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Von wegen „Gott will, dass du leidest“

Predigt MCC Köln, 14. April 2019
Madeleine Eisfeld

Jesaja 50,4-9 „Vom wahren Gottesknecht“

Heute muss ich einmal meinen eigenen Vorsätzen zuwiderhandeln und etwas tun, das ich eigentlich immer vermeiden wollte: Eine Predigt über mich selbst halten.
Aber dieser Text, den wir soeben hörten, ist so maßgeschneidert auf mein ganzes Leben übertragbar, dass ich einfach nicht daran vorbeikomme.

Das Lied vom Gottesknecht – so nennt man diesen kurzen Abschnitt „vom wahren Gottesknecht“, um präzise zu sein – genau das wollte ich mein ganzes Leben lang. Ein wahrhaftiger Diener Gottes werden. Zumindest wurden meine gesamte Jugendzeit und weite Teile meiner Jahre als junge Erwachsene vollständig von diesem Ideal geprägt. Das ging bis etwa Mitte 30. Dann kamen die Zweifel, erst langsam, dann immer heftiger. Einem langen, verzehrenden, zerstörerischen Kampf hatte ich mich zu stellen, er sollte sich über viele Jahre ziehen und mein Leben entsprechend bestimmen.
Und heute? Geblieben ist ein großer Scherbenhaufen.
Alles umsonst, alles vergebens – All das viele Beten, all das Bitten und Flehen um Gnade, Erkenntnis und eine sichere Stütze im Leben, all die Kämpfe, die es auszufechten galt, und all die Blessuren, die ich davongetragen habe. All die Demütigungen, Ausgrenzungen und verbalen Angriffe, denen ich mich ausgesetzt sah – alles umsonst.
Resignation auf ganzer Linie.

Dabei hört sich der Text so enthusiastisch an.

„Gott, die Macht über uns, hat mir eine Zunge gegeben, wie den Lernenden, damit ich verstehe, die Müden mit einem Wort zu stärken.“ – Ein Leitspruch für mein ganzes Leben.
Ich wusste, was ich wollte, seit ich 17 Jahre alt war. In diesem Alter vernahm ich die innere Stimme zum ersten Mal. Zumindest glaubte ich es. Heute bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Doch andererseits, es konnte einfach nur die göttliche Stimme sein, die da rief. Gott, die Macht über uns, öffnete mir tatsächlich das Ohr, nur habe ich allem Anschein nach ihre Anweisungen gründlich missverstanden.
Ich sträubte mich nicht und wich niemals zurück. Meinen Rücken gab ich denen, die schlagen, und meine Wangen denen, die prügeln. Schmähworte und Speichel gab es mehr als genug in meinem Leben. Schließlich wurde mein Gesicht hart wie ein Kieselstein. Nicht nur mein Gesicht, mein ganzer Körper verkrampfte sich, wurde krank und immer kränker.
Doch gab ich die Hoffnung niemals auf, denn ich ging davon aus, nicht zuschanden zu werden. Ich glaubte die Macht zu spüren, die mich schützt und in allem gerecht macht.
Sollen sie nur kommen, um mit mir zu streiten. Ich habe Gott auf meiner Seite – jene Macht, die immer hilft.
Kämpfen und leiden für Gott. Kompromisslos, ohne Rücksicht auf Verluste. Irgendwann werde ich entschädigt für all die Martyrien, und das Glück wird grenzenlos.
So redete ich es mir ein, Jahre lang, Jahrzehnte lang.

Ich glaubte meiner Berufung nur dann folgen zu können, wenn ich ein Theologiestudium absolvierte, mit dem Ziel eines geistlichen Berufes. Die Konfession war mir schon damals gleichgültig.
Und da ich von Hause aus der evangelisch-lutherischen Kirche angehörte, war es naheliegend, sich dort entsprechend zu bewerben. Ich benötigte viele Anläufe. Ablehnung reihte sich an Ablehnung. Ich war der Verzweiflung nahe.
Dann endlich, ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, die Zulassung. Studium über den zweiten Bildungsweg. Ich war überglücklich, hatte sich mein Durchhaltevermögen am Ende doch noch ausgezahlt.
Gott belohnt eben jene, die beständig sind.
Die erste Zeit ging auch alles gut. Das Lernen machte mir Spaß, und die enge Gemeinschaft, die wir pflegten, bekam mir gut. Doch ich hatte einen hohen Preis zu zahlen: Die vollständige Aufgabe meiner Persönlichkeit. Anpassung um jeden Preis. Ein Leben in Angst.
Als Transidente offen leben, damals Mitte/Ende der Achtziger unmöglich; das hätte den sofortigen Ausschluss bedeutet.
Was blieb mir anders übrig als mich selbst zu verleugnen?
„Wer mein Jünger, meine Jüngerin sein will, der/die nehme sein/ihr Kreuz auf sich, verleugne sich selbst und folge mir nach“, so die klare Anweisung Jesu.
Ich tat es.
Eine fatale Entscheidung, sie bekam mir überhaupt nicht. Ich wurde krank, meine Psyche begann zu streiken, später auch der Körper. Meine Leistungen fielen ab, und das Lernen fiel mir in zunehmendem Maße schwer.
Schließlich kamen auch noch die politischen Wirren der Jahre 1989/90 hinzu und die damit verbundenen Unsicherheiten. Ich fühlte mich den Anforderungen nicht mehr gewachsen und brach das Studium ab, kurz vor dem Examen.

Eine Welt stürzte in sich zusammen. Von nun an ging es steil bergab. Mein Leben hatte seine Bestimmung verloren. Ein Gottesknecht, der seiner Berufung nicht nachkommen kann, ist unwürdig und hat somit sein Dilemma selbst verschuldet.
Doch war die Hoffnung noch nicht verloren. Noch gab es Alternativen. Ich suchte und fand eine neue Heimat, ausgerechnet in der römisch-katholischen Kirche – aus heutiger Sicht völlig aberwitzig. Aber schon als Jugendliche zog mich all dieses Brimborium magisch an. Jetzt glaubte ich zu wissen, woran ich scheiterte. Es war einfach die falsche Konfession. Römisch und katholisch, klar, nur die haben die Wahrheit auf ihrer Seite, sie haben sie geradezu gepachtet. Ich konvertierte, und es gelang mir für einige Zeit, meinen spirituellen Durst zu stillen.
Von nun an wird es besser. Jetzt werde ich es schaffen. Nur hier kann ich zum wahren Gottesknecht reifen. Insgesamt dreimal versuchte ich mich klösterlichen Gemeinschaften anzuschließen, in einer benediktinischen Gemeinschaft, bei den Redemptoristen, schließlich bei den Kapuzinern, alles vergeblich. Die konnten meinen Glauben nicht stärken, stattdessen haben sie mir die Lust katholisch zu sein gründlich ausgetrieben.
Einsame Wanderin in der Nacht, seit jenem Zeitpunkt bin ich heimatlos. Beginn einer endlosen Odyssee, ich suchte, suchte, suchte. Doch es wollte sich nichts finden lassen. Ich trat in eine Freimaurerloge ein und wieder aus. Die Erkenntnis, die ich dort zu finden hoffte, stellte sich nicht ein. Ich schloss mich der schwulen Lederszene an, um endlich ein richtiger Mann zu werden, vergeblich.
Mit 41 Jahren, der größte Durchbruch: Ich wurde zu Madeleine. Endlich hatte ich den Mut, ja zu mir und meiner wahren Natur zu sagen. Doch es war zu spät. Die Jahre der Jugend, zu diesem Zeitpunkt längst verloren.
Ich engagierte mich in unzähligen queeren Initiativen, saß bei einigen auch in den Bundesvorständen. Erfahrungen sammeln hier, Erkenntnisse horten dort. Doch wofür?
Mit 49 kam ich nach Köln, fünf Jahre ist das jetzt her. Was ich seither erleben durfte und musste sprengt jeglichen Rahmen. In einer linksradikalen WG lebend wurde jeder Tag für mich zur Herausforderung. Ich brauchte nicht mehr in die Welt zu wandern. Die Welt kam von nun zu mir.
Politisch wurde ich zur Anarchistin.
Doch lebte der spirituelle Hunger in mir weiter, und ich forschte nach entsprechenden Kontakten. Schließlich wollte ich noch immer eine Gottesmagd werden. Meiner Bestimmung folgen, das Ohr stets geöffnet und zwar nach allen möglichen Richtungen. Zwei Jahre war ich aktiv in einer muslimisch orientierten Sufi-Loge. Neue Heimat? Sollte ich zum Islam konvertieren? Eine Muslima werden? Lag hier etwa meine Berufung? Eine ganz neue Religion? Ich spielte tatsächlich mit dem Gedanken, doch habe ich ihn schon lange verworfen. Kontakt auch zur Liberalen Synagoge: Wie wär‘s mit dem Judentum? Kontakte sind gut, aber übertreten? Nein! Vielleicht der Hare-Krishna-Tempel? Teile der Hindu-Religion sind dem Christentum sehr ähnlich. Nein, das passt auch nicht. Viel zu exotisch.
Bleiben wir doch lieber in Europa.

Keltische Spiritualität ist seit meiner Jugend schon eine Herzensangelegenheit. Mit zunehmendem Alter rückte die Naturmystik in den Vordergrund.
Hier in Köln konnte ich entsprechendes finden.

Ganz nebenbei landete ich auch im Hambacher Fort. Genau das Richtige für mich. Doch um dort leben zu können, müsste ich 30 Jahre jünger sein und entsprechend gesund. Zu spät.
Genug der Aufzählerei, es gäbe noch unendlich mehr zu berichten, ich belasse es dabei

Eines Tages kam ich zur MCC, heute stehe ich vor euch. Ein Leben prall gefüllt mit einem reichhaltigen Erfahrungsschatz, auch und vor allem was Glaubensfragen betrifft, und ich weiß nicht im Geringsten etwas damit anzufangen.
Mit wem soll ich meine Erfahrung teilen? An wen sie weiterreichen? Die Tochter, die ich mir so sehr wünschte, sie existiert nur in meiner Fantasie. In meinem Leben war kein Platz für Liebe und Zweisamkeit. Die wahren Gottesknechte und -mägde, immer bereit ihre Rücken für Schläge darzubieten, leben ein freudenloses Leben, so meine langjährige Devise. Das einzige Glück, auf das sie hoffen können, kommt von oben: Ich habe dir treu gedient, mein Gott, meine Göttin, nun steht mir eine angemessene Entlohnung zu. Kommt sie, ist alles in bester Ordnung. Dann können wir vor lauter Geigen den Himmel kaum mehr erblicken.
Bleibt sie jedoch aus, bedeutet es den Freifahrtschein zur Hölle.
Ein ganzes Leben lang abgerackert, sich bemüht, alles richtig zu machen, ein Leben führen, das Gott gefällt. Und? Für was? Andere haben derweil den Erfolg eingestrichen. Andere haben auch ihr persönliches Glück gefunden.
Wo bist du, Gott? Sieh dir die Striemen auf meinem Rücken an und blick auf mein verhärtetes Gesicht. Ein Kieselstein? Nein, härtester Granit.
Einsam, verhärmt, unheilbar krank und vorzeitig gealtert. Ist das tatsächlich der Preis, den du von uns verlangst, nur um dir mit voller Hingabe dienen zu dürfen? Ein zerknirschter Geist? Ein geschundener Körper? Ist das obligatorisch? Oder ginge es womöglich auch anders?

Ja! Es geht anders. Es ist möglich ein Gottesknecht, nein, ein/e Gottesliebende zu werden, mit einem freundlichen, einem gelösten, einem unverkrampften Gesichtsausdruck. Vor allem aber mit jeder Menge Liebe im Herzen. Das ist die unabdingbare Voraussetzung dafür.
Ich musste erst todkrank werden, um es zu begreifen.
Ja, das Leid hat mich zur Erkenntnis geführt. Es sollte wohl so sein.
Doch so etwas lässt sich nicht verallgemeinern. Das ist meine Botschaft besonders an die junge Generation.
Lasst euch nicht brechen, lasst euch nichts einreden, von wegen „Gott will es“.
Leb dein Leben! Sei wie du willst, aber habe den Mut, es ganz zu sein. Keine halben Sachen, steh zu dem, was du bist und immer sein wirst. Du findest Jesus ganz auf deiner Seite, ebenso die Ruach, die Geistkraft, die dich behütet, bewahrt und trägt – seit dem Tag deiner Geburt.
Es ist keine Schande, von Schönheit und Sinnlichkeit fasziniert zu sein. Wichtig ist nur, das rechte Maß dabei nicht zu verlieren.
Probiert euch aus, experimentiert mit dem Leben, aber geht achtsam mit euch selbst und den Anderen um. Unnötige Risiken auf jeden Fall vermeiden. Sich nicht zu viel auf einmal vornehmen.
Denk daran, der Weg in die Hölle ist mit lauter guten Vorsätzen gepflastert.
Mache dein Gesicht leicht wie eine Feder, entspanne deinen Körper, sodass die positiven Energieströme freien Lauf haben. Vermeide jede Art von Fanatismus.
Fundamentalismus ist der Tod jedweder echten Spiritualität.
Beginnt euren Einstieg in das Leben, indem ihr immer wieder ja zu euch sagt, jeden Tag, jede Stunde.
Akzeptiert das Positive. Nehmt aber auch das Negative in euch an.

Vor etwa drei Wochen, ich war wieder in meiner alten Heimat in Thüringen, spürte ich sonntagmorgens den Wunsch, in die katholische Messe zu gehen.
Ein junger Kaplan, der vor etwa einem Dreivierteljahr hier seine erste Dienststelle angetreten hat, zelebrierte und predigte. 27 Jahre ist er alt. Ich spürte, mit welcher Begeisterung er predigte und dem Anschein nach sogar an das glaubte, was er sagte. In diesem Alter funktioniert das noch.
Wird er, wenn er mein Alter erreicht hat, immer noch so überzeugend klingen?
Ich stellte mir folgende Frage: Soll ich ihn beneiden, oder soll ich ihn bedauern?
Nach kurzer Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass alles beides gleichsam zutreffend ist.
Beneiden tue ich ihn für die Jugend und die damit verbundenen Möglichkeiten: Aufbruch, das Leben vor sich haben, gestaltend wirken zu können, eingreifen ins Geschehen.
Bedauern für das, was vor ihm liegt: in jener Institution, für die er sich entschieden hat, für die Beschränkungen und tiefen Einschnitte in seinem Leben, denen er sich zu unterwerfen hat. Somit auch für die Enttäuschungen, die ihn erwarten. Ein Leben voller Lügen.
Bin ich am Ende etwa besser dran?
Könnte sein! Keine Anpassung mehr, ganz gleich an welche Ideologie auch immer. Frei sein, ich selbst sein. Rücksicht vor allem mir gegenüber.
Beim Lesen eines Buches über den Philosophen Friedrich Schleiermacher gingen mir die Augen vollends auf. Ich stieß dort auf ein faszinierendes Zitat: „Wem das Universum unmittelbar begegnet, der bedarf keiner Schriftautorität mehr, der ist sich selbst seine eigene religiöse Autorität.“
Das ist es, was mir Gott all die Jahre hatte mitteilen wollen. Sei kreativ und voller Fantasie! Schaffe etwas nach deinem Maß, lebe es aus, und das Glück wird dich ein Leben lang nie mehr verlassen.
Ich blicke auf mein Leben zurück.
Nein, doch keine totale Resignation. Obwohl ich vieles zu bereuen habe, vor allem das, was ich nicht zu tun imstande war.
Glücklich jener Mensch, der am Ende sagen kann: Ich bereue nichts, gar nichts.
„Non, je ne regrette rien.“ So wie es uns Edith Piaf gesungen hat.

 

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