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Weltgericht? Weltgerechtigkeit! #Diskriminierungsrad („Wheel of Privilege and Power“)

Impuls MCC Köln, Ines-Paul Baumann
19. November 2023

Matthäusevangelium 25,31-46

Vom Jenseits zum Diesseits, vom Richten zu Gerechtigkeit und von Mächtigen zu Marginalisierten: Jesus dreht hier gleich drei Blickrichtungen auf einmal auf den Kopf.

1) Vom Jenseits zum Diesseits

Ich glaube, die Denkfigur des Weltgerichts wird hier von Jesus aufgegriffen, um die Fixierung auf das Jenseits umzulenken in ein Handeln im Diesseits. Die Energie, die in das „Bestehen“ vor dem Endgericht gesteckt wird, soll lieber dafür eingesetzt werden, das Bestehende im Hier und Jetzt zu verändern.

2) Vom Richten zu Gerechtigkeit

Was hier oft als „Himmel und Hölle“ verstanden wird, sind nicht Aussagen, die etwas beschreiben sollen, sondern Jesus greift sie auf, um sie umzuschreiben: vom ewigen Leben und Sterben zum ganz konkreten Leben und Sterben inmitten der Welt. Euch ist daran gelegen, beim Gericht im Jenseits gut dazustehen? Dann kümmert euch gefälligst um Gerechtigkeit im Diesseits!

3) Von Mächtigen zu Marginalisierten

Herrscher haben ihre Macht schon immer gerne damit begründet, dass sie als Stellvertreter Gottes anzusehen seien.
Ebenso haben Stellvertreter Gottes gerne Macht ausgeübt, die sie zu Herrschern macht.
Der König bei Jesus dreht das um: Wenn ihr dem König nahe sein oder dem König dienen wollt, schaut nicht auf diejenigen, die Macht haben und ausüben.
Nehmt stattdessen die Kranken, Hungernden, Dürstenden, Fremden, Nackten und die im Gefängnis in den Blick!

Jesus nennt hier ganz materielle Probleme. Manche Menschen sind hiervon mehr betroffen als andere. Das „Wheel of Privilege and Power“ („Rad der Macht und der Privilegien“, „Diskriminierungsrad“) macht das sichtbar.
Hier eine Version davon für den englischsprachigen Kontext:
https://kb.wisc.edu/instructional-resources/page.php?id=119380
Nicht ganz so divers, aber vom Ansatz her ins Deutsche übertragen:
https://www.gespraechswert.de/intersektionalitaet/#Das_Rad_der_Macht_und_der_Privilegien

Was in dem Rad jeweils innen und außen platziert ist, ist kein moralisches „Werturteil“ (als wäre etwas davon moralisch besser oder schlechter), sondern es geht um die Dinge, die dazu führen, in unserer Gesellschaft mehr oder weniger am Rand zu stehen.
Je näher ich bei einem Aspekt in der Mitte vom Rad stehe, desto näher bin ich im Zentrum gesellschaftlicher Macht – verbunden mit materieller Sicherheit, gesellschaftlichem Einfluss etc.
Je näher ich hingegen am Rand des Rades bin, desto näher bin ich Erfahrungen von Hunger, Krankheiten, Gefängnis etc.

Wenn Jesus nun denen, die in Gott (bzw. in Jesus) den König sehen, also sagt, dass der König Hunger hatte, krank war und im Gefängnis saß, dann sagt ihnen Jesus hier: „Ich hatte Hunger. Ich war krank. Ich war im Gefängnis. Ich BIN diese Menschen am Rand.“

Wer Jesus gerne als König sieht, kann von diesem Text her nicht mehr sagen, dass Jesus primär in denen in der Mitte des Rades zu finden ist. Je näher eine Person mit ihrer Situation am Rand ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir da auf Jesus treffen.

Ein paar Gedanken dazu:

  • Für – z.B. auch kirchlich – festangestellte cis-Männer sollte es damit eher schwerer sein, sich als besonders geeignete Stellvertreter Christi zu legitimieren. Sie sind genau am anderen Ende des Rades als die Menschen, deren Situation zu den materiellen und mentalen Problemen führt, mit denen sich das Jesus-Ich hier gleichsetzt.
  • Wenn wir Jesus in denen am Rand begegnen, brauchen wir dann nicht auch eine Kirche, die auch AUS Menschen am Rand besteht (statt dass Kirche aus der Mitte heraus vorrangig FÜR Menschen am Rand da ist)?Die UFMCC hatte lange mal den Slogan: „blessed in the margins“ („gesegnet am Rand“). Hier dient eben nicht eine Kirche mit mehrheitlich privilegierten Menschen aus der Mitte der Gesellschaft den armen Menschen am Rand der Gesellschaft. Wir SIND eine Kirche mit Menschen vom Rand bis zur Mitte der Gesellschaft; in mehreren Bereichen aus dem Rad sind wir mehrheitlich nicht in der Mitte des Rades zu finden.Wenn Jesus am Rand des Rades zu finden ist: Warum sollten wir als Kirche dann glauben, in der Mitte des Rades läge mehr Segen, Gottesnähe und Gotteserfahrung als da, wo auch wir vielleicht gerade abseits der Mitte stehen?
  • Jesus beschreibt hier Gotteserfahrungen und Gottesbegegnungen, die zum Großteil unwissend und unbemerkt geschehen.Das ist nicht nur eine Warnung an diejenigen, die sonst (oft und gerade aus der Mitte heraus) überzeugt sind, Gotteserfahrungen und Gottesbegegnungen einsortieren zu können.
    Es ist auch ein Trost für diejenigen, über die bei solchen Einsortierungen schnell mal gerichtet und geurteilt wird:
    Wie Menschen aus der (auch „christlichen“) Mitte mit Menschen am Rand umgehen, ist eben keineswegs immer beispielhaft für G*ttes Umgang mit ihnen.Umgekehrt kann die Art und Weise, wie Menschen aus der Mitte mit denen am Rand umgehen, allerdings sehr wohl etwas darüber aussagen, ob ihr Reden und Handeln als jesusgemäß einsortiert werden kann oder nicht.Wenn Menschen aus der Mitte einer Person z.B. sagen, mit ihrer Nicht-Binarität oder Depression oder Pansexualität sei sie weit weg von Gott (dabei ist sie damit vor allem weit weg von der materiellen und mentalen Absicherung der Mitte, hat dafür aber wenig oder gar kein Einkommen, eine schlechte gesundheitliche Versorgung etc.), dann nimmt Jesu Rede vom Weltgericht einen gegenteiligen Standpunkt ein: Gott IST MIT dieser Person krank, hungrig, etc.Gott ist nicht die Ursache dessen, was diese Person erleiden muss; Gott leidet MIT dieser Person.
    (Mit Menschen aus der – auch christlichen – Mitte ist das bei bestimmten Themen aus dem Rad oft genau andersrum: sie leiden überhaupt nicht mit, verursachen aber viel Leid.)
  • Jesus selbst war äußerst konsequent in seiner Nicht-Orientierung an der Mitte des Rades – so konsequent, dass er sich am Ende lieber als Verbrecher verurteilen und hinrichten ließ, als dass er sein Reden und Handeln so ausgerichtet hätte, dass er damit in der Mitte des Rades gelandet wäre. Das Miteinander war Jesus offenbar wichtiger als jegliches Streben nach der Mitte und ihrer Macht, z.B. um dann von dort aus Ressourcen zu nutzen.Damit ist nicht gemeint, dass wir jetzt in umgekehrten Sinne das Gegenteil der Mitte glorifizieren müssten: Hunger, Krankheit und Gefängnis sich nicht an sich gut!Auch das, was zu materiellem und mentalen Vorteilen oder Benachteiligungen führt, ist nicht an sich gut oder schlecht – Jesus beurteilt hier weder Lebensweisen noch Identitäten nach moralischen Prinzipien. Es geht ihm nicht um Moral, Lebensstil etc; es geht ganz handfest um die materiellen und mentalen Konsequenzen, die Menschen in ihrer Gesellschaft damit erleben müssen.Zum Beispiel ließe sich durchaus sagen, „es ist doch unwichtig, ob wir weiblich, divers oder männlich sind; alle Menschen sind doch gleich“. Ja, aber sie sind eben nicht gleich in Bezug auf die Erfahrungen, die in unserer Welt damit verbunden sind.Diese Erfahrung wiederum könnte doch auch dazu führen, dass Menschen am Rand sich unabhängig von der Kategorie, in der sie dort landen, verbünden. Jesus jedenfalls macht keinen Unterschied, in welcher Kategorie des Rades eine Person am Rand gelandet ist.

    (Die Idee eines verbindenden Klassenkampfes statt trennender Identitätskategorien ist hervorragend ausgearbeitet im Dissens-Podcast #232 „Ich brauche keine Selflove, sondern Verbundenheit mit meinen Leidensgenoss*innen“. Zu Gast ist Jean-Philippe Kindler, Autor des Buches „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“: https://podcast.dissenspodcast.de/232-kapitalismus)
    Paulus hat aus dem Wirken Jesu den Schluss gezogen, dass Kategorien, die Menschen voneinander trennen, in Gottes Reich keine Rolle mehr spielen sollen (Gal 3,28). Es geht eben NICHT darum, dass Jesus die Kategorien im Rad verfestigen möchte. z.B. „Frauen sind Frauen und Männer sind Männer und dazwischen gibt es nichts!“. So eine Haltung erzeugt Krankheit und Leid, und in Mt 25 ist Jesus lieber mit denen krank, die wegen solcher Kategorien ausgeschlossen werden.Dynamiken und Kategorien, anhand derer Menschen am Rand landen, gehören aufgehoben. Aber bis es so weit ist, zeigt diese Rede Jesu in aller Deutlichkeit, auf wessen Seite Jesus bis dahin steht.

 

 

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