MCC Köln, Impuls für den 10. März 2019
()
Hebräerbrief 4,14-16 („Christus der wahre Hohepriester“)
Liebe Gottesdienstgäste, liebe Gemeinde,
dieser Text ist uns kulturell sehr, sehr fern, und ich war erst einmal schockiert, als ich den Kontext las, also die ersten 4 Kapitel des Hebräerbriefes. Es steckt viel Drohbotschaft darin, gegen Zweifler am Glauben und gegen die Juden, die sich nicht zum Christentum bekehrt haben. Darum lasst uns zuerst darüber nachdenken, in welche Zeit und zu welchen Menschen der Verfasser seinen Brief adressiert hat.
Übrigens vermuten die Theologen schon fast von Anfang an, dass der Urheber nicht Paulus sein kann. Wir haben es also mit einem anonymen Verfasser zu tun.
Der Briefeschreiber richtet sich an Juden, die sich zum Christentum bekehrt hatten und deswegen aus Jerusalem, der heiligen Stadt, hatten fliehen müssen. Das Heimweh nagt an ihnen, und sie vergehen fast vor Sehnsucht nach dem Tempel, der Wohnung ihres Gottes mit dem heiligen Tempeldienst. Vielleicht waren die Gemeindemitglieder zum großen Teil selber Priester. Es scheint vor dem Jahr 70 zu sein, d. h. der Tempel ist noch nicht zerstört. Der drohende Unterton dieses Briefes hat vermutlich viele Ursachen: Die politische Unruhe unter den Juden nimmt zu, und manche befürchten schon eine kriegerische Auseinandersetzung mit den römischen Besatzern, die ja sehr verhasst sind. Diese Gemeinde wurde also von zwei Seiten bedroht oder verfolgt: erstens von ihren Volksgenossen, den Juden, und zweitens von den römischen Besatzern.
Auch sonst lief es alles andere als rund für diese Männer und Frauen: Das Kommen des Reiches Gottes, das schon Jesus seinen Anhängern als bald bevorstehend angekündigt hatte, ließ immer noch auf sich warten, ja es waren noch nicht einmal erste Anzeichen zu erkennen. Überdies war Jesus, der alle diese Hoffnungen hatte aufkeimen lassen, schändlich von den Römern gekreuzigt worden, ohnmächtig und verspottet regelrecht am Kreuz verreckt. Damit nicht genug, die Römer hatten die jüdische Religionspraxis schwer beschädigt und den Zusammenhalt des jüdischen Volkes ausgehöhlt: Sie setzten den damaligen Hohepriester selber ein, anstatt die Erbfolge des Amtes zu achten. Und sie setzten alle paar Jahre einen neuen Hohepriester von ihren eigenen Gnaden ein, damit niemand an diesem Amt wachsen und das Volk Juda wieder vereinen konnte. Kurz gesagt: Überall nur Probleme, Bedrohungen, Ohnmacht, Verfall. Da konnte man oder frau schnell am Glauben irre werden und sich lieber an Dinge oder Sicherheiten klammern, die sichtbar und unmittelbar wirksam waren.
Das war also die Zeit und persönliche Situation der Adressaten. Was ist aber nun ein Hohepriester, und welche Aufgaben hat er?
Grundsätzlich ist der HP der Mittler zwischen Gott und seinem Volk, also seinen Gläubigen. Er hat besondere kultische Aufgaben, z. B. betritt er an dem hohen Feiertag Jom Kippur alleine das Allerheiligste des Tempels und empfängt dort für das Volk Israel die Vergebung Gottes. Auch an anderen Feiertagen bringt er die wichtigsten Opfer dar.
Desweiteren gehört ihm die oberste Aufsicht und Weisungsmacht in allen Fragen der Religion. Aber damit noch lange nicht genug: Er ist ebenfalls der oberste politische Führer der Israeliten. Und zuletzt: Er ist auch oberster Richter, in seiner Funktion als Vorsitzender des Hohen Rates, also des obersten Gerichtshofes. Wir erinnern uns, dass der Hohepriester Kaiphas gut 30 Jahre zuvor Jesu Tod beschlossen hat und ihn an die Römer ausgeliefert hat. Es gab also leider auch weniger gute HP (natürlich auch schon vor Kaiphas). – Und seit die Römer selber die Hohepriester einsetzen, fungieren diese auch noch als Ansprechpartner für die verhassten römischen Besatzer. Das tut sicherlich ungeheuer weh! In den alten Zeiten nämlich waren die HP noch an der Spitze des jüdischen Volkes in die Schlacht gezogen und hatten ihren Glauben aufgerichtet und gefestigt, bevor es ernst und lebensgefährlich wurde. Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren!
Ich denke, nun können wir uns schon etwas mehr vorstellen unter dem Bild von Jesus als dem Hohepriester, der mitfühlt. Es steckt vieles darin, und jetzt komme ich auf den Predigttext zurück:
Ich habe lange auf diesem Text mit seinem Kontext gekaut, bis ich den Mut fand, mit Jesus, dem HP an meiner Seite, mich den Drohungen dieses Textes zu stellen. Plötzlich kamen mir Sätze in den Kopf, die mich seit meiner Kindheit ängstigen. Ich beginne mit dem ersten Vers aus dem Hebräerbrief, der mir vertraut allzu vertraut vorkam:
Hebr. 4,12: „… Gottes Wort ist voll Leben und voll Kraft und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist… ein Richter ist es über Gesinnungen und Gedanken des Herzens“
Das erinnerte mich an quälende Selbstprüfungen, die z. B. bei evangelikalen Pietisten unheimlich beliebt sind: „Bin ich gut genug vor Gottes Augen? Wo sündige ich; und mache ich ständig Fortschritte im gottgefälligen Lebenswandel? Wo liegen Sünden, die mir noch gar nicht bewusst sind? Und glaube ich auch wirklich? Vertraue ich Gott mehr als den Menschen? Steht Gott bei mir immer an erster Stelle? Werde ich so, wie ich jetzt bin, vor dem jüngsten Gericht bestehen, oder muss ich mich mächtig sputen, damit ich endlich die Mindestanforderungen erfülle?“ – Oder eine röm.-kath.’e Variante: „Was darf ich bei der nächsten Beichte nicht vergessen? Habe ich auch richtig gebeichtet und Buße getan beim letzten Mal? Wo habe ich seitdem gesündigt in Tat, Wort oder in Gedanken(!)?“
Selbstprüfung ist gut. Aber wenn sie in einen Strudel von Selbstanklagen mündet, dann führt sie uns von Gott weg. Nun kommt der 2. Vers:
Heb. 4, 13: „Und es gibt nichts Geschaffenes, das vor ihm verborgen wäre: vielmehr liegt alles bloß und enthüllt da vor den Augen dessen, vor dem wir Rechenschaft abzulegen haben.“
Das ist toll! Hier kann man so viel Verheißung, aber ebenso viel Drohung hineinlegen! „Kindgerecht“ heißt das dann: „Der liebe Gott sieht alles“, mit einem drohenden Unterton, versteht sich. Wenn das Kind dazu noch emotional oder sogar physisch schlecht versorgt ist und unter Schuldgefühlen leidet, dann kann der GAU eintreten, dann kann sogar ein sadistisches Gottesbild in die kindliche Seele gepflanzt werden. Denn wenn der „liebe“ Gott alles sieht, es mir schlecht geht und alle meine Bemühungen, mit Gott ins Reine zu kommen, nur zu immer größeren Schuldgefühlen führen, ja dann werde ich nicht nur von Gott schnöde übersehen, sondern Gott quält mich absichtlich! Es ist eine Schande, dass diese Form von psychischem Missbrauch in der Öffentlichkeit fast immer geflissentlich übersehen und geleugnet wird. Ich finde, da liegt ein riesiger Batzen Arbeit noch vor der aufgeklärten Christenheit, und ein riesiger Berg von Schuld, der eingestanden werden muss, irgendwann, hoffentlich nicht allzu fern in der Zukunft.
Nun der letzte Vers:
Hebr. 4, 14 aus unserem Predigttext: „da wir nun einen großen HP haben, der durch die Himmel hindurchgeschritten ist, Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns festhalten am Bekenntnis.“
Die Pflicht, ja der Zwang, Jesus stets zu bekennen, hat meine Gewissensqualen noch verschärft. Heute denke ich rückblickend: Es war großer Murks, den ich bekennen sollte, und größtenteils Quatsch, überdies noch gefährliche Hetze: Gut, dass ich mich das kaum getraut habe! Denn das Schweigen war in Wirklichkeit viel mutiger! – Oder andere Menschen mögen sich auch dem Druck gebeugt haben, um der eigenen ewigen Verdammnis zu entgehen. Das ist ebenso anzuerkennen, sich für sein eigenes Seelenheil dem Spott auszusetzen und innere Konflikte aufzuerlegen!
Nun kann ich nach all diesen Erläuterungen zum eigentlichen Thema der Predigt kommen, Jesus als unser mitfühlender HP. Da ich schon so lange geredet habe, werde ich mich ganz kurz fassen und zwischendurch kleine Pausen zum Nachdenken lassen. Die Kurzformen der Fragen werden gleichzeitig an die Wand gebeamt:
1.) Jesus ist der Teil von Gott, der mit mir mitfühlen kann. Das gilt immer, auch wenn ich mich von Gott unendlich weit entfernt fühle.
Jesus ist der Teil von Gott, der mit mir mitfühlen kann. Darum hilft mir Jesus auch beim Beten, weil ich sicher sein kann, dass Gott mich hört und sogar zwischen den Zeilen die unausgesprochenen Seufzer mithört. Gerade, wenn ich mich von Gott getrennt und meilenweit entfernt fühle, darf ich auf Jesus bauen.
2.) Der barmherzige und mitfühlende Jesus ist die oberste Instanz meines Glaubens, und keine Stimmen, die mich verurteilen oder abwerten.
Jesus lässt die ewigen Anschuldigungen des Inneren Anklägers kleinlich und seltsam verdreht erscheinen. Der barmherzige und mitfühlende Jesus ist die oberste Instanz meines Glaubens, nicht, was kirchliche Führer sagen oder meine Seele aus der Kindheit mit sich herumschleppen muss!
3.) Selbst in größter Bedrängnis und Angst ruft Jesus mir zu: „Fürchte Dich nicht! Ich stehe zu Dir, und Gott geht mit Dir, wohin Dich auch immer Dein Weg verschlägt.“
Wenn ich mich in großer Bedrängnis fühle, kann mich auch das Bild trösten von Jesus als dem obersten politischen Führer und Feldherrn, der vor mir in den Krieg zieht, wo mir Menschen oder Mächte alles rauben oder mich sogar zerstören wollen. Jesus ruft mir zu: „Fürchte Dich trotz allem nicht! Ich stehe zu Dir, und Gott geht mit Dir, er verlässt Dich nicht!“ – Natürlich soll das nicht zu Selbstherrlichkeit führen, dass ich meine, alleine die einzige Wahrheit gepachtet zu haben, dass ich glaube, meine eigenen Ziele wären immer deckungsgleich mit dem Willen Gottes usw. Wir sollen, wie immer, auf keiner Seite vom Pferd fallen: Ich bin ein fehlbarer und schwacher Mensch. Gott hat mich so gemacht, und in Jesus kann ich Gottes ungeteilte Liebe zu mir erkennen. Andererseits gilt das genauso für meine Mitmenschen, über die ich kein Recht habe zu urteilen.