Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
9. Feb. 2025
Markusevangelium 4, 35–39
Von wegen „Es steht geschrieben“! Schon innerhalb der Evangelien werden Texte angepasst und verändert. Offenbar haben auch sie schon der diesjährigen Jahreslosung entsprechend entschieden: „Prüfet alles und das Gutes behaltet“ (1. Thess. 5,21).
Von den vier Evangelien im Neuen Testament war das Markusevangelium das erste. Es entstand kurz nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels durch das Römische Reich (66 bis 73 n. Chr.). Für Glaubende, die sich der jüdischen Religion verbunden fühlten, eine bedrohliche und dramatische Zeit, wenn nicht gar eine traumatische – auch für die ersten Nachfolger*innen Jesu: An die Stelle der Erwartung, dass Jesus bald wiederkommen und alles gut werden würde, traten Zweifel und Fragen. Wo blieb das Eingreifen Gottes? Wo war Gott?
Nicht lange danach kam das Matthäusevangelium, aber der heutige Predigttext wird dort bereits anders erzählt. Hier erstmal die Version bei Markus:
35 Am Abend jenes Tages sagte er zu ihnen: »Lasst uns ans andere Ufer fahren.« 36 Sie schickten die Volksmenge weg und nahmen ihn so, wie er war, im Boot mit. Weitere Schiffe begleiteten das Boot. 37 Da kam ein heftiger Sturmwind auf, und die Wellen schlugen ins Boot, so dass es voll Wasser lief. 38 Jesus lag im Heck und schlief auf einem Kissen. Sie weckten ihn und riefen: »Lehrer, machst du dir keine Sorgen, dass wir dabei sind unterzugehen?« 39 Der °Aufgeweckte drohte dem Wind und sagte zum See: »Schweig! Sei still!« Da legte sich der Wind, und es wurde völlig still.
Markusevangelium 4, 35–39
(Bibel in gerechter Sprache)
Zwei Veränderungen bei Matthäus finde ich besonders bemerkenswert:
Erstens fehlt bei Matthäus das Kissen, auf dem Jesus im Boot schläft (Mk 4,38). Stattdessen betont Matthäus, dass der Menschensohn nichts habe, wo er sein Haupt hinlegen könne (Mt 8,20).
Zumindest stimmen die beiden Evangelium darin überein, dass es keine Garantie für ein „gutes Leben“ ist, mit Jesus an Bord unterwegs zu sein. Bis heute wäre das ein fatal falsches Versprechen. Auch wenn wir Jesus an Bord haben, ist das keine Garantie dafür, dass es immer gut läuft.
Für beide Evangelien gilt auch die Erfahrung: Jesus war da, Jesus wird wiederkommen, aber was ist mit dem Heute dazwischen? Wo und wie ist Jesus anwesend? Bekommt Jesus mit, was gerade alles passiert? Wie es uns geht? Wie bedrohlich die Situation ist?
Markus hält diese Frage konsequenter aus als Matthäus: Schläft Gott??? Oder sind wir Gott egal?
Genau aus dieser Frage heraus wurde 1968 die MCC gegründet. Angesichts staatlicher und gesellschaftlicher Repression stellte sich in der LGBT-Community das Gefühl ein: „Nobody cares“ („Niemanden kümmert es“). Troy Perrys Antwort war: „God cares“ („Gott kümmert es“)!
Bis heute gehen MCC-Gemeinden manchmal durch stürmische Zeiten. In Deutschland kennen wir „Gehsteigbelästigungen“ (das klingt so harmlos), wo Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden. In den USA gibt es „Gehsteigbelästigungen“ auch vor MCC-Gemeinden. Personen, die zur MCC gehen, müssen sich auf dem Weg dorthin beschimpfen und bedrohen lassen. Wo und wie ist Jesus anwesend?
Rechtspopulismus, Antifeminismus und Homo-/Bi-/Transfeindlichkeit sind eine reale Bedrohung für unsere Communities. Aus Worten werden Taten. Viele haben Angst und fühlen sich in stürmischen Zeiten vom Untergang bedroht. Wo und wie ist Jesus anwesend?
Das zweite Detail ist etwas unmerklicher:
Matthäus beschreibt, dass Jesus den Wind und den See anfährt, stille zu sein. Und es wird still.
Bei Markus fährt Jesus nur den See an, stille zu sein. Und es wird still.
Das ist bei Markus aber die falsche Reihenfolge! Der Wind wühlt den See auf, nicht umgekehrt! Die Ursache für den aufgewühlten See ist der stürmische Wind. Wenn das aufhören soll, muss doch zuerst der Wind aufhören! Warum fährt Jesus also nicht den Wind an, sondern den See?
Gerade weil Matthäus das „korrigiert“, finde ich das spannend. Warum schreibt Markus das so, wie es da steht? Ist das vielleicht Absicht? Ich glaube: Ja.
Offenbar kennt Markus die Erfahrung, dass wir nicht immer die Ursachen addressieren können – und trotzdem einfordern können, in Ruhe unseren Weg zu gehen. Zum Beispiel, um ans andere Ufer (!) zu kommen ;)
Manchmal muss es reichen, die Auswirkungen in die Schranken zu weisen – auch ohne die Hintergründe aufzulösen.
Einfach mal Schweigen einzufordern anstatt mit den Verursachenden das Gespräch zu suchen.
Was soll Jesus bei dir mal zum Schweigen bringen – auch ohne dass du dich gerade um die Ursache kümmern musst?
Die Stille, die auf diesem Wege entstehen kann, kann groß sein. Beeindruckend groß.
Danke für exegetische Hinweise und Anregungen:
Andreas Bedenbender; Frohe Botschaft am Abgrund: Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg (2013); S. 222-230