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Wer würde es wohl wagen, Gott von Gottes Willen abzubringen?

(kurz nach den Riots in London)
Predigt MCC Köln
Ines-Paul Baumann

Gen 18, 19-33

Abraham – Sodom – London

Prolog

Und Gott sah, dass längst nicht mehr alles gut war.
Die Stadt war voller Ungerechtigkeit.
Die Stadt war voller Lügen.
Mit Stolz im Herzen und Überheblichkeit regierten die Mächtigen und Reichen. Sie genossen ihr Essen und Trinken und Handeln; mit Gott rechneten sie nicht. Die Armen und Unterdrückten wurden ignoriert oder misshandelt. Statt Gastfreundschaft zu üben wurden Menschen aus anderen Ländern und Kulturen abgelehnt, ausgegrenzt, zurückschickt.

Und Gott sah, dass längst nicht mehr alles gut war.
Die Ungerechtigkeit nahm zu.
Die Reichen wurden immer reicher und die Armen immer ärmer.
Der Zugang zu Bildung wurde immer weniger gefördert. Keine Bildung, kein Einkommen, keine Zukunft, keine Perspektive, keine Hoffnung – nichts mehr zu verlieren.
Riesige Plakatwände forderten währenddessen unaufhörlich zum Kauf von Flachbildfernsehern auf.

Und Gott sah, dass längst nicht mehr alles gut war.
Die Stadt war voller Gewalt.
Autos und Häuser brannten.
Die kleinen Läden der Ärmsten wurden geplündert – von Jugendlichen und Kindern aus der Nachbarschaft, die noch weniger hatten.
Die Politik ließ in den Medien verlauten, dass mehr Staatsgewalt und noch mehr Überwachungskameras die angemessenen Antworten auf das Problem seien.
Konservative rechte Kreise wetterten gegen Liberalisierung, Ausländer und Gottlosigkeit. Sie bezeichneten die Aufständigen als „Kakerlaken“ und forderten, diese „Krankheit“ gehöre schleunigst ausgerottet.

Gott wurde stutzig.
In der Tat war ihm eine Menge dessen, was er sah, ein Greuel. Ungerechtigkeit und Gewalt entsprachen ganz und gar nicht seinem Willen.
Aber dass die Armen selbst die Ursache für ihre ungerechte Behandlung sein sollten,
und dass es sein Wille sein wolle, den Ruf nach Gerechtigkeit mitsamt der Rufenden auszulöschen,
das ging dann doch zu weit.

Gott dachte nach.
Diese Leute gaben an, „in seinem Namen“ zu agieren.
Wie könnte er ihnen zeigen, dass es NICHT sein Wille ist, Böses und Böse auszurotten mitsamt derjenigen, die Gutes suchten?

Gott seufzte tief.
Es gab nur ein Möglichkeit. Er würde so tun, als SEI es sein Wille – und sich dann offiziell von diesem Willen abbringen lassen. Dann müssten doch auch diejenigen, die das für seinen Willen gehalten hatten, sich von ihrem Willen abbringen lassen!
Und wenn die Menschen sehen würden, dass sie sogar mit ihm, GOTT, um seinen Willen ringen können, dann sollte das doch auch Auswirkungen haben für ihren Umgang mit den Herrschern und Autoritäten in der Welt: Auch sie müssten ab sofort immer damit rechnen, dass Menschen ihnen widersprechen und sie an Gottes Willen erinnern.

Gott dachte nach. Wer würde es wohl wagen, ihn von seinem eigenen Willen abzubringen, indem er ihn an seinen eigenen Willen erinnern würde?

Da fiel sein Blick auf Abraham:
Gen 18, 19-33

Predigt

[1]
Das ist Alan. Alan ist Polizist, 43 Jahre alt und hat zwei Kinder. Als Polizist hat er schon viel gesehen. Meist die schlechten Seiten der Menschen. Gewalt, Gewalt, Gewalt. Ob Arme oder Reiche, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Jugendliche, Weiße oder Schwarze, die ganze Stadt ist voll von Menschen, die Gewalt ausüben. Und heute das hier. Wieder Gewalt. Und was für eine. Geballte Wut bricht sich hier Bahn, zerstörerisch und blind und ziellos explodiert sie und ruiniert ihre eigene Nachbarschaft. Wie viel Elend offenbart sich hier. Und wie viel Elend wird hier gerade geschaffen.
Gestern noch sagte sein Kollege zu Alan: „Hey Alan, stell dir vor, gestern hat mich mein Freund gefragt, ob wir nicht auch als schwules Paar mal überlegen sollten, Kinder zu bekommen. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Kinder? In diese Welt sollen wir Kinder setzen? Mensch Alan, wir wissen doch, wie es in dieser Welt aussieht! In diese Welt können wir doch keine Kinder setzen!“
Alan ist Christ. Er muss an den Gottesdienst letzten Sonntag denken. Es ging um Abraham und wie der vor Gott dafür eintrat, die wenigen Guten in der Stadt zu sehen und deswegen die Stadt insgesamt zu verschonen. Die wenigen Guten in der Stadt. Gott traut ihnen zu, die Übermacht der Bösen so weit zu ertragen, dass sie sich von ihnen nicht unterkriegen lassen.
Die Sirenen aus der Nebenstraße zwingen Alans Aufmerksamkeit zurück auf die Straße vor ihm. Angesichts der Bilder vor seinen Augen kann Alan seinen Kollegen verstehen. Zu seinem Entsetzen hat er unter den Randalierern auch schon Kinder gesehen. Was für ein Leben finden sie vor? Armut, Ungerechtigkeit, Lügen, Werbeplakate – wo finden diese Kinder gute Menschen um sich herum? Welche Vorbilder haben diese Kinder, um Guten nachzueifern? Woher sollen sie glauben, dass es sich lohnen kann, sich nicht dem Bösen anzuschließen? Alan hat selber Kinder. Er weiß, wie gut sie beobachten können. Sie werden die Guten finden. Gott und die Kinder, die haben noch offene Augen für die Guten. Alan nimmt sich vor, auch selbst weiterhin die Augen offenzuhalten. Die Guten zu suchen, mit ihnen zu rechnen und auf sie zu bauen.
Zuversichtlich blickt Alan um sich. Die leeren und hasserfüllten Augen um ihn herum erschrecken ihn – aber sie können ihn nicht mehr abschrecken.

[2]
Das ist Katie. Katie ist Journalistin. Sie ist gerade 30 geworden. Katies Herz schlägt ihr bis zum Halse. Das hier ist die Titelgeschichte aller aktuellen Nachrichten, und sie ist mittendrin. Ein Glücksfall für jede Reporterin. Ihre Kollegin würde sie beneiden. Gestern noch sprachen sie über das Sommerloch. Wenn nix los ist, wo sollen dann die spannenden Titelzeilen herkommen? Sie machten noch Witze darüber, wie gut jetzt ein bisschen Mord und Totschlag tun würden. Ein kleiner Skandal. Und jetzt das hier. Das hier ist nicht nur ein kleiner Skandal. Katie ist entsetzt von der Zerstörungswut und der Rücksichtslosigkeit der Randalierer. Verstört denkt Katie nach: Wo kommt das so plötzlich her? Gestern war hier noch alles friedlich, und heute spielen sich auf den Straßen Londons solche Szenen ab? In Afrika haben die Aufstände wenigstens noch ein Ziel, kämpfen die da nicht mit friedlichen Mitteln für eine friedliche Welt? Aber das hier? Hier gibt es keine Ziele mehr. Keine Inhalte, keine Anliegen. Keine Schilder mit Forderungen. Keine Wortführer zum Verhandeln über die Ziele und die Wahl der Mittel. Ist nicht auch das bezeichnend für die Situation der Randalierenden? Sie haben nicht nur keine Bldung und keinen Beruf und keine Perspektive, sie haben nicht mal Worte! Sie haben es nie gelernt, sich auszudrücken. Sie haben es nie gelernt, gesellschaftliche Entwicklungen zu analysieren. Sie, Katie, hat das gelernt. Als Journalistin kann sie mit Worten umgehen, und sie hat sich in letzter Zeit viel mit den Entwicklungen in Europa beschäftigt. Katie weiß, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Katie weiß, welche Politik die Mächtigen und Reichen auf dem Rücken der Armen austragen. Katie wusste eigentlich, dass das nicht immer so weitergehen kann. Schon lange traute sie der öffentlichen Decke des Wohlstands und der Sicherheit nicht mehr so wie früher. Die ganzen Schlagzeilen, die allein sie und ihre Kollegin in den letzten Wochen geschrieben haben – sieht denn niemand, was sich da zusammenbraut? Ihre Kollegin scheint damit keine Probleme zu haben. Über Angst und Sorgen darf Katie mit ihr nicht reden. „Denk nicht dran, dann ist das auch nicht so!“, sagt sie immer. „Always look an the bright side of life! Konzentrier dich auf das Schöne in der Welt! Leide nicht unter deinen Problemen! Hey, jedes Problem ist eine Chance! Ach Katie, mach dir das Leben doch nicht so schwer. Hier, hör dir erst mal diese CD mit Walgesängen an und entspann dich ein bisschen!“
Katie ist Christin. Sie muss an den Gottesdienst letzten Sonntag denken. Es ging um Abraham und wie der vor Gott dafür eintrat, die wenigen Guten in der Stadt zu sehen und deswegen die Stadt insgesamt zu verschonen. Hat Abraham etwa gesagt: Hey, Gott, jetzt stell dich mal nicht so an! Es ist doch deine Schöpfung, und du hast doch selber gesagt, dass sie sehr gut ist! Always look on the bright side of life! Jetzt komm mal runter, ist doch alles halb so schlimm.“
Nein, denkt sich Katie, so hat Abraham NICHT mit Gott geredet. Die beiden haben das Leben in der Stadt nicht schön geredet, die HABEN NICHT so getan, als wäre alles gut, was Menschen darin Böses anstellen.
Beißender Rauch zieht Katie in die Nase und reißt sie aus ihren Gedanken. Irgendwie kommt ihr das plötzlich symbolisch vor. Wie viel Rauch machen wir oft um nichts – und da, wo es wirklich brennt, nutzen wir den Rauch auch noch, um die Hintergründe zu vernebeln. Katies Augen brennen. Sie spürt, wie schmerzhaft es sein kann, nicht die Augen zu verschließen.

[3]
Das ist Jack. Jack wohnt in dieser Straße. Er ist hier aufgewachsen und war einer der wenigen, die einen Schulabschluss gemacht haben. Heute arbeitet er im Supermarkt um die Ecke als Filialleiter. Die Mischung seiner Angestellten entspricht der Mischung von Menschen in diesem Viertel. Ein paar Weiße, einige mit afro-amerikanischem Hintergrund, manche aus Indien. Manche arbeiten schon ihr Leben lang in seinem Supermarkt und hören bald auf, andere fangen gerade erst an mit ihrer Ausbildung. Manche sind kaum älter als die Randalierer hier auf der Straße.
Jack schaut sich um und sein Blick begegnet dem seines Nachbarn nebenan aus dem Erdgeschoss. „Siehst du“, ruft der ihm zu, “ siehst du, jetzt zeigen sie ihr wahres Gesicht! Ich habe doch die ganze Zeit schon gesagt, dass in denen nix Gutes steckt! Guck sie dir an! Keine Werte, keine Bildung kein Anstand – das kommt davon, wenn sie den ganzen Tag auf der Straße herumlungern! In denen steckt NIX Gutes, gar nix!“
Jack ist Christ. Er muss an den Gottesdienst letzten Sonntag denken. Es ging um Abraham und wie der vor Gott dafür eintrat, die wenigen Guten in der Stadt zu sehen und deswegen die Stadt insgesamt zu verschonen. Gott gibt der Stadt eine Chance, auch wenn das Gute in ihr so klein und gering ist. Jackt denkt nach. Geben wir diesen Jugendlichen eine Chance? Vielleicht ist das Gute in ihnen auch unscheinbar klein und gering, kaum wahrnehmbar. Aber fragen wir überhaupt danach? Gegenüber erkennt er den Jungen in dem weißen Kapuzenpullover wieder. Vor ein paar Stunden hatte er ihn gesehen, wie er mit seinem Handy beschäftigt war. Wahrscheinlich wurde da gerade der Treffpunkt für diesen Abend verabredet. Angenommen, der wird gleich festgenommen und kommt nach Absitzen seiner Strafe zu meiner Filiale und bittet um einen Ausbildungsplatz. Ein Vorbestrafter, ein Anzettler. Jack überlegt. Steckt in ihm was Gutes? Frage ich danach, suche ich, gebe ich nicht nach, bis ich etwas finde, an das ich anknüpfen kann? Ein kleiner Funke Gutes, der in seinem Leben wieder Licht entfachen kann?
Die Stimme seines Nachbarn reißt Jack jäh aus seinen Gedanken. Die aufgeladene Atmosphäre hat ihn offensichtlich mitgerissen. Jack sieht, wie er sich aus dem Fenster lehnt, mit den Armen wild fuchtelt und ruft: „Eingesperrt gehören die! Wieso dürfen die überhaupt hier sein! Schickt sie zurück in ihre Heimatländer! Gottloses Pack!“ Jack schluckt. Was in seinem Nachbarn wohl Gutes steckt…?

[4]
Das ist Randy. Randy ist 17 und hat sich die weiße Kapuze über den Kopf gezogen, um nicht sofort erkannt zu werden. Randy hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Aber er hat Freunde, und er hat ein Handy. Und statt wie sonst an der Straße rumzuhängen und den fetten Autos hinterherzuschauen, nutzen sie die Straße heute mal für sich. Heute fährt hier kein fettes Auto durch und ignoriert sie. Heute kann niemand so tun, als wären sie nicht da, sie und ihre Probleme. Heute sind sie nicht die Ohnmächtigen, die Übersehenen, die Stummen, die Wehrlosen, heute sind sie da mit all ihrer Verzweiflung und ihrer Hoffnungslosigkeit. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit kennt Randy zur Genüge, und so hat auch er vorhin sein Handy gezückt und den Treffpunkt für heute weitergegeben. Und tatsächlich, alle sind gekommen. Wow. Wie viele wir sind. Wie mächtig fühlt sich das an!
Aber mittlerweile ist Randy mulmig geworden. Angefangen hatte alles als friedlicher Protest, aber dann kamen die anderen Jungs dazu und seitdem bricht sich hier eine Kraft und eine Wut und eine Gewalt Bahn, die Randy verunsichern. Diese Jungs sagen sich: „Ihr wollt, dass wir alle Flachbildfernseher haben? Ihr gebt uns kein Geld dafür und nicht die Möglichkeit, es zu verdienen? OK, wir dann holen wir sie uns eben!“ Diese Jungs sagen sich: „Tia, solange wir still gehalten haben und den Versprechen der Politiker geglaubt haben, hat sich unsere Situation immer nur verschlechtert – was haben wir jetzt noch zu verlieren?“ Diese Jungs sagen sich: „Die sind doch alle gleich – Politiker, Polizisten, Richter, Reiche, alle sind gegen uns, alle trampeln auf uns herum, das können wir auch: Jetzt trampeln wir mal auf denen herum!“ Randy sieht, wie Steine auf Polizisten fliegen und Autos angezündet werden. Seitdem hat Randy sich hier an den Rand zurückgezogen.
Randy ist Christ. Er muss an den Gottesdienst letzten Sonntag denken. Es ging um Abraham und wie der vor Gott dafür eintrat, die wenigen Guten in der Stadt zu sehen und deswegen die Stadt insgesamt zu verschonen. Von seinem Platz am Rand aus sieht Randy zu dem Block Polizisten rüber. Ob es auch unter denen Gute gibt? Sind das wirklich alles Böse? Ist das so einfach? Sind alle Politiker böse? Ist der ganze Staat böse? Ist die ganze Welt böse? Abraham und Gott einigten sich darauf, nicht nur die Bösen zu sehen, sondern auch nach Guten Ausschau zu halten. Und statt die Bösen einfach zu vernichten, würden sich es dann mit den wenigen Guten nochmal versuchen.
Randy ist hin und hergerissen. Die Enttäuschungen, die Lügen, die Ungerechtigkeit, in der er leben muss, all das ruft in seinem Inneren nach Gerechtigkeit und Vergeltung und Strafe. Wie sie seine Anträge auf Geld und Unterstützung verzögert haben! Wie herablassend sie ihn behandelt haben! Wie sehr sie doch alle unter einer Decke stecken, die Sachbearbeiter und die Parteien und die Industrie und die Staatsgewalten! Randy ringt mit sich und Gott. Vor seinen Augen stehen sie sich gegenüber – links seine Kumpel und ganz viele Unbekannte, rechts die Polizisten. Stehen sich hier die Guten und die Bösen gegenüber? Ist das so einfach? Wie viel Scheiß hat er bei seinen Kumpels schon hingenommen, weil er verstanden hat, warum sie so drauf gekommen sind. Sie sind wahrhaftig nicht alle Gute, aber sie sind auch nicht alle Böse. Warum sollte das für den Block der Polizisten nicht auch gelten? Randy gibt sich innerlich einen Ruck. Wenn sogar Gott sich dazu bringen lässt, viele Böse hinzunehmen, um wegen ein paar wenigen Guten ALLEN eine Chance zu geben… Wer ist er, Randy, denn bitte, Gott darin einen Fehler vorzuwerfen? Genau wie Gott will Randy ja Randy Gerechtigkeit – dann muss er sich wohl auch wie Gott auf die Suche nach den Guten begeben. Ein paar wenige Gute… Randys Blick wandert über die Gesichter der Randalierer und der Polizisten.

[Nachtrag – tatsächlich so geschehen:]
Am Abend nach den Randalen findet sich eine Gruppe Jugendlicher auf der Straße zusammen. Sie stehen vor dem Eingang zur U-Bahn-Station, inmitten der abgebrannten Häuser und Autos, friedlich und ruhig. Passanten kommen vorbei, zögern – und sind überrascht, als sie die Jugendlichen singen hören. Mehrstimmig und im Chor singen diese Jugendlichen „Oh wie groß ist unser Gott“.

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