezügen. Andere gießen deswegen Spott und Häme aus über die Bibel. „Gottes Wort muss doch ewig gleich sein!“

Umgekehrt soll oft auch die Zustimmung zur Bibel ewig gleich sein: „Entweder ich stimme ALLEM zu, was in der Bibel steht, oder ich kann sie GAR NICHT MEHR lesen!“ Ich sehe das anders: Wenn die Bibel festhält, was in unterschiedlichen Kontexten für unterschiedliche Menschen wichtig war, muss nicht jede Stelle der Bibel mir heute wichtig sein.

Deutungen variieren. Aber WAS sie deuten versuchen, geht von einem gemeinsamen Horizont an Erfahrungen aus. Wir ALLE leben in einer Gesellschaft, in der geschlechtliche Erfahrungen von Bedeutung sind für das, was wir erfahren und wie wir es erfahren. Und genau so haben Menschen mit Bezug zu christlichen Glaubensformen seit je her versucht, auch für ihre Glaubenserfahrungen Deutungen zu finden. Erklärungsversuche. Für sich selber, aber auch anderen gegenüber. Ist doch logisch, dass sie sich dann an dem orientieren, was da gerade an Fragen, Anliegen und Deutungsmustern herumgeistert.

(Apropos „christliche Gemeinschaft“: Ab wann ist ein Mensch „Christ_in“, „von Gott angenommen“, „in Gott gebor(g)en“? Durch eigene Entscheidung? Durch Zuweisung, z.B. Aufnahme in eine Kirche? Ab Geburt? VOR Geburt? …)

So ist es kein Wunder, dass die Erfahrungen mit Jesus so unterschiedlich gedeutet und dargestellt werden. Für mich spricht das nicht GEGEN die biblischen Deutungsvorschläge, sondern FÜR sie. In den Texten wird um das gerungen, was jeweils im eigenen Kontext verständlich ist. Das heißt aber auch: Ich kann (oder muss) um Deutungsmuster ringen, die in MEINEM Kontext verständlich sind. Manchmal passen die Ansätze, die in der Bibel schockgefroren wurden. Manchmal nicht.

Es ist jedenfalls nicht unsere Aufgabe als Kirche, Gotteserfahrungen und Deutungen einfach von außen zuzuweisen. Genauso wenig, wie sich geschlechtliche Identitäten von außen zuweisen lassen. Ja, es mag (wie bei Jesu Taufe) Momente geben, in denen eine Zusage von außen der Anfang von etwas Neuem ist. Und genau so mag es anderen befremdlich erscheinen, solche Momente für etwas einzusetzen, was aus ihrer Sicht von Anfang an da und wirksam war.

Was uns also eint (in Bezug auf Geschlechtserfahrungen UND Glaubenserfahrungen), ist nicht, dass wir alle dasselbe erfahren und alles gleich deuten würden. Aber was innerhalb christlicher Ansätze verbinden kann, ist der Blick auf Jesus als (eine) Quelle von Gotteserfahrungen und Gottesnähe. Da geht es eben nicht um ein ewig gleiches Muster. Jesus ist kein weiser Spruch, Jesus ist keine wiederholbare Weitergabe geistlicher Lehrwege, sondern Jesus war und ist Gottesgegenwart in konkreter Erfahrbarkeit in unserer konkreten Welt.

Wenn Jesus Christus die personifizierte Vergegenwärtigung der Zuwendung Gottes ist – für konkrete Menschen in konkreten Situationen mit konkreten Auswirkungen – dann ist es folgerichtig, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Erfahrungen mit Jesus Christus machen. WIE genau das geschieht und WO genau das geschieht und WAS genau da geschieht, kann ganz unterschiedlich aussehen – und ganz unterschiedlich gedeutet werden.

Nicht das Erzeugen gleicher Erfahrungen, nicht das Zuweisen gleicher Deutungen eint also christliche Gemeinschaft. Aber Worte (Bilder, Töne, Gesten, …) zu finden für unsere Erfahrungen der Gegenwart Gottes in unserer Welt (Deutungen zu entdecken und anzubieten und abzulehnen und miteinander zu teilen), DAS kann eine Grundlage für christliche Gemeinschaft sein, die bereichernd und einladend ist. Für Menschen ALLER Geschlechter :)

 

 

Skip to content